Der Pechvogel

Der Roman „Das zweite Leben des Adolf Eichmann“ macht Eichmann, von dem das historische Wissen vermeintlich klare Konturen gezeichnet hat, zum Gegenstand literarischer Fiktionalisierung

Von Patrick EserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Patrick Eser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein griesgrämiger, ressentimentgeladener Mann durchstreift die Straßen von Buenos Aires. Er ist auf der verzweifelten Suche nach Blumen, mit denen er seine Frau, die an diesem Tag am Hafen landen wird, empfangen möchte. Da an diesem Tag das Gedenken an die verstorbene Eva Perón stattfindet, sind die Blumen ausverkauft. Der Mann flucht, entlädt misogyne Schimpftiraden, bemitleidet sich selbst. Mit dieser Straßenszene wird der Protagonist des Romans Das zweite Leben des Adolf Eichmann eingeführt. Der im Titel der deutschen Übersetzung erwähnte und von der Erzählung behandelte Geschehensabschnitt besteht aus Eichmanns Aufenthalt in Argentinien, wohin er sich 1950 absetzen konnte und ihm später seine Familie gefolgt war. Der spanische Originaltitel des Romans, El desafortunado, spricht einen Charakterzug an – der „Pechvogel“ – und drückt ein Selbstbild aus, die für den fiktionalisierten Eichmann bedeutend sind. Dies schimmert schon in der erwähnten Einstiegsszene auf: der Pechvogel Eichmann, der einst eine historisch bedeutende Funktion innehatte, muss sich in Argentinien versteckt halten und erhält dort nicht einmal Blumen für seine Frau.

Dass Bösewichte die Literaturgeschichte bevölkern, ist keine Neuigkeit. Anders sieht es aus mit den Verbrechern aus dem spezifischen historischen Kontext des Nationalsozialismus und dessen Vernichtungsmaschine. Wie können für monströse Verbrechen verantwortliche historische Personen zum Gegenstand der literarischen Fiktion und Modellierung werden? Welche ästhetischen wie auch ethischen Herausforderungen stellen sich? Debatten über die Adäquatheit der künstlerischen Darstellung leben immer wieder auf, wenn literarische oder filmische Werke mit entsprechenden Verbrecherfiguren als Protagonisten erscheinen und dadurch möglicherweise Irritationen auslösen. Polemiken entzünden sich und entfalten dabei in verschiedenen nationalen Rezeptionskontexten unterschiedliche Sprengkraft und Schärfe.

Mit Das zweite Leben des Adolf Eichmann ist ein Roman erschienen, der den Obersturmbannführer Eichmann zum Protagonisten der Erzählung macht, jenen Akteur, der bei der logistischen Planung der auf der Wannseekonferenz beschlossenen Vernichtung des europäischen Judentums federführend war. Dass diese oftmals mit dem Attribut des Schreibtischtäters assoziierte historische Gestalt zum Protagonisten eines Romans wird, ist literarisches Novum. Anders als die monströse Gestalt des sadistischen Lagerarztes‘ im KZ Auschwitz, Josef Mengele, der es mehrmals auf die Filmleinwand sowie zum Protagonisten in der literarischen Fiktion geschafft hat – zuletzt in La Disparition de Josef Mengele (2017) des Franzosen Olivier Guez –, stand Eichmann bislang noch nicht im Zentrum literarischer Erzählungen. Es ist dies das Novum des Romans von Ariel Magnus, der 2020 bei Seix Barral (Barcelona/Buenos Aires) auf Spanisch und 2021 in deutscher (und auch französischer) Übersetzung erschienen ist.

Im Vordergrund steht der im Titel des Romans so bezeichnete ‚zweite Abschnitt‘ seines Lebens, der mit seiner Ankunft in Argentinien beginnt. Mit seiner später nachgezogenen Familie führte Eichmann dort ein ,normales Leben‘, bis er 1960 von Agenten des Mossad entführt wurde. Eichmanns Aufenthalt in Argentinien ist dort bis heute Gegenstand von Polemiken, Magnus‘ Roman tangiert ein besonderes Kapitel der deutsch-argentinischen Beziehungen.

