Frühlingshoffnung und Kriegesleid

Gedichte von Johannes Bobrowski, Andreas Gryphius, Günter Eich, Matthias Claudius, Ludwig Uhland, Goethe und Georg Trakl, gelesen am 28. Februar 2022

Von Karl-Josef MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Karl-Josef Müller

Rostow am Don

Wie hatte die Vergeblichkeit der Jahre
uns kalt und leer gemacht und wie ein Grab!
Da stiegen wir aus der Ruinen Starre
dem weiten Hange nach zum Don hinab.

Und hielten bei der Hand uns, lachten bebten
vor wildem Glücke, riefen wolkenweit:
weil immer noch die alten Ströme lebten
und rauschten wie voreinst und alle Zeit.

Johannes Bobrowski
1947

Zwei Jahre nach dem Ende eines Krieges, der unsagbares Leid über die Welt gebracht hatte, schreibt der dreißigjährige deutsche Lyriker Johannes Bobrowski ein Gedicht voller Aufbruch und „wildem Glücke“. Zu dieser Zeit befindet sich der Dichter in russischer Kriegsgefangenschaft, aus der er erst 1949 entlassen werden wird. Von Rostow am Don bis zur ukrainischen Grenze sind es etwa 130 Kilometer.

Von Frühling ist nicht die Rede, nicht von den Bedrängnissen der Gefangenschaft, nicht von Hunger und nicht von Verzweiflung. Hier wird keine Inventur gemacht wie in Günter Eichs Versen, geschrieben 1945 in amerikanischer Kriegsgefangenschaft:

Dies ist mein Notizbuch, 
dies meine Zeltbahn,
dies mein Handtuch,
dies ist mein Zwirn.

Solcherart Gedanken kommen Bobrowski und seinen Gefährten nicht in den Sinn, ihre Gefühlslage erinnert eher an Goethes Osterspaziergang: 

Vom Eise befreit sind Strom und Bäche
durch des Frühlings holden, belebenden Blick.
Im Tale grünet Hoffnungsglück.

Heute, an diesem letzten, kühlen, aber auch sonnigen Februartag könnte man sich auf den Frühling freuen wie einst Uhland in seinem Frühlingsglauben: 

O frischer Duft, o neuer Klang! 
Nun, armes Herze, sei nicht bang! 
Nun muß sich alles, alles wenden.

Und muss es nicht 1947 ein eben solcher Frühling gewesen sein, ein wärmender Tag, an dem die noch vor kurzem vereisten Ströme wieder leben und rauschen können?
Aber die heutigen Tage rufen noch andere Verse in Erinnerung.

Thränen des Vaterlandes / Anno 1636

Wir sind doch nunmehr gantz / ja mehr denn gantz verheeret!
Der frechen Völcker Schaar / die rasende Posaun
Das vom Blutt fette Schwerdt / die donnernde Carthaun /
Hat aller Schweiß / und Fleiß / und Vorrath auffgezehret.
Die Türme stehn in Glutt / die Kirch ist umgekehret.
Das Rathauß ligt im Grauß / die Starcken sind zerhaun /
Die Jungfern sind geschänd‘t / und wo wir hin nur schaun
Ist Feuer / Pest / und Tod / der Hertz und Geist durchfähret.
Hir durch die Schantz und Stadt / rinnt allzeit frisches Blutt.
Dreymal sind schon sechs Jahr / als vnser Ströme Flutt /
Von Leichen fast verstopfft / sich langsam fort gedrungen.
Doch schweig ich noch von dem / was ärger als der Tod /
Was grimmer denn die Pest / und Glutt und Hungersnoth
Das auch der Seelen Schatz / so vielen abgezwungen.

Andreas Gryphius

Einhundertzweiundvierzig Jahre später fast das gleiche Lied, diesmal von Matthias Claudius:

s ist Krieg! ’s ist Krieg! O Gottes Engel wehre,
Und rede Du darein!
’s ist leider Krieg – und ich begehre,
Nicht schuld daran zu sein!

Was sollt ich machen, wenn im Schlaf mit Grämen
Und blutig, bleich und blaß,
Die Geister der Erschlagnen zu mir kämen,
Und vor mir weinten, was?

Und schließlich, zu Beginn des ersten Weltkrieges, die Verse von Georg Trakl:

Am Abend tönen die herbstlichen Wälder
Von tödlichen Waffen, die goldnen Ebenen
Und blauen Seen, darüber die Sonne
Düstrer hinrollt; umfängt die Nacht
Sterbende Krieger, die wilde Klage
Ihrer zerbrochenen Münder.

Müssen wir wissen, wer in der Schlacht um Grodek Angreifer, wer Verteidiger war? Trakl, der den Schrecken des Krieges nicht gewachsen war, geht es um Anderes: „Alle Straßen münden in schwarze Verwesung.“

Heute gehört Grodek zur Ukraine, und wer wollte ausschließen, dass Trakls Gedicht in naher Zukunft eine mehr als traurige Aktualität gewinnen könnte?

Wie hatte die Vergeblichkeit der Jahre
uns kalt und leer gemacht und wie ein Grab!

Von welchen Jahren spricht Bobrowski? Gemeint sind die Jahre des Krieges und der Kriegsgefangenenschaft, vielleicht auch die Jahre der Diktatur seit 1933, damals war Bobrowski sechzehn Jahre alt. Aber sind nicht auch die Jahrhunderte wiederkehrender Kriege, wiederkehrender Schrecken gemeint – und wiederkehrender Hoffnung, erweckt gegen alle historischen Erfahrungen?

Wenn wir von den Schrecken des Krieges sprechen, steigen die abgründigen Kupferstiche Francesco Goyas vor dem inneren Auge auf. Stellvertretend für die 82 Blätter verweisen wir auf das Blatt 39. Der spanische Originaltitel lautet ¡Grande hazaña! Con muertos!, übersetzt „Große Heldentat! Mit Toten!“

Gegen all diese Verse und Bilder hat Bobrowski angeschrieben; nein, so wird man seinem Gedicht wohl nicht gerecht. Denn die, die damals „lachten bebten vor wildem Glücke“, sie konnten nicht anders, der Lebenswille wollte nach all den grauen Jahren sinnloser Zerstörung zur Sprache gebracht werden.

An diesem 28. Februar des Jahres 2022 tauchen Verse und Bilder auf, in denen die Schrecken des Krieges, die keiner, der sie nicht selbst erlebt hat, ergründen kann, erahnbar werden. Zu ihnen gesellen sich die Zeugnisse unbändiger Hoffnung in hoffnungslos erscheinenden Stunden. Hoffnung und Verzweiflung stehen untrennbar nebeneinander, nicht konkurrierend, sondern human in ihrer Wahrhaftigkeit.