Zittern – Rebellieren – Sterben

Joseph Roths Roman „Die Rebellion“ (1924) und die Traumata des Krieges

Von Ulrike SteierwaldRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrike Steierwald

Das sich angesichts unvorstellbarer Kriege, Revolutionen und Naturkatastrophen aktuell breitmachende Bewusstsein für Zeitenwenden ist nicht den frühen 2020er Jahren vorbehalten. Der Roman Die Rebellion erschien in den bis vor kurzem noch historisierend und eher verklärend betrachteten Zwanzigerjahren des vorigen Jahrhunderts – in einer Zeit, deren Telos ebenfalls radikal in Frage stand und die in ihren Verwerfungen, Brechungen und Umstürzen als eine unabsehbare Krise wahrgenommen wurde. Die komplexen, vielschichtigen Verbindungslinien, die zwischen den Machtregimen des Imperialismus und Nationalsozialismus, zwischen denen des Ersten und Zweiten Weltkriegs, liegen und die das gesamte Schreiben des Autors Joseph Roth umfassen, sind bei der Lektüre seiner Werke immer mitzudenken. Bereits der Titel dieses frühen Romans markiert das den gesamten Text durchziehende Kippmoment einer Rebellion – ein Wort, dem der Begriff des Krieges bereits eingeschrieben ist. Während sich in der modernen Kriegsführung (lat. bellum) militärische und damit politische, administrative wie juristisch geregelte Gewaltanwendungen und Eskalationen in staatlichen Konflikten entladen, vollzieht deren Umkehrung (Vorsilbe re-) einen scheinbar chaotischen, systemgefährdenden Widerstand. Dieser ist und bleibt jedoch immer schon durch eine antagonistisch wirkende Logik und Regelhaftigkeit und daher durch die Wissensordnung des Krieges geprägt. Joseph Roths zeitkritischer Roman deckt die Unausweichlichkeit von omnipräsenten Machtstrukturen der Gewalt und Zerstörung in der europäischen Kulturgeschichte des frühen 20. Jahrhunderts auf.

Die Rebellion ist in enger Verschränkung mit Roths äußerst produktiver journalistischer Arbeit zu Beginn der 1920er Jahre zu lesen. Vorab erschien ein Kapitel unter dem Titel Der Häftling im Vormärz, dem der komplette Roman in Fortsetzungen folgte (Schock 2019: 230). Die neue Einzeledition des Wallstein-Verlags (Roth 2019), die die gravierenden Fehler in der Werkausgabe korrigierte (Schock 2012: 193-199), ergänzte den Roman mit einigen der zahlreichen Feuilletons aus der Frühzeit der Weimarer Republik. Diese kulturkritischen wie politischen Diagnosen sind von der veristischen Ästhetik der Neuen Sachlichkeit in ihren empirisch auf klare visuelle Konturen zielenden Formen und Figuren bestimmt. Bildersprache und Sprachbildlichkeit gehen in den medialen, technologischen Veränderungen bildgebender Verfahren (Fotografie, Film, Illustrierte, Plakat, Werbesprache etc.) Hand in Hand. Roths erste, innerhalb weniger Monate entstandene Romane Das Spinnennetz (IV, 63-146), Die Rebellion und Hotel Savoy (IV, 147-242) bilden eine Art Triptychon. In ihm werden die Bilderszenen der Feuilletons in Narrationen überführt, in Geschichten, die allerdings unterschiedliche Schwerpunkte setzen. Während die an Heinrich Manns Typus des Untertan (Der Untertan 1914/18) erinnernde Figur Theodor Lohse (Das Spinnennetz) autoritäre, präfaschistische Gewaltmechanismen im Berlin der Weimarer Republik aufzeigt, befinden wir uns mit dem nach dreijähriger Kriegsgefangenschaft in Łódź strandenden Gabriel Dan (Hotel Savoy) in einer supranationalen, volatilen Hotel-Gesellschaft, in einer prekären Fluchtstätte zwischen Krieg und Revolution. Der Roman Die Rebellion erscheint hier, seinem Titel entsprechend, als oszillierender Mittelteil, der zwischen Traumatisierung und Kompensation, Gewalt und Gegengewalt, Anpassung und Auflehnung changiert. Wie angesichts des epileptischen Anfalls eines posttraumatisch gestörten Soldaten entsteht in diesem Text sukzessive „eine endlose Furcht, wie man sie vor Katastrophen empfindet, die nicht eintreffen wollen und deren Ausbruch eine Erlösung wäre“ (Rebellion: 15).

