Der See, das Selbst und die Sätze

Warum Martin Walsers Texte haften bleiben – Erinnerungen und Lektüreerfahrungen

Von Jürgen GuniaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jürgen Gunia

Der alte Mann und der See

Ich bin dort geboren und aufgewachsen, wo Martin Walser geboren und aufgewachsen ist und wo er heute noch lebt: am Bodensee.[1] Jedoch wurde mir erst im Alter von 14 oder 15 Jahren bewusst, dass dieser Autor zum Bodensee gehört wie die Wallfahrtskirche Birnau oder die Pfahlbauten. Auch wenn wir in der Schule seine Bücher nicht lasen und ich mich nicht daran erinnern kann, dass er in den regionalen Medien sonderlich präsent gewesen ist: Walser war für mich immer ‚da‘. Er schien so etwas zu sein wie der ebenso alte wie alterslose Geist des Bodensees persönlich. Deshalb sind die meisten seiner Bücher bis heute für mich ohne den Bodensee nicht vorstellbar – mag dieser in den meisten Romanen und Erzählungen auch nur kurz Erwähnung finden oder lediglich Kulisse sein.

Einmal glaube ich Walser sogar am See gesehen zu haben, es muss irgendwann in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre gewesen sein. Ich war mit dem Auto unterwegs nach Überlingen und fuhr dabei über Nussdorf, wo er seit 1968 lebt. Auf der Hauptstraße überholte ich einen älteren Herrn, der sich auf dem Fahrrad die Steigung hochmühte. Erst im Nachhinein, im Rückspiegel, meine ich damals Walser erkannt zu haben. Auf den ersten Blick wirkte er wie eine seiner Figuren, die gerade versuchen wegzukommen. Ich selbst kam mir in diesem Moment vor wie der Chauffeur Xaver Zürn im Roman Seelenarbeit (1979), der im Rückspiegel plötzlich anstelle seines im Fond sitzenden Chefs auf der Straße den Geist des Bodensees, den berühmten Schriftsteller Martin Walser, erblickt.

Nachweislich erlebt habe ich Walser erstmals, als er im Jahr 1988 in Freiburg aus seinem damals aktuellen Roman Jagd vorlas. Ich studierte in Freiburg bereits Literaturwissenschaft und Philosophie und hatte einen Kommilitonen überredet mitzukommen. Die Lesung war wirklich ein Erlebnis: Sie glich mehr einer Predigt als einem literarischen Vortrag. Fortwährend begleiteten, ja orchestrierten Walsers Hände seine Rede und verliehen so dem Romantext, in dem es doch ‚nur‘ um die erotischen Affären des alternden ehemaligen Immobilienmaklers Gottlieb Zürn ging, eine bemerkenswerte Bