Eine Welt zwischen Mittelalter und Neuzeit
Ein Sammelband von Günter Frank, Franz Fuchs und Mathias Herweg präsentiert „Das 15. Jahrhundert“ als Ganzes aus interdisziplinärer Sicht
Von Jürgen Wolf
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDas 15. Jahrhundert gilt in der Mediävistik als besonders schwieriges Jahrhundert, denn erstmals haben wir es mit ‚Masse‘ zu tun. War im Mittelalter Schriftlichkeit bis dahin ein eher exklusives Phänomen – lange auf die gelehrt-geistliche Welt und ihr Schrifttum beschränkt – gewesen, änderte sich mit einigen Vorläufen schon in den Jahrzehnten nach der großen Pestwelle (1348–1352) fast alles: Wir haben es nun zu tun mit einer Masse an Autoren (auch Autorinnen), einer Masse an Schreibern (auch Schreiberinnen), einer Masse an neuen Werken sowie vor allem einer erstmals geradezu unüberschaubaren Masse an Büchern – zunächst noch handgeschrieben, nach der Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern durch Johannes Gutenberg ab etwa 1450 dann vor allem auch gedruckten. Aus dieser Perspektive erscheint jetzt alles anders, neu. Speziell im Kontext mit Gutenbergs Erfindung wird denn auch gerne der Terminus ‚revolutionär‘ gebraucht.
Genauso könnte man aus mittelalterlicher Perspektive aber ein Gegenbild entwerfen, denn die hier verbreiteten Werke sind meist noch die Klassiker und Bestseller der vergangenen Jahrhunderte. Was neu verfasst wird, beruht in der Regel auf uralten, oft sogar antiken Vorlagen; die sozialen, gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse sind ebenfalls nicht neu. Sogar die so revolutionäre Erfindung des Buchdrucks folgt zunächst ganz und gar der Idee des Alten: Es geht darum, Bücher in der für die Handschriften maßgeblichen Form herzustellen, nur besser, schöner und natürlich schneller. So sind die Drucke der ersten Jahrzehnte (die sogenannten Inkunabeln oder Wiegendrucke) optisch kaum von gleichzeitigen Handschriften zu unterscheiden.
Genau in dieser in sich höchst widersprüchlichen Gemengelage setzt der vorliegende Tagungsband an. Mehr noch: In einer die literaturwissenschaftlichen Limitationen weit hinter sich lassenden Interdisziplinarität wird die Welt als Ganzes in den Blick genommen. Die von Mathias Herweg in diesem umfassenden Sinn formulierte Einleitung weist genau auf dieses ‚Ganze‘ hin. Sie macht aber ebenso deutlich, was uns Leser auf den mehr als 500 Seiten erwarten wird – nämlich weit mehr als Germanistik oder Literaturgeschichte.
Gegliedert sind die Untersuchungscluster in vier Themenfelder:
I. Historisch-historiographische Zugänge,
II. Literarische Aspekte,
III. Theologie und Kirchengeschichte,
IV. Musiktheorie, Kunst.
Dabei sind zahlreiche weitere Themenfelder wie Umwelt- und Klimageschichte, Technikgeschichte, Seefahrt, Politik, aber auch Humanismus und Recht zwar nicht extra ausgewiesen, jedoch quasi mitimplementiert. Im positivsten Sinn kann man hier von einem ganzheitlichen Ansatz sprechen. Letztlich erlaubt es auch nur diese Sichtweise, das besonders schwierige 15. Jahrhundert wirklich zu begreifen.
Vor diesem Hintergrund werfen wir nun einige exemplarische Blicke in das ‚Ganze‘ hinein. Im ersten, auf Geschichte und Geschichtsschreibung fokussierten Block steht aus mehreren Perspektiven Kaiser Friedrich III. im Fokus. Zum einen ist es die im Mittelalter gegründete Idee von der Wiederkehr eines idealen Herrschers, das heißt letztlich der sich über Mittelalter und Frühe Neuzeit hinaus bis in die Moderne wirkmächtige Volksglaube von der Rückkehr eines sagenhaften Friedenskaisers. Franz Fuchs gelingt es, die entsprechenden Mittelalterbezüge für die Zeit Friedrichs III. herauszupräparieren. Seine Detailstudie kulminiert im Verweis auf Johannes Trithemius († 1516), der dann tatsächlich „einen Zusammenhang zwischen den Kaiserprophetien und dem historischen Kaiser Friedrich III. herstellt“. Zum anderen ist es eine ganze Serie weiterer Beiträge etwa zu den Reichsversammlungen (Gabriele Annas), zum Humanismus am Hof Friedrichs III. (Daniel Luger), zu familiären Vernetzungen (Christof Paulus) und zur Geschichtsschreibung im Reich (Joachim Schneider), die das Puzzle zu diesem Kaiser vollenden.