Der erzählperspektivisch im Zentrum stehende bzw. hinkende, beinamputierte Protagonist, der ehemalige Nachtwächter und durch den Krieg zum Invaliden gewordene Andreas Pum, ist durch kein Täter-Opfer-Schema zu fassen und verkörpert vielmehr diese permanente Bedrohung, die sich aus der beklemmenden Paradoxie einer Zuständlichkeit des endlos fortdauernden Sich-aufrecht-haltens und zugleich Zusammenbrechens ergibt. Das exzessive Zittern vieler traumatisierter Rückkehrer aus dem Krieg konfrontierte die Gesellschaft mit der scheinbar unendlichen Verstetigung des konkreten wie soziokulturellen Kippmomentes, der sich auch durch die amputierten Körper der zahllosen Invaliden visuell und akustisch immer wieder aufdrängte. Wie kaum ein anderer zeitgenössischer Autor hat Joseph Roth die sich verselbständigenden physischen wie psychosozialen Körperschemata und ihre Einbettung in die wirksamen Ordnungen der Macht zur Sprache gebracht. Die mit ihnen einhergehenden Neurosen prägten die Europäische Gesellschaft der ersten Jahrhunderthälfte, auch die jungen und politisch bereits hochlabilen Republiken nach dem Ende der Monarchien.

Die Handlung setzt in den letzten Monaten des Krieges ein, in einem Lazarett an der Peripherie der Großstadt, den Baracken des Kriegsspitals Numero XXIV, die angesichts ihrer geopolitischen Auslagerung noch nicht mal als „Endstation“ beschrieben werden können: Die letzte Haltestelle der Straßenbahn bleibt für die verwundeten und zerstörten Körper der Soldaten unerreichbar. (Roth 2019: 7) Ein Vergleich mit Alfred Döblins fünf Jahre später erschienenem Roman Berlin Alexanderplatz liegt nahe; der aus dem Tegeler Gefängnis, am Rande der Stadt, entlassene Franz Biberkopf fährt mit der Straßenbahn ins Innere Berlins. Doch der lakonische Satz „Die Strafe beginnt“ (Döblin 1929: 15), mit der Döblin die Reise des vermeintlich in die Freiheit entlassenen Straftäters anfangen lässt, kündigt eine andere Geschichte an. In Roths Die Rebellion ist die Großstadt als Schauplatz eines systemimmanent-rebellischen Scheiterns kein spezifischer Ort. Vielmehr erscheint die Stadt als ein Konglomerat unterschiedlicher Topoi: Wir sehen das Spital, den Hinterhof, die Küche, den Stall, die Strafanstalt, den Gerichtssaal, die Herrentoilette etc. Diese Räume rahmen Andreas Pums im Laufe der Erzählung mehr und mehr aus der kognitiv-körperlichen Erfahrungsebene geschildertes Erleben auf emblematische Art und Weise. Wände und Fensteröffnungen werden zu räumlichen Koordinaten einer hospitalisierten Binnensicht auf die jeweiligen Machtverhältnisse.

Der Protagonist ist nicht nur auf die ihn formenden und haltenden Ordnungen angewiesen, sondern bildet in seinen eigenen selektiven, diskriminierenden Denkschemata deren konstitutiven Bestandteil. Auch sein Sprechen vermag sich zunächst allein aus der vermeintlichen Klarheit festgelegter Begriffe und in mit dem Herrschaftsdiskurs deckungsgleichen Redewendungen zu artikulieren: „Andreas Pum war sehr froh, daß ihm die ‚Heiden‘ eingefallen waren. Das Wort genügte ihm, es befriedigte seine kreisenden Fragen und gab Antwort auf viele Rätsel.“ (Roth 2019: 9) Gerade auch in den prekären Grenzbereichen der Gesellschaft – in der Lagerformation des Krankenhauses – wird sein durch die Leiderfahrung des Krieges scheinbar nicht zu erschütterndes Weltbild wirksam. „Er hatte ein Bein verloren und eine Auszeichnung bekommen.“ (Roth 2019: 7) Die Auszeichnung erfolgt jedoch im mehrfachen Wortsinn: Die Invaliden erscheinen als Gezeichnete, deren Bild die Ehren des verlorenen Krieges nicht mehr zu repräsentieren vermag. Sie werden zu ganz konkret und körperlich Umstürzenden, deren omnipräsente Sichtbarkeit im Straßenbild allein durch ihre Existenz provoziert. Staatlich-selektive Strategien zielen auf eine Sondierung von Möglichkeiten der Wiedereingliederung in die gesellschaftliche Ordnung oder die wörtlich zu nehmenden Ausmusterung.