Der Roman schreitet verschiedene Stationen Eichmanns in Argentinien ab, es werden die Kontakte zur lokalen deutschen Community, oder genauer, zu anderen dort untergekommenen ‚Alt‘-Nazis, ebenso behandelt, wie seine mehr oder weniger unglücklichen unternehmerischen Anstrengungen, so verdingte er sich zeitweise als Kaninchenzüchter. Eichmann wird auch in seiner Rolle als Familienvater gezeigt, als autoritäre Person orientiert er sich strikt an Werten wie Loyalität und Gehorsam. Seiner Frau gegenüber ist er ein brutaler Patriarch, der leicht an die Grenzen seiner Beherrschung gerät, was auch körperliche Aggressionen umfasst. Eichmanns Alltagserleben wird in seinen Interaktionen mit Mitmenschen gezeigt, seine Bewusstseinsvorgänge stehen dabei im Vordergrund. Sie weisen vielfältige psychopathologische Züge auf. Obsessive Ordnungsvorstellungen und permanente logistische Operationen, die Assoziationen zu seiner Tätigkeit als ,Organisator der Endlösung‘ wecken, sind ebenso präsent wie Erinnerungsflashs, die ihn immer wieder in Alltagssituationen einholen und im Figurenbewusstsein Szenen aus dem Lager oder seiner ,Arbeit‘ im NS entstehen lassen. Sie werden ausgelöst durch kleinste Merkmale der Alltagswelt, so durch die Rauchwolken des Grills des Nachbars, die in ihm die Erinnerung an die Krematorien der Lager hervorrufen.

Durch die Fokussierung auf den Protagonisten und die Ausleuchtung seines Innenlebens erhält der Roman psychologisierende Züge. Sie zeichnen das Psychogramm eines Neurotikers, in dem der antisemitische Wahn fortwirkt. Magnus‘ Eichmann ist eine schwache Persönlichkeit, er giert nach der Anerkennung seiner Umgebung, ist von dieser abhängig. Dies zeigt sich, als er im Kreis der Altnazis, die der Journalist Wilhelm Sassen in Buenos Aires um sich schart, die Anwesenden durch seine Ausführungen über die gewissenhafte Erledigung der Judenfrage zu beeindrucken versucht.

Die Erzählinstanz führt das Erleben und Bewusstsein der Täterfigur in einer Gegenwart vor, die dem Verbrechen nachgelagert und zugleich von jenem tief durchdrungen ist. Die Vergangenheit wirkt auch insofern nach, als das Leiden einer Person gezeigt wird, die einst eine ,wichtige Funktion‘ inne, ja sogar einen Chauffeur hatte, und nun ein untergetauchter Irgendwer ist. Eichmann ist Melancholiker, er trauert Glanz und Glorie der Vergangenheit nach. Der von ihm so empfundene Bedeutungsverlust füllt ihn mit Ressentiments aus, die Gegenwart ist für ihn eine Zeit des Verfalls. Zugleich schrumpft er in der Zeichnung des Romans zu einer banalen Erscheinung. Züge der Durchschnittlichkeit, die Arendt in ihrer Prozessbeobachtung an Eichmann konstatiert hatte, werden hervorgehoben. Er erscheint nicht als monströse Figur, als Verkörperung des Bösen schlechthin, sondern als mediokrer Zeitgenosse, der sexuell perverse Vorstellungen hegt, von Minderwertigkeitsgefühlen geplagt wird und der seine Ressentiments durch Rassenwahnvorstellungen und andere menschenfeindliche Einstellungen zu überdecken oder kompensieren versucht.

