„Alice im Wunderland“ mit anderen Augen gelesen

Mit einer Mischung aus Anekdoten und literaturwissenschaftlichen Erkenntnissen blickt Peter Hunt auf die Entstehungsgeschichte des Kinderbuchklassikers von Lewis Carroll

Von Michael FasselRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Fassel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Name des Autors, Lewis Carroll, ist so eng mit dem Kinderbuchklassiker Alice im Wunderland verknüpft wie das weiße Kaninchen. Der Romanstoff erfreut sich nicht zuletzt durch die unzähligen Verfilmungen international großer Beliebtheit – auch heute scheint die Faszination des „Wunderlandes“ ungebrochen. Die Regisseure Tim Burton (Alice im Wunderland, 2010) und James Bobin (Alice im Wunderland: Hinter den Spiegeln, 2016) haben die skurrile Welt als 3D-Spektakel auf die Leinwand gebracht.

Doch was macht den 1865 erschienenen Kinderroman kultur- und literaturgeschichtlich so einzigartig? Warum finden auch Erwachsene ihn so interessant? Und welche schillernde Persönlichkeit verbirgt sich hinter Charles Lutwidge Dodgson alias Lewis Carroll? Peter Hunt, emeritierter Professor für Literatur an der Universität Cardiff, hat 2020 den populärwissenschaftlichen Band Die Erfindung von Alice im Wunderland. Wie alles begann (orig.: The Making of Lewis Carroll’s Alice and the Invention of Wonderland) vorgelegt. Darin beleuchtet der britische Literaturwissenschaftler sehr anschaulich die Entstehungsgeschichte sowie den gesellschaftlichen Kontext. Ins Deutsche wurde Hunts Abhandlung bereits ein Jahr später von Gisella M. Vorderobermeier übersetzt.

Im Vorwort hebt Hunt die kulturelle Dimension und den nicht zu unterschätzenden Einfluss des Klassikers hervor: „Die ,Alice‘-Bücher gehören zu den meistzitierten, am häufigsten angeführten, bekanntesten (wenn auch vielleicht nicht immer tatsächlich gelesenen) Büchern in englischer Sprache, denen zudem nachgesagt wird, sie hätten den Lauf der Kinderliteratur geändert […].“ Spätestens hier weckt der Literaturwissenschaftler große Erwartungen an seine Ausführungen. Mit einer Melange aus Anekdoten aus Carrolls Leben, mal mehr, mal weniger aufschlussreichen Fakten und analytischem Gespür für den kulturhistorischen Kontext von Alice im Wunderland und Alice hinter den Spiegeln taucht Hunt ins viktorianische Zeitalter ein und bringt uns den Schöpfer der Kinderromane bereits im Vorwort näher. So habe Carroll, der im Alter von 33 Jahren als Mathematikdozent tätig war, beinahe ein Jahresgehalt für den ersten Druck gezahlt, bevor Alice im Wunderland im Dezember 1865 von dem Verleger Macmillan veröffentlicht wurde.

Hunt belässt es nicht bei einer Aneinanderreihung von Anekdoten, obgleich er der zum Mythos gewordenen Bootsfahrt auf der Themse im ersten Kapitel viel Platz einräumt. Denn immerhin fungierte Alice Liddell, die Tochter des damaligen Dekans der Universität Oxford, als Vorbild für Carrolls kindliche Protagonistin. Carroll selbst dachte sich auf solchen Ausflügen spontan fantastische Geschichten aus und gab sie den Liddell-Töchtern Lorina, Edith und natürlich Alice zum Besten – so jedenfalls will es uns das fiktionalisierte Mythos-Narrativ verkaufen: „Es ist eine derart charmante Geschichte, dass die Stadt Oxford noch immer jedes Jahr den sogenannten ,Alice’s Day‘ begeht und Lewis Carroll als einen ihrer berühmtesten Söhne angenommen hat […].“

So einflussreich die Alice-Romane auch sind, so ist hervorzuheben, dass Carroll nicht selten selbst Bezug auf Kinderliteratur nimmt, die sich seit dem 18. Jahrhundert der religiösen und moralischen Unterweisung verschrieben hat. Hunt führt einige Prätexte wie beispielsweise Isaac Watts’ The Sluggard (1715) oder Elizabeth Turners The Daisy, or Cautionary Stories in Verse Adapted to the Ideas of Children from Four to Eight Years Old (1807) an, deren moralischen Gehalt Carroll aushebelt, indem er die Texte parodiert. Als der Schriftsteller an den Alice-Büchern arbeitete, „fühlte er ganz offenbar mit den Leiden der jungen Leserschaft, die solche Bücher ausgiebig erduldet hatte.“ Ohnehin heben sich die Alice-Romane in der Landschaft der damaligen Kinderliteratur von anderen Büchern stark ab. Den pädagogischen Zeigefinger wird man hier vergebens suchen, auch religiöse Unterweisung spielt keine Rolle. Angesichts von Carrolls ausgeprägter Empathie für junge Leser*innen und der umfassenden Kenntnis von entsprechenden literarischen Unterweisungen für Kinder ist es Hunt zufolge naheliegend, dass der Autor bewusst auf einen Erziehungsroman verzichten wollte.

Dass Carroll sich als Satiriker im Gewand eines Kinderbuchs versteckt, ist bei intensiver (Re-)Lektüre der Alice-Romane durchaus unterhaltsam. Gerne spottete er beispielsweise über Christ Church und verarbeitete seine parodistischen Spitzen in den Romanen. Hunt führt dabei Textbeispiele ins Feld, die Kritik an Persönlichkeiten wie dem damaligen Dekan Liddell verhüllen. Schlüssel sei die bekannte chaotische Fünf-Uhr-Tee-Szene, worin der Dekan als Vorbild für den Hutmacher fungiert. Hunts Argumentationsgänge überzeugen darüber hinaus durch präzise Textarbeit, die mit John Tenniels populären skurrilen Illustrationen des Alice-Universums gelungen ergänzt werden. Das Verdienst des Literaturwissenschaftlers besteht darin, dass manche Passagen mit anderen Augen gelesen werden können. Hunt führt nicht nur einige von Carrolls satirischen Überspitzungen gegen Persönlichkeiten seines Umfelds an, er fördert überdies parodierende Seitenhiebe gegen moralisch-religiöse kinderliterarische Unterweisungsliteratur überzeugend zutage, indem er auch die Prätexte zitiert, die Carroll für seine Zwecke umschreibt.

Peter Hunt beansprucht mit seinen lesenswerten Ausführungen keineswegs eine vollständige Forschungsgeschichte zu dem Kinderbuchklassiker. Vielmehr legt er seinen Schwerpunkt auf einzelne Aspekte und bringt auf unterhaltsame Weise den Alice-Kosmos und dessen Schöpfer näher. Der Lektüre tut dies keinen Abbruch. Und nicht nur Tenniels Illustrationen, sondern auch Fotografien, etwa von Carrolls imposanter Suite am Oxforder College oder seinem literarischen Vorbild Alice Liddell, runden die Kapitel sinnvoll ab, so dass insgesamt eine ausgewogene Balance des Text-Bild-Verhältnisses entsteht. Ein lesenswerter und abwechslungsreicher Band, der nicht nur Fans zur (Re-)Lektüre von Alice im Wunderland einlädt.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Peter Hunt: Die Erfindung von Alice im Wunderland. Wie alles begann.
Aus dem Englischen von Gisella M. Vorderobermeier.
wbg Theiss, Darmstadt 2021.
128 Seiten, 28 EUR.
ISBN-13: 9783806242645

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