Der Status eines Ersten erhielt der 1914 begonnene Weltkrieg nicht nur durch die Beteiligung außereuropäischer Staaten. Der Anspruch des Neuen lässt sich auch durch die bis dato unbekannte technologische Perfektionierung von Tötungswaffen, von Maschinengewehren, Minen, Granaten und Kampfgaseinsätzen erklären. Kopfverletzungen, Erblindungen, neurologische Schäden und der Verlust von Gliedmaßen waren die häufigsten dauerhaften Beschädigungen der Überlebenden. Die Medizin wurde angesichts der vielen schwerverletzten und traumatisierten Soldaten zu einer systemstabilisierenden Wissenschaft, die die Männer im und nach dem Krieg für eine soziale Inklusion tauglich machen sollte. Der Begriff der Rehabilitation taucht als ein neues Konzept am Ende des Ersten Weltkriegs auf (Lebenszeichen 2018: 22) und markiert, wie eng das Ziel der Genesung mit dem Ringen um Arbeits-Lizenzen oder Lohn-Stützen verbunden war, wie sehr sich in der Wiedereingliederung der beschädigten Körper medizinische, juristische und ökonomische Diskurse, Rehabilitation und Rehabilitierung, überlagerten.

Chirurgie und Orthopädie entwickelten sich nach 1914 zu Institutionen, die sich mit der Normierung und Disziplinierung von Körpern beschäftigten und auch Analysen der als Körpermaterial betrachteten Glieder für ihre Arbeits- und Leistungsfähigkeit in der industrialisierten Gesellschaft lieferten. (Kienitz 2001: 231) Die Fortschritte in der Prothesen-Technik wurden als Ausdruck nationaler Pionierleistungen auf Hygiene-Ausstellungen präsentiert und in der Presse viel diskutiert. (Kienitz 2001: 217-218) Zwar bleibt für Andreas Pum die versprochene Beinprothese aus, aber das Privileg einer Arbeitslizenz wird ihm durch einen ersten, einmaligen rebellischen Anfall seines Körpers und das „Wunder“ (Roth 2019: 18) des Zitterns sehr schnell erteilt. Die Rebellion liegt in diesem Roman nicht im bewusst und strategisch geführten Konflikt einer aufständischen Gruppe gegen ein Machtregime. Vielmehr vollzieht sie sich im Widerspruch zwischen der angestrebten kollektiven Form und Fassung des beschädigten einzelnen Menschen und seiner Verselbständigung in der nervlichen und sozialen Zerrüttung. Die als neues visuelles Massenmedium beliebten Fotopostkarten aus den Lazaretten des Ersten Weltkriegs zeigen Gruppenbilder, die in der Anordnung der weißen Betten oder in Gruppenaufstellungen der Patienten die Genesung eines ganzheitlichen, kollektiven Körpers suggerieren. (Lebenszeichen 2018: 24) Die Vereinigungsphantasien von synchron funktionierenden Männerkörpern in Marsch- und Gefechtsformationen sowie in den Gruppenbildern der sogenannten „Kriegskrüppel“ entsprechen Klaus Theweleits visueller Kulturgeschichte der Ganzheitsmaschinen (Theweleit 2019: 704-711). Schon im Lazarett fällt Andreas Pum aus der Rolle und verweigert sich dem neuen Kollektivkörper der Rekonvaleszenten. In der Rebellion sind Reih und Glied nicht mehr herzustellen.

