Die soziale Dimension des Lesens

In ihrem Essay „Szenen des Lesens“ beleuchtet Julika Griem verschiedene Facetten der Kulturtechnik

Von Michael FasselRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Fassel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Auf dem Büchermarkt sind in den vergangenen Jahren zahlreiche Lese- bzw. Literaturratgeber erschienen. In ihrem Essay Szenen des Lesens. Schauplätze einer gesellschaftlichen Selbstverständigung, erschienen in der von  Klaus Benesch und Cathrin Klingsöhr-Leroy herausgegebenen Reihe Wie wir Lesen – Zur Geschichte, Praxis und Zukunft einer Kulturtechnik, führt Julika Griem eingangs beispielsweise Felicitas von Lovenbergs Gebrauchsanleitung oder Denis Schecks Kanon an, womit sie nur einen Bruchteil an „bibliotherapeutischer“ Leseanleitungsliteratur umreiße. „Ist die Verbreitung von Ratgeberliteratur ein Indikator gesellschaftlicher Verunsicherung oder gar des Verfalls?“ Mit dieser kulturkritischen Frage steigt die Literaturwissenschaftlerin, seit 2016 Vizepräsidentin der Deutschen Forschungsgemeinschaft, in ihr Essay ein. Obgleich der Titel stark an den im Jahr 2020 erschienenen Sammelband Leseszenen. Poetologie – Geschichte – Medialität, herausgegeben von Jadwiga Kita-Huber, Sanna Schulte und Irina Hron, erinnert, gehen Griems Gedankengänge doch in eine andere Richtung, indem sie vor allem das Lesen in einer sozialen Dimension und als interaktive Tätigkeit wahrnimmt.  

Der überwiegend soziologisch ausgerichtete Essay befasst sich in sechs Kapiteln unter anderem damit, wie in verschiedenen sozialen Milieus gelesen wird, welche Lesepraktiken angewendet werden und inwiefern Lesen gar identitätsstiftend ist. Griem skizziert im ersten Kapitel „Lesen lesen“ Ansätze verschiedener Soziologen, wie z.B. Andreas Reckwitz’ kultursoziologische Perspektive auf das Lesen oder Hartmut Rosas Reflexionen seiner persönlichen literarischen Leseerfahrungen. Die Autorin berücksichtigt zudem auch neuere Arbeiten aus der Neuro- und Kognitionswissenschaft, wie die viel beachteten Überlegungen von Maryanne Wolf. Der interdisziplinäre Zugang zur Kulturtechnik ist als Gewinn und zugleich als Fokusverschiebung zu betrachten. Diese Neuausrichtung stellt auch Griems Anspruch dar: „Ich möchte mit diesem Essay Formen der Beobachtung und Darstellung erproben, die nicht allein jene etablierten Diskurse fortschreiben, mit denen das Lesen auf häufig vorhersehbare Weise expliziert wird.“ Unter Berücksichtigung jüngst publizierter Studien (hier sei etwa der 2020 erschienene Titel Lesen im digitalen Zeitalter von Gerhard Lauer genannt) wird die Autorin ihrem Vorhaben gerecht.

Der schmale, aber gehaltvolle Band ist nicht als Studie, sondern bewusst als Essay angelegt, sodass die Autorin sich die Freiheit nehmen darf, eine Art Selbsterfahrungsbericht zu schreiben. So schildert Griem ihre eigene Lektüreerfahrung am Anfang der Corona-Pandemie im März 2020, als sie sich spontan dazu entschlossen hat, alle 75 Maigret-Romane von Georges Simenon zu lesen. Das Besondere dabei: Die Literaturwissenschaftlerin hat die Kriminalreihe nicht chronologisch gelesen, auf eine Gesamtausgabe verzichtet und bewusst gebrauchte Exemplare per Post bestellt:

Ich entledige mich der philologischen Routine, ein ,Werk‘ chronologisch und komplett zu erschließen, lerne etwas über meinen Sammeltrieb und finde Spuren einer Gebrauchsgeschichte von Simenon-Leserinnen, die bei meinen Zufallskäufen in Form von Geruch und Vergilbungsgrad, Anmerkungen und Aufklebern, Umschlaggestaltungen und Übersetzungen erkennbar werden.

Den erfrischenden Erfahrungsbericht über das Lesen während des Lockdowns ergänzt Griem um Ausführungen zum Wettbewerb „Eine Uni – ein Buch“, eine vom Stifterverband der deutschen Wissenschaft und der Klaus Tschira Stiftung ausgerichteten Initiative. Im Fokus des Interesses stehen hier kollektive Lektürepraktiken und -erfahrungen. An dieser Stelle macht die Autorin auf ein der Leseforschung inhärentes Problem aufmerksam, denn die Erhebung sozialer Lesepraktiken berge methodische Schwierigkeiten: „Sowohl einsames als auch gemeinsames Lesen entziehen sich in vielfacher Hinsicht einer systematischen empirischen Beobachtung und Erschließung.“

Das Lesen in sozialen Räumen entzieht sich dennoch nicht dem forschenden Blick. Griem wirft etwa ein Schlaglicht auf die Zusammenkünfte bei Literaturfestivals oder auf das Phänomen crossmedialer Interaktionsformen. Allen voran sei hier John Greens YouTube-Kanal „Vlogbrothers“ genannt. Abgeschlossen wird der Essay mit dem Kapitel „Lesen (ver-)lernen“. Vor dem Hintergrund, dass in universitären Kontexten Studierende mit einer hohen Erwartungshaltung an ihre Lesekompetenz konfrontiert werden, plädiert Griem – inspiriert von Björn Kreys Textarbeit: Die Praxis des wissenschaftlichen Lesens – dafür, das Lesen im Rahmen von Seminaren mehr in den Fokus eigener Reflexionen zu rücken. Unter praxeologischer Perspektive diskutiert sie überdies umsetzbare Einheiten für mögliche konkrete didaktische Herangehensweisen für eine Lehrveranstaltung, die sich derartige Aufgaben und Fragen zum Ziel setzt. Der Autorin zufolge handelt es sich dabei um einen „Prototyp“, sodass das vorgestellte Konzept je nach Fachrichtung, Seminargröße und anderen Variablen entsprechend modifiziert werden kann. 

Erkenntnisreich, fundiert und durchaus unterhaltsam eröffnet Julika Griem neue Wege in der unerschöpflichen Landschaft der Leseforschung, um Lesesituationen, -interaktionen und -reflexionen systematisch zu ergründen. Der anregende Essay ist eine Einladung zur Vertiefung interdisziplinärer Forschungsansätze und weiterführender Fragestellungen.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Julika Griem: Szenen des Lesens. Schauplätze einer gesellschaftlichen Selbstverständigung.
Transcript Verlag, Bielefeld 2021.
128 Seiten, 15 EUR.
ISBN-13: 9783837658798

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