Trost spenden Texte als Gefährtinnen und Gefährten

Michael Ignatieff schreibt „Über den Trost in dunklen Zeiten“ einer säkularen Welt

Von Stephan WoltingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stephan Wolting

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der kanadische (Ideen-) Historiker, Havard-Professor, BBC-Filmer und Philosoph russischer Abstammung Michael Ignatieff, ehemaliger Vorsitzender der liberalen Partei Kanadas von 2008 bis 2011, das „Schweizer Offiziersmesser unter den gegenwärtigen Autoren“ geht in seinem 2021 On Consolation: Finding Solace in Dark Times. erschienenen und jetzt von Stephan Gebauer aus dem Amerikanischen ins Deutsche übersetzten Werk der Frage nach, was uns Menschen in diesen dunklen Zeiten von Krisen, Krieg, Pandemie o.ä. Trost spenden kann.

Die These des Agnostikers lautet, dass auch nichtgläubige Menschen in einer säkularen Welt in bekannten klassischen Texten oder Werken der europäischen Kultur Trost suchen und finden können. Er bezieht sich auf eine Welt, in der jegliche metaphysischen Bindungen für den westlichen Menschen lose und locker geworden sind, auf ein Ereignis, das Nietzsche mit dem Tod Gottes und im Nachlass aus den Achtzigern als den „unheimlichsten aller Gäste“, der vor der Tür steht, dem europäischen Nihilismus“ bezeichnete. (den Teil mit der Heidehgger-Vorlesung weglassen, er tut nichts zur Sache. An anderer Stelle ist Ignatieffs Werk von daher als „Einführung in das abendländische Denken oder eine „Kulturgeschichte des Trostes“ bezeichnet worden.

Das Buch scheint gerade zur rechten Zeit zu kommen, in einer Zeit, in der jegliche Art moralischer Führung zur Disposition gestellt scheint bzw. der Mensch um den „Trost seines institutionellen Rahmens beraubt worden ist“, wenn man beispielsweise die katholische Kirche und ihren Umgang mit sexuellen Belästigungen und Misshandlungen betrachtet. Der jetzige Trost besteht allein „im Zwiegespräch mit Vertrauten oder in Sitzungen mit Psychotherapeuten“. Dabei legt Ignatieff sein Veto gegen eine solche Vorstellung ein und stellt dieser den Trost der Texte, der Bilder, der Philosophie, der Literatur, der Kunst bzw. der Religion entgegen.

Dabei geht es dem Autor sowohl um den individuellen wie den kollektiven Trost. In 17 Kapiteln plus Einleitung und Nachwort versucht der Autor, dem Phänomen des Trosts auf die Spur zu kommen. Bemerkenswerter Weise sind es oft Texte, die zu konkreten Anlässen geschrieben wurden wir z.B. Ciceros Briefe über den Tod seiner Tochter oder Gustav Mahlers Kindertotenlieder etc. An seiner chronologischen Vorgehensweise merkt man Ignatieff den Historiker an.

Eine der Stärken des Werks besteht darin, dass die Texte zum Teil so miteinander verflochten sind, dass sie in einer besonderen Art von Intertextualität aufeinander referieren: Auf die Psalmen und das Buch Hiob folgt Paulus, der wiederum aus ersteren zitiert, darauf Cicero, der sich auch in Auseinandersetzung mit den Frühchristen befindet, oder Marc Aurel, der sich wiederum auf Cicero bezieht und so weiter. Von der Leserschaft lassen sich auf diese Weise chronologische als auch mediale Unterteilungen nachvollziehen. So repräsentieren die ersten fünf Kapitel Werke der Antike unter dem Fokus des Trosts: Das Buch Hiob, die Briefe des Paulus, andere beschreiben Gemälde oder Bilder wie El Grecos Begräbnis des Grafen von Orgaz, wieder andere Werke der Musik wie Gustav Mahlers Kindertotenlieder, aber auch Texte der Philosophie (die letzten Essays von Michel de Montaigne, u.a. der Essay Über die Erfahrung), der Soziologie (Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus) oder der Politik (Karl Marx, Abraham Lincolns Zweite Antrittsrede, Vaclav Havel) bzw. (philosophisch-) literarische Texte wie Albert Camus´ Die Pest oder Texte von Anna Achmatowa oder Primo Levi. Was diese Texte fast durchgängig miteinander verbindet, ist die große persönliche und biographische Nähe ihrer Verfasser zu dem Dargestellten.