Dennoch sieht Andreas Pum sich in Einklang mit den Stützen der Gesellschaft (so der Titel des ikonographischen Schlüsselbildes von George Grosz, 1926). Er verlässt das Krankenhaus mit einem Orden, seiner Uniform und der Leierkasten-Lizenz, um die Unterhaltungsbedürfnisse der sozial prekären, kleinbürgerlichen Schichten in den Hinterhöfen der Großstadt zu befriedigen. Die durch Heirat mit einer auf Optimierung der Einnahmen bedachten Witwe rasant beschleunigte Wiederaufnahme seiner sozialen Existenz führt den Versehrten in eine geradezu »vollendete[n] Harmonie mit den irdischen und göttlichen Gesetzen, den Priestern ebenso nahe, wie den Beamten der Regierung« (Rebellion: 46). Die bürgerliche Kleinfamilie bildete seit dem 19. Jahrhundert die tragende, ökonomisch wie sexuell auf Produktivität und Reproduktion ausgerichtete Grundstruktur der Gesellschaft und integrierte dabei Versatzstücke romantischer Konzepte individueller Liebe. Der folgende Zerstörungsprozess des ordnungsliebenden, obrigkeitstreuen Invaliden vollzieht sich also zunächst wie in einem mustergültig funktionierenden, systemimmanenten Räderwerk. Denn unerklärlich und schicksalhaft erscheint das weitere Geschehen nur aus der anfänglichen Erzählperspektive des frommen, gutmeinenden wie naiven Protagonisten. Die Gewaltmechanismen, ökonomischen Verwertungsstrategien und Diskriminierungen der Nachkriegsgesellschaft, mit denen die Störungen und Zerstörungen der körperlich-seelischen Integrität ihrer Mitglieder immer wieder eingeholt werden, treten umso klarer hervor.

In einer Straßenbahn kommt es zu einem wörtlich zu nehmenden Zwischen-Fall, den Roth als eine geradezu burleske, leibhaftige Kollision choreographiert (Roth: 59-65). Im Streit zwischen dem in seiner männlichen Ehre gekränkten Wohlstandsbürger Arnold und dem widerspenstigen und als eine „Simulation“ zu verdrängenden Rumpfkörper des amputierten Invaliden werden Schaffner, Polizist und Mitreisende, der Staat und seine Bürger, zu einem pogromartig mobilisierten Publikum. Die Andras Pum treffende Hass-Rede verbindet verschiedene Feindbilder und bündelt in präfaschistischer Weise den sozialdarwinistischen, antisemitischen und rechtsradikalen Eifer. Er findet vielstimmigen Widerhall. Noch klarer wird die sich verselbständigende Dynamik in der anschließenden Szene des Verhörs. Der gebrandmarkte, gebeugte „Krüppel“ erleidet in physischer Koinzidenz mit seiner Krücke einen Anfall und wird zu einem sich/sie aufhebenden, umstürzenden, widerständigen Körper, der im Kontrast zu den kontrolliert drohenden Gesten und dem eingeübten Gebaren der Polizisten steht:

Andreas fühlte, daß ihm Blut ins Gesicht schnellte. Haß gegen den Beamten ergriff ihn, schüttelte ihn, so, daß er zitterte. Mit dem Stock schlug er auf den Boden. Speichel floß in seinem Mund zusammen. Er spuckte aus. Der Beamte ballte die Fäuste. Andreas sah ihn in weiter Ferne. Der Beamte schrie. Andreas hörte seinen Schrei gedämpft und matt. Rote Räder kreisten vor Andreas‘ Augen. Er hob den Stock und traf einen Lampenschirm. Es klirrte schrill. Zwei Männer stürzten sich auf Andreas. (Rebellion: 83)