In der Zeichnung der Figur kommen auch Facetten Eichmanns zu Tage, die die Philosophin Bettina Stangneth in ihrer Arbeit Eichmann vor Jerusalem (2011) herausgearbeitet hat. In ihrer Untersuchung von Eichmanns Zeit in Argentinien hat Stangneth Material zu Tage gefördert, anhand dessen sie die (auch aufgrund von Arendts Schriften) populäre Deutung Eichmanns als denkfaulen, banalen Bürokraten widerlegen konnte: Eichmann war belesen, akkumulierte Wissen von seinem politischen Feind (dem Judentum) und wusste sehr wohl, an welchem verbrecherischen Projekt er beteiligt war, das er überzeugt und begeistert zu Ende zu bringen bestrebt war. Davon zeugen nicht zuletzt seine Aussagen, die in den so genannten Sassen-Protokollen dokumentiert sind.

Sassen, ehemaliger SS-Mann in den Niederlanden und ebenfalls in Argentinien untergetaucht, unterhielt in seinem Haus sonntägliche Zusammenkünfte alter Kameraden. In deren Rahmen wurden mit Eichmann Gespräche geführt, worin dieser von seinen ‚Tätigkeiten‘ berichtete. Sassen ließ Abschriften der Tonbandaufzeichnungen anfertigen, um aus diesem Material eine einträgliche Story zu gewinnen. Gleichwohl war der um ihn gescharte Kreis von Altnazis bestrebt, eine revisionistische und beschönigende Version vom Nationalsozialismus zu zeichnen. Die Aussagen des linientreuen Eichmanns, der überzeugt und ohne Selbstzensur von seiner Mission der Organisation der Massenvernichtung des europäischen Judentums berichtete, verblüfften die Anwesenden. Die erst nach dem Eichmann-Prozess veröffentlichten Sassen-Protokolle ließen an der Überzeugung des Täters keine Zweifel. Verkürzt ließe sich eine Konklusion aus Stangneths Analyse wie folgt zusammenfassen: Arendt ist Eichmanns Performance vor Gericht, seinen wohl kalkulierten Lügen und seiner inszenierten Naivität auf den Leim gegangen.

Die Hinterlistigkeit des strategisch kalkulierenden Lügners ist in Magnus‘ Figurenzeichnung sehr präsent. Er wird bei seiner internen Selbstrechtfertigungsakrobatik, während seines ‚zweiten Lebens‘, im Nachgang seiner verbrecherischen Taten, beobachtet. Die nah am Figurenbewusstsein des Überzeugungstäters angesiedelte Erzählhaltung dringt weit in die Intimität der Täterpersönlichkeit ein, Vorstellungen vom ‚Monster Eichmann‘ schrumpfen zugleich im Rahmen der Skizze eines erbärmlichen Pechvogels und Losertyps.

Magnus hat umfangreiche Informationen über die historische Persönlichkeit Eichmann aus dem Studium zahlreicher Quellen gewonnen, wie er in einem „Quellen“ überschriebenen Anhang am Ende des Romans kundtut. Hier wird Stangneths Buch als Leitfaden bezeichnet, von besonderer Bedeutung waren weiterhin die Schriften Eichmanns, deren Lektüre Magnus, wie er in Interviews kundtut, bis in den Schlaf verfolgte. Die Figurenzeichnung basiert auf diesem vielschichtigen Hineindenken in die Täterfigur, sie enthält Aussagen und Ansichten Eichmanns, die den Sassen-Protokollen entnommen und durch diese verbürgt sind.