Besonders herausgehoben aus diesem ersten Cluster seien allerdings zwei Aufsätze, die den Literaturwissenschaftler in mehrfacher Hinsicht staunen lassen: Achim Thomas Hack widmet sich in Eleonores Meerfahrt intensiv zwei realen Schiffsreisen beziehungsweise den Berichten darüber und, daraus abgeleitet, der Schifffahrt im 15. Jahrhundert allgemein. Minutiös werden diverse Aspekte von den Schiffstypen, den Routen, der Flotte, den Reisenden, den Winden bis hin zu den überall lauernden Gefahren – vor allem durch Piraten – thematisiert. Anhand des von Nikolaus Lankmann von Falkenstein († nach 1489) aufgezeichneten Reiseberichts zur Schifffahrt der mit Friedrich III. vermählten Eleonore von Portugal entfaltet sich so ein detailliertes Bild der zeitgenössischen Verkehrswege, der Vernetzungen sowie der unglaublich gesteigerten Mobilität. Die Welt erweist sich damit geradezu als entgrenzt, doch diese Entgrenzung wird mit einem hohen Risiko bezahlt, wobei die christlichen wie die muslimischen Piraten nur eine Gefahrendimension unter vielen darstellen. Entsprechende Reiseberichte bieten ein gewaltiges Erkenntnispotenzial, erforscht sind sie jedoch bis dato kaum, so Hacks Klage.
Der zweite, gleichsam aliterarische Aufsatz in diesem Cluster kümmert sich um Frost, Maikäfer und Ernteglück. Es geht also um Klima und Umwelt – hochaktuelle Themen, die für das Verständnis des 15. Jahrhunderts nicht weniger grundlegend sind als für unsere Zeit heute. Chantal Camenisch führt mit einem historischen Blick auf die Große Hungersnot der Jahre 1315–1322 und den Schwarzen Tod (1348–1352) gleichsam in das gegenüber dem 14. Jahrhundert nur scheinbar ruhigere 15. Jahrhundert hinein. Ihre kleinteiligen Klimarekonstruktionen zeigen, was wann mit welchen Folgen im Jahrhundert vor sich geht. Sichtbar werden zahlreiche besonders kalte und nasse, aber auch einige besonders heiße und trockene Jahre; sichtbar werden zudem die daraus resultierenden gesellschaftlichen Folgen: Hungersnöte, Teuerungen und Krisen auf der einen, Überschüsse und Boomjahre auf der anderen Seite. Legte man nun entsprechende Klima-Statistiken über Statistiken zur Literatur- und Buchproduktion, würde man überraschende Korrelationen entdecken – Klima und Kultur/Literatur sind nicht nur ideell (etwa über Berichte und die literarische Verarbeitung verschiedener klimatischer Ereignisse), sondern auch ganz materiell aufs Engste verflochten. Letztlich erscheint Literaturgeschichte sogar überhaupt nicht möglich ohne Klimageschichte, wobei Camenisch diesen letzten Schritt nicht formuliert und ‚nur‘ die enge Verzahnung von Klima, Demographie und wirtschaftlicher Konjunktur konstatiert.
Damit kommen wir zum zweiten Cluster. Unter dem Titel Literarische Aspekte markiert er den literaturwissenschaftlichen Nukleus des Bandes. Im Fokus stehen humanistische Autoren und Werke. Herausgegriffen seien exemplarisch das Europa-Bild Enea Silvio Piccolominis (Günter Frank) und Sebastian Brants Stultifer navis (Joachim Hamm), denn beide Werke beziehungsweise Werkkomplexe entfalten eine überragende, letztlich weit über das 15. Jahrhundert hinausreichende Wirkung. Hier sind es also nicht mehr die mittelalterlichen Wurzeln, sondern die in die Zukunft weisenden Aspekte, die im Zentrum dieses Jahrhunderts stehen.