Neben den Stützen der Gesellschaft und den Versehrten des Krieges bilden Tiere eine dritte Gruppe im sich geradezu mechanisch abspielenden Machtgefüge. Sie sind sprachlose, aber ausdrucks- und gestenstarke Figuren, denen sich Andreas Pum in seinen instinktiven Reaktionsweisen allmähliche anverwandelt. Seine folgenschweren Anfälle und Ausbrüche ähneln einem unbewussten, reflexartigen Agieren im Überlebenskampf bedrohter Tiere. Auch im Wort Bellen, im Brüllen und Schreien der Tiere (bellan, ahd./aengl.), steckt der Krieg. „Er wußte nicht, wie er zu diesem Schrei gekommen war.“ (Roth 2019: 61) Wie der Phantomschmerz im „fehlenden“, aber umso präsenteren „Fleisch“ (Roth 2019: 71), wird die nicht auf Reflexion oder verbaler Kommunikation beruhende Begegnung zwischen Mensch und Tier zu einer letztmöglichen körperlichen Verbindung – jenseits eines anthropozentrischen Selbstverhältnisses. Als Pum schlagartig aus allen Rehabilitierungen und Einordnungen fällt, ist der Stall seine kurzfristige Bleibe. „Das Tier [der Esel Muli] war gut und ließ sich liebkosen. Es hob mit freundlicher Langsamkeit einen Hinterfuß und das sah aus, als hätte es den ungelenken Versuch gemacht, Andreas zu streicheln.“ (Roth 2019: 71) Der Text hält allerdings auch hier den Wechsel in die auktoriale, konjunktivische Perspektivierung konsequent ein, so dass traditionelle, harmonisierende Stereotype der Naturbetrachtung und auch religiöse Anklänge an franziskanische oder weihnachtliche Erzähltraditionen ironisch gebrochen werden. Von Sentimentalität befreit sich der Roman nicht zuletzt durch satirische Szenen, die collagenartig Kontraste zu den aufgerufenen Bildern setzen. Umgehend verkauft die geschäftstüchtige Katharina Blumich den Esel an einen als groteske Figur gezeichneten Pferdehändler. Ein „rosiger rundlicher Tod“ (Roth 2019: 84) taucht plötzlich auf, „wie ein pausbäckiger Knabe mit dem Wuchs und dem Gebaren, der Stimme und dem Bartwuchs eines Mannes“ (Roth 2019: 77), und liefert sich mit der ihren degradierten Mann mit vernichtender Ignoranz strafenden Ehefrau ein tragikomisches Bietergefecht. Typisierungen und Karikaturen finden wir auch in der Figur des kriminellen Hochstaplers Willi oder des großen, gesunden, satten Unternehmers Arnold, der seine narzisstischen Kränkungen in sexuellen Übergriffigkeiten auslebt (Roth 2019: 47-58). Diese Portraits lassen einmal mehr an die sich umschlingenden oder collagenartig gestückelten Figuren der Neuen Sachlichkeit denken. Dagegen erinnert Roths Nahsicht auf die vernarbten und fragmentarisierten Gesichter und Glieder der Kriegsversehrten an die zeitgleich entstehenden Zeichnungen und Gemälde von Otto Dix oder Max Beckmann. Im Gegensatz zu den ihn umgebenden Karikaturen ist Andreas Pum eine komplexe wie naive Figur, kein zu umreißender Charakter. In den neusachlichen Bildern der zerstörten Leiber fallen Typisierung wie Individualisierung beunruhigend zusammen. Sie lassen sich weder in soziologische noch psychologische Erklärungsmuster einordnen.

In dem durch stetigen Wechsel der Erzählperspektive erreichten Desillusionierungsprozess wird der Roman am Ende selbst zu einem Text, der sich in einem Rauschen unzähliger, zorniger Worte, als eine „unbekannte, fremde, wunderbare Melodie“ (Roth 2019: 132), der Interpretation entzieht. In seiner satirisch-subtilen Erzählkunst führt Roth in das Schluss-Szenario einer letzten, rebellierenden Rede ein (Roth 2019: 113-120): Auch Willi hat sich – wie der in der Gefangenschaft bis zur Unkenntlichkeit gealterte Andreas Pum – verändert. Als ein „Wilhelm Klinckowström“ wird er zu einem sich selbst perfekt inszenierenden, erfolgreichen Unternehmer über ein Imperium von Caféhaus-Toiletten und Garderoben im wirtschaftlich prosperierenden Wien. Die Welt der Hygiene, Dekoration und Unterhaltungsindustrie hat inzwischen auch die Aborte erreicht. Willis semantisch vollkommen entleerter Wahlspruch „Ordnung muss sein!“ umfasst sogleich auch den aus der Haft entlassenen Andreas Pum. Mit Uniform, gekauften Flitterorden und einem sprechenden Papagei versehen, tritt der Invalide seinen letzten Dienst als Aufsicht in der Toilette des Cafés Halali an. (Roth 2019: 120) Doch in dieser „weiße[n], unendlich saubere[n] Stille“ (Roth 2019: 121) werden die sich übereinanderlegenden Räume des Gerichtssaals, der Kirche und der WC-Anlage nur noch zu einem grotesken Ausnahmezustand für die in jedem Sterben liegende Rebellion – die unvorstellbare, bedrohliche Zuständlichkeit zwischen Leben und Tod. So sehr der Gesang und das Rauschen der sich hier im Sterben freisetzenden Worte an eine Hiob-Figur denken lassen, bricht Pums Rede mit jeglicher transzendenten Gottesvorstellung und entlarvt sie als einen Bestandteil des anthropozentrischen Machtregimes. Nochmals werden die im Verlauf der Erzählung im wahrsten Sinne des Wortes stark gemachten Tiere – Vögel, Esel, Papagei – als Gegenbilder aufgerufen. „Ich will in die Hölle!“ (Roth 2019: 133) lautet die logische Konsequenz, denn sie erscheint als der extremste Gegensatz zur menschlichen Welt. Doch einmal mehr legt der radikale Wechsel der Erzählperspektive die auktoriale Sicht auf die faktischen, wirkmächtigen, systemrelevanten Ordnungen frei. Die Nummerierung der Sträflingskleidung und der Leiche ist dieselbe; der tote Körper wird nicht der „Hölle“, sondern dem Verwertungsmechanismus der Anatomie übergeben.