Natürlich gibt es bei den Interpretationen der breit ausgewählten Texte stärkere und schwächere. Dem Historiker Ignatieff gelingt es aber insgesamt, die Texte so erzählerisch zu gestalten, dass sich diese unter dem erwähnten stark biographischem Einschlag dem geistigen Auge von Leserin und Leser öffnen. Der Autor kennt sich außergewöhnlich gut in seinem Metier aus und ist in der Lage, dies den Lesenden in Form „kleiner Erzählungen“ der Lebens- oder Trostgeschichten der Autoren zu vermitteln.

In einer Rezension wurde Ignatieff dazu vorgeworfen, dass es sich fast ausschließlich um Texte von Männern handeln würde, die zudem nicht im eigentlichen Sinne Trost spenden würden. Die Textauswahl an sich scheint durchaus dazu geeignet. Das einzige einer Frau gewidmete Kapitel handelt von Cicely Saunders (1918–2005) Der gute Tod, der Begründerin der Hospiz-Bewegung.

Erwähnt sei allerdings, ohne den obigen Einwand völlig widerlegen zu können, dass er Kolleginnen und Kollegen aus ganz unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen (der Theologie, Judaistik, Philosophie, Kunst, Musik, Literaturwissenschaft, Übersetzungswissenschaft usw.), die er in der Vorbereitung auf sein Werk befragt hat, in seinem Vorwort alle namentlich vorgestellt.

Darüber hinaus nennt Ignatieff zwei entscheidende Erlebnisse, die ihn zu einer näheren Beschäftigung mit dem Thema brachten: Zum einen der Besuch eines Konzerts der Vier Chöre-Vertonung der 140 Psalmen in Utrecht, wo er 2017 einen Vortrag in der Pause zum Thema Politik und Gerechtigkeit halten sollte. Dieses Konzert erfüllte für ihn die Funktion einer Art „Erweckungserlebnis“ und er entdeckte „den Trost in den Worten in der Musik und in den Tränen des Wiedererkennens im Publikum, das von der uralten religiösen Sprache bezaubert wurde und einen Eindruck davon vermittelte, was es bedeutete, getröstet zu werden.“ Gerade zu Zeiten der Pandemie wurde nach Meinung des Autors das Bedürfnis nach Trost durch die Kunst oder die Musik, Religion oder Philosophie besonders stark, um Gefühlen von Desorientierung, Furcht, Einsamkeit und Trauer Ausdruck zu verleihen.

Als sein zweites „Erweckungserlebnis“ schildert der Autor den Besuch bei einem Freund, der sechs Monate zuvor seine Frau verloren hatte. Ignatieff spürt, dass er den Freund nicht wird trösten können und er kommt zu dem Schluss: „(…). Um zu verstehen, was Trost bedeutet, müssen wir uns zunächst mit den Momenten beschäftigen, in denen es keinen geben kann.“

Der Freund erscheint ihm im wahrsten Sinne des Wortes untröstlich, „er weigert sich zu glauben, dass er ohne seine Gefährtin leben kann“. Ignatieff stößt bei dem Versuch, ihn zu trösten, an seine Grenzen, zudem stoßen sie gemeinsam an die Grenzen der Sprache und „die Worte lösen sich in Schweigen auf: Er ist vollkommen allein in seiner Trauer und diese Einsamkeit kann niemand mit ihm teilen. In der Tiefe dieser Einsamkeit ist kein Platz für Hoffnung“.