In Enea Silvio Piccolominis Europa-Schrift kulminiert die jetzt erstmals in einer neuen – man könnte sagen: humanistischen – Weise formulierte Idee von Europa, wobei Europa 1:1 gleichgesetzt ist mit einem ‚christlichen Europa‘. Genau diese Idee der christianitas steht allerdings massiv unter Beschuss und ist an seinen Flanken im Osten schon in Auflösung begriffen. Günter Frank stellt denn auch gleich auf mehreren Ebenen Türkische Expansion und Europa-Bild in den Mittelpunkt seiner Ausführungen. Vor allem am Brief des gerade erwählten Papstes Pius II. (das ist Enea Silvio Piccolomini) an den türkischen Sultan Mehmed II. kann Frank zeigen, wie sich genau hier die für das gesamte fortschreitende Jahrhundert kennzeichnende Turkophobie verfestigt.
Joachim Hamm nutzt die Kommentare in der lateinischen Ausgabe von Brants Narrenschiff, um neue Dimensionen von Textgenese im Spannungsfeld von Buchdruck, Autor, Bearbeiter und Interpret vorzustellen. Wir sehen hier neue „mediale Bedingungen, Prägungen und Inszenierungsformen von Autorschaft“.
Der dritte Cluster ist der Theologie und der Kirchengeschichte verpflichtet. Der Beitrag von Werner Williams-Krapp im vorhergehenden Abschnitt zur Versorgung der Laien mit geistlichem Schrifttum hatte bereits die Tür zur Welt der Theologie geöffnet – wobei eine strikte Trennung von Geistlich und Weltlich bereits für das Mittelalter eine Schimäre ist. So wie Theologie hier gedacht ist, wird man zwar doch von Trennung sprechen, denn hier geht es gerade nicht (wie bei Williams-Krapp) um einfache Laienfrömmigkeit, sondern um wissenschaftliche Theologie. Doch auch diese wird jetzt aus der Sphäre eines elitären geistlichen Wissenschaftszirkels herausgelöst und für die Laien greifbar.
Berndt Hamm führt in diese Thematik ein und konturiert vor allem genau diese Tendenzen zur „Laisierung der Theologie“. Theologisches in den Werken von Hans Sachs, Sebastian Lotzer, Lazarus Spengler, aber auch Argula von Grumbach markieren diesen Wandel. In den Fokus rücken ebenso eine „verstärkte Symbiose von Bildlichkeit und Theologie“, eine breit wirkende Frömmigkeitstheologie und sich auflösende Strukturen der ‚alten‘ Theologie.
Entsprechende Überlegungen führt Ulrich Köpf mit seinen Blicken in höhere Bildungseinrichtungen und Klöster weiter. Tief in die wissenschaftlich-theologischen Debatten hinein geht es bei Reinhold Rieger, Ueli Zahnd und Maarten J.F.M. Hoenen. Für die Zeit wichtig ist in diesem Komplex zudem ein Blick auf die Kartäuser (Mikhail Khorkov), denn sie reformieren nicht nur im Auftrag des Nikolaus von Kues etwa die Benediktinerklöster in Thüringen. Ihre Bibliotheken sind flächendeckend Kulminationspunkte des Wissens und der Wissenschaft.
Bleiben last, but not least Musiktheorie und Kunst. Wieder sind es zunächst exemplarische Studien, die in die Materie einführen. Zentrale Schlagworte – das fügt sich harmonisch in die übrigen Erträge ein – sind einmal mehr „Tradition und Innovation“ oder auch „Change“.
Ist man nach all diesen Untersuchungen am Ende angekommen, hat man tatsächlich das ‚ganze‘ 15. Jahrhundert im Blick. In hervorragender Weise fügen sich alle, zunächst disparat anmutenden Untersuchungsfelder – vom Buch über die Literatur, das Wetter, die Wirtschaft, die Seefahrt, die Theologie, die Musik und die Kunst bis hin zur zeitgenössischen Wissenschaft, Politik und Turkophobie – zu dem schon in der Einleitung von Mathias Herweg formulierten Ganzen. Und es bereitet eine große Freude, am Schluss der Lektüre solch ein vollständiges Bild vor sich zu haben.
Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg
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