„Daß die Gewalt der Fakten so zum Entsetzen geworden ist, daß alle Theorie, und noch die wahre, sich wie Spott darauf ausnimmt – das ist dem Organ der Theorie selber, der Sprache, als Mal eingebrannt. […] Eigentlich kann man nichts mehr sagen. Die Tat ist die einzige Form, die der Theorie bleibt.“ (Adorno 1939, zit. n. Tiedemann 1997: 7) Adorno formulierte diese Tatsache 1939, in dem Jahr, in dem Joseph Roth im Exil an den Folgen seiner suizidalen Alkoholsucht starb. Sie gilt heute einmal mehr für die Vergeblichkeit, sich gegenüber dem Entsetzen des Faktischen jenseits selbstbezüglicher Betroffenheit zu artikulieren – aber eben auch für die eigene Ohnmacht, sich ihm gegenüber zu verhalten. Und dennoch zeigen auch heute Autor:innen in der Tat, in der Tatsächlichkeit ihres Schreibens, zu dem der Rebellion eingeschriebenen Mechanismus des Krieges Revisionen und Widersetzungen auf, so wie sie von Roth oder Adorno für das vergangene Jahrhundert zur Sprache gebracht wurden. Denn das Sprechen und Schreiben wird hier selbst zu einer letztmöglichen Form für die Sichtbarmachungen der dem Sprach-Organ – der leibhaftigen Körperlichkeit der Seele – eingebrannten, sich einbrennenden Gewalterfahrungen des Krieges.

Literatur

Adorno, Theodor W.: Aufzeichnung in einem Schulheft ohne Deckel (1939). In: Frankfurter Adorno Blätter IV, München 1995, S. 7.

Döblin, Alfred: Berlin Alexanderplatz. Die Geschichte vom Franz Biberkopf (1929). München 492011

Kienitz, Sabine: »‚Fleischgewordenes Elend‘. Kriegsinvalidität und Körperbilder als Teil einer Erfahrungsgeschichte des Ersten Weltkrieges«. In: Buschmann, Nikolaus/  Carl, Horst (Hg.): Die Erfahrung des Krieges. Erfahrungsgeschichtliche Perspektiven von der Französischen Revolution bis zum Zweiten Weltkrieg. Paderborn, München, u.a. 2001, S. 215–237.

Lebenszeichen. Fotopostkarten aus den Lazaretten des Ersten Weltkriegs: Begleitheft zur Sonderausstellung im Medizinhistorischen Museum Hamburg, 19. Oktober 2018 bis 27. Oktober 2019. Hg. von Ankele, Monika/ Eßler, Henrik 2018.

Roth, Joseph: Die Rebellion. Göttingen 2019 (Aus der von Ralph Schock nach dem Manuskript herausgegebenen Einzeledition wird anstelle der fehlerhaften Werkausgabe zitiert).

Roth, Joseph: Werke [in 6 Bänden]. Hg. von Klaus Westermann und Fritz Hackert. Köln 1989 (Zitate: Band, Seitenzahl).

Schock, Ralph: Editorische Notiz und Nachwort. In: Roth, Joseph: Die Rebellion. Göttingen 2019, S. 229-231 und 255-280.

Schock, Ralph: Jeden Augenblick konnte er verhaftet werden oder: Nämlich ähnlich. Zur Edition des Romans Die Rebellion in der Werkausgabe Joseph Roths. In: Text. Kritische Beiträge 13 (2012), S. 193–199.

Theweleit, Kaus: Männerphantasien. Vollständige und um ein Nachwort erweiterte Neuausgabe. Berlin 2019.

Tiedemann, Rolf: ‚Nicht die erste Philosophie, sondern die letzte‘. Anmerkungen zum Denken Adornos. In: Adorno, Theodor W.: „Ob nach Auschwitz noch sich leben lasse“. Ein philosophisches Lesebuch. Frankfurt a.M.  1997, S. 7–27.