Die Gestaltung der Figur reicht weit ins Intime der Persönlichkeit, sie leistet dort eine fiktionale Ausleuchtung, die teilweise im Stil eines beißenden Sarkasmus gehalten ist. Unerträgliche Charakterzüge Eichmanns werden humoristisch überspitzt, und ins Absurde gesteigert, wenn Eichmann mal wieder in durchgedrehten Denkexperimenten abdriftet oder seine misanthropische Weltsicht zu Tage tritt. Die Umwelt, in der er sich bewegt, beobachtet und beschreibt er entlang kategorialer Unterschiede zwischen Deutschland und Argentinien. Der überzeugte Neonazi Eichmann erklärt sich seine Welt, ausgehend von kulturvergleichenden Beobachtungen zwischen seiner alten und neuen Heimat. So werden Ähnlichkeiten und Differenzen zwischen deutscher und argentinischer Kultur konstruiert, klassische nationale Fremdbilder und Stereotype kommen dabei zur Anwendung.

Eichmanns ‚ethnographische Beobachtungen‘ zeugen von der Schlichtheit seines Intellekts wie auch vom Wissensdurst eines in Feindkategorien denkenden Zeitgenossen. Seine Beobachtungen kultureller Spezifika zeitigen mitunter komische Effekte und bringen polemische Vergleiche hervor. Als Eichmann in einem Linienbus an einem Elendsviertel vorbeifährt, kommt ihm der Vergleich des spezifischen Klassen-Rassismus in der argentinischen Gesellschaft mit dem spezifisch ,deutschen Problem der Juden‘. Der Hass, den die Deutschen den Juden entgegen gebracht haben, ähnele der Verachtung, die ‚die Argentinier‘ gegenüber den cabecitas negras, den so genannten ,Schwarzköpfchen‘ – ethnisch markierte Unterschichtsangehörige, die aus dem Hinterland kommen und eine dunklere Haut aufweisen –  hegten. So schimmern zynische Kommentare rassistischer Diskriminierungsformen auf, die schon aus anderen Romanen von Magnus bekannt sind (so in seinem Roman über ein Elendsviertel in Buenos Aires, La 31. Una novela precaria (2013), oder in dem auch ins Deutsche übertragenen Roman Ein Chinese auf dem Fahrrad), nun aber artikuliert aus dem Mund des ‚Architekten der Endlösung‘.

Auch bleibt in der Wahrnehmungswelt Eichmanns der Vergleich der beiden Führerfiguren Perón und Hitler nicht aus, die oftmals zu sehr polemischen Vergleichspunkten Anlass gegeben hat. Magnus, ein Kenner der deutschen wie argentinischen Kultur und Geschichte, führt solche Vergleichskonstruktionen in humoristisch, teils sarkastisch zugespitzter Art ein, wissend um ihren polemischen Gehalt. Dem Roman ist ein spielerischer Umgang mit den ‚Kulturunterschieden‘ und nationalen Stereotypen eingeschrieben, der auf mehreren Ebenen angesiedelt ist und auch die Stimme des überzeugten Nationalsozialisten Eichmanns und dessen Weltsicht einbezieht.

Magnus schafft aus den rekonstruierten historischen Daten ein Denkexperiment über das zweite Leben des zum Pechvogel gewordenen Obersturmbannführers. Das fiktionale Eintauchen in die Lebensumstände des untergetauchten Eichmann endet schließlich mit dem Kidnapping durch die Agenten des Mossad. Die letzten Seiten des Romans zeigen den entführten Eichmann, wie er im stillen Kämmerlein schon die Strategien seiner Verteidigung erfindet und durchspielt, die später konstitutiv sein sollten für seine Unschuldsshow vor dem Gericht in Jerusalem, wo er sich als dummen, ideenlosen Bürokraten verkaufte. Hier schimmert nochmals das Eichmann-Bild aus Stangneths Untersuchungen durch, Eichmann erscheint als Schauspieler und perfide kalkulierender Lügner.