Schließlich äußert der Freund den entscheidenden Satz: „Wenn ich nur glauben könnte, dass ich sie wiedersehen werde.“ Dieser Satz bringt Ignatieff zu einer längeren Reflexion, was es heißt, aus dem Paradies ausgestoßen zu sein, aus der Hoffnung, wir würden unsere geliebten Menschen einmal wiedersehen, was für die Menschen früherer Jahrhunderte selbstverständlich schien.

Und was kann uns heutigen Menschen dennoch Halt geben? Das Einzige, was uns in diesen Zeiten nach Auffassung des Autors Trost geben kann, ist die Beschäftigung mit den Texten der oben erwähnten, großen „Trostspender“, zum einen, weil wir spüren, dass wir mit unserem Bedürfnis nach Trost nicht allein sind, zum anderen, weil sie große Weisheit und Wahrheit (im Sinne des hier besprochenen Textes von Vaclav Havel) versprühen. In der Regel sind es gutbekannte Texte oder Werke, die der Autor präsentiert.

Das Trösten, das aus ihnen fließt, ist dabei nach Ignatieff ein Akt der Solidarität im Raum: Man leistet Hinterbliebenen Gesellschaft oder hilft einem Freund in einem schwierigen Moment. Zugleich ist es ein Akt der Begleitung in der Zeit. Man gedenkt der Toten und findet Sinn in den Worten, die sie hinterlassen haben. Diese Werke helfen uns Worte für das Wortlose zu finden, für Erfahrungen von Isolation, die uns im Schweigen gefangen hält.

Bedeutsam sind auch die etymologischen Hinweise auf das Wort Trost, das seinen Ursprung im Lateinischen consoler hat, was so viel bedeutet wie, gemeinsam Trost finden bzw. wortwörtlich unterstützen. Zudem ist es im Hebräischen mit dem Begriff für Wurzel verbunden. Insofern hängt es auch mit Halt finden und stärken zusammen, das Leid eines anderen Menschen teilen bzw. sein eigenes mit anderen bewältigen.

Die Vorstellung der Tröstung ist schließlich mit einer geänderten Einstellung zum Phänomen der Trauer verbunden. Solange der Trauernde, wie etwa Hiob, so nur über sich selbst und sein Schicksal nachdenkt, findet er keinen Trost, sprich keine Erlösung.

Erst als er akzeptiert, dass Gott untergründig und unbegreiflich ist, als er aufhört, sich auf seine eigene Unschuld zu fixieren und die unbegreifliche göttliche Ordnung anerkennt, kann er sein Leben fortsetzen. Ein Schuldeingeständnis ist keine Voraussetzung für Trost, aber Reue und Sichabfinden im positiven Sinne könnten im Sinne einer Verarbeitung dafür notwendig sein. Vor allen kommt es beim Trösten aber darauf an, Trost aus den Leiden des anderen, entweder für sich (auch im Sinne von Goethes Werther „Trost aus seinem Leiden“) oder für andere, zu schöpfen. Und dieses Beistehen im wortwörtlichen Sinne stellt sich nicht nur in der Begegnung mit anderen Personen, sondern auch in der Lektüre dieser Texte ein, die auf diese Weise zu „Gefährtinnen und Gefährten im Geiste“ werden.

Darüber hinaus helfen diese Werke, Worte für das Wortlose zu finden, um Erfahrungen der Isolation, die uns Menschen oft im Schweigen gefangen hält, auf diese Weise aufbrechen zu können. In diesem Sinne ist das Werk gerade in diesen schwierigen, trostbedürftigen Zeiten einer großen Leserschaft zu empfehlen.

Titelbild

Michael Ignatieff: Über den Trost in dunklen Zeiten.
Ullstein Verlag, Berlin 2021.
352 Seiten , 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783550201981

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