Die erzählerisch vermittelte Schrumpfung des gewöhnlich als monströse Figur vorgestellten Eichmann führt das Leben eines Neurotikers und Pechvogels vor. In der inneren Selbstrechtfertigungsrhetorik Eichmanns schimmern die Gruppennormen des überzeugten Täterkollektivs der Nazis durch. Seine persönliche ‚nationalsozialistische Moral‘ und sein idealistisches Selbstbild bringen auf erschreckende Weise die ‚guten und edlen Motive‘ seiner verbrecherische Mission ans Licht. Neben dem Versuch der heroischen Selbststilisierung werden zudem die einstigen Karrieresorgen Eichmanns sichtbar, so in den verachtenden Rückblicken auf einstige Nebenbuhler, die seinem ,Aufstieg‘ im Wege standen.

Magnus dringt mit seinem Erzählexperiment in Zonen vor, die der historiographischen Täterforschung versperrt sind. Seiner literarisch-fiktionalen Täterbeschreibung gelingt es, Einblicke in die Abgründe des menschlichen Daseins zu vermitteln, so zum Beispiel in den Umstand, wie erschreckend einfach auf individualpsychischer Ebene rational-rhetorische Mechanismen der Selbstrechtfertigung in Kraft gesetzt werden können, um nicht zu rechtfertigende Handlungen und Prozesse als ,normal‘ erscheinen zu lassen.

An dieser Stelle wird deutlich, inwiefern die oftmals von der Literaturkritik an die Fiktionalisierung historischer Stoffe herangetragenen Frage nach der Adäquanz der Darstellung nicht entscheidend ist. Interessanter ist eher, was die  Fiktionalisierung einer Gestalt wie Eichmann ermöglicht und wie die narrative Eigenlogik des Romans, seine Sprache und literarische Ästhetik ein tieferes oder anderes Nachdenken anzuregen vermögen. Die Perspektive auf Eichmanns Erleben seines zweiten Lebens legt einen neuen, imaginativen Zugang zur Vergangenheit, zu den Verbrechen und zur Frage der Verantwortung eines ihrer zentralen Akteure.

Der Humor und Sarkasmus, den Magnus in seiner Skizze des Losertyps Eichmann zur Anwendung bringt, trägt Züge einer subtilen, beißenden Kritik, die den Roman generell kennzeichnet. Im Epilog, der eine überraschende wie beeindruckende subjektive Perspektive einrückt, wird die Perspektive der Kritik im Rahmen einer autofiktionalen Anekdote thematisiert. Während eines dargestellten nachdenklichen Spaziergangs des Autors im Anschluss an die Fertigstellung des Manuskripts kommen Aspekte der Familiengeschichte und das familiäre Gedächtnis zur Sprache.

Die Geschichte seiner deutsch-jüdischen Großmutter, ihr Überleben mehrerer Konzentrationslager, hatte Magnus einst zum Gegenstand einer faktual-autobiographischen, rekonstruktiven Erzählung gemacht: La abuela (2006) bzw. Zwei lange Unterhosen der Marke Hering. Die erstaunliche Geschichte meiner Großmutter (dt. 2012). Die biographische Erfahrung seines ebenfalls als Jude aus Deutschland geflohenen Großvaters floss ein in den Roman Die Schachspieler von Buenos Aires (2018) (El que mueve las piezas: novela bélica 2017). Die Auseinandersetzung mit dem „Fall Eichmann“ thematisiert nun abermals die Verflechtung der deutschen und argentinischen Geschichte und die zwischen diesen beiden Ländern erfolgten Fluchtbewegungen und Überlebensgeschichten.

Magnus‘ Familiengeschichte wird in dem autofiktionalen Epilog, in der die autobiographisch anmutende Erzählstimme zurückblickt auf seine Auseinandersetzung mit dem Eichmann-Stoff, wieder präsent. Sie kommentiert das subjektive Erleben dieser thematischen Konfrontation, die damit verbundenen Affekte und nicht zuletzt auch die Herausforderung, mit einem familienbezogenen Erinnerungsmandat umzugehen. Diese wird repräsentiert durch die Figur des Vaters, der mit Kontaktabbruch droht, sollte die Eichmann-Figur auch nur eine positive Facette aufweisen. Der autofiktionale Epilog ist ein beeindruckender Text literarischer Selbstreflexion, die zwischen Fiktion, literarisierter Historiographie und Erinnerungsnarrativik situiert ist. Zugleich wird die zentrale Instanz des Urteilens, der literarisierten Form der Rechtsprechung in diesem ,Fall‘ angesprochen. Es schimmert im Mandat des Vaters eine literarisierte Rechtsethik auf, die sowohl die affektive Dimension der Beschäftigung mit dem Stoff wie auch die Suche nach einer angemessen Form, das Unrechtsempfinden auszudrücken, umfasst – eine Frage, die das Thema der kollektiven Erinnerung und den Umgang mit der an die dritte Generation teilweise weitergegebenen Traumatisierung betrifft.

Magnus literarisches Programm der Schrumpfung und Ridikülisierung des Pechvogels Eichmann kann als innovativer generationenspezifischer Einsatz im Umgang mit dem NS gelten, in der sich biographisch-genealogische Motive wie auch fiktionalisierte Rache- und Gerechtigkeitsvorstellungen verschränken. Die argentinische Literatur erweist sich ein weiteres Mal als produktiver Narrativspender für die Auseinandersetzung mit den schwer zu fassenden Verbrechen und Tätermotiven aus dem Kontext des NS. Magnus‘ Eichmann-Roman fügt der argentinischen Literarisierung von Nazi-Täterfiguren einen weiteren originellen Beitrag hinzu, für die die Erzählung Deutsches Requiem von Jorge Luis Borges, schon im Februar 1946 erschienen, den Auftakt darstellte.

In dieser wohl ersten literarischen Nazitäterdarstellung wurde das narrative Zentrum erstmalig in das Erleben eines NS-Täters gelegt, nämlich des fiktiven Otto Dietrich zur Linde, dessen auf seine Taten zurückblickenden Monolog am Vorabend seiner Hinrichtung das Lesepublikum beiwohnt. Mit Jonathan Littells erfolgreichem Roman Les bienveillants (Die Wohlgesinnten), der das Fühlen und das Erleben einer NS-Täterfigur auf schockierende und polemische Weise in den Mittelpunkt rückt, hat das literarische Sub-Genre der Nazitäterdarstellungen eine weitere dynamische Entwicklung erfahren. Magnus‘ Das zweite Leben des Adolf Eichmann fügt diesem Sub-Genre, das die Widersprüche und Abgründe von Täterfiguren auslotet, ein weiteres innovatives Beispiel hinzu.

Neben Magnus‘ El desafortunado ist in Argentinien ein weiterer Roman erschienen, der Eichmanns Zeit in Argentinien behandelt: Marcos Rosenzvaigs Querido Eichmann (2021, Marea Editorial) zeigt ebenfalls einen idiosynkratischen Eichmann, der in seiner neuen Lebensumgebung seinen Vernichtungsfantasien und seinem nationalsozialistischen Eifer frönt. Die Handlung spielt im Norden Argentiniens, wo Eichmann bei dem staatlich geförderten Unternehmen CAPRI zunächst Anstellung fand. Zwischen Gerüchten über Hitlers in Argentinien, Hoffnungen auf die Unterstützung durch Ufos und perversen sexuellen Vorstellungen berauscht sich der Protagonist Eichmann von der Vision, im Norden Argentiniens das Vierte Reich zu gründen. Anders als es in der bisherigen literarisierten NS-Verbrecherikonographie der Fall war, scheint nun auch der ‚Bürokrat der Endlösung‘, der Lügner und glühende Antisemit Eichmann Einzug zu erhalten in die bunte, literarische Imaginationsgeschichte des NS.

Titelbild

Ariel Magnus: Das zweite Leben des Adolf Eichmann.
Aus dem Spanischen von Silke Kleemann.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2021.
235 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783462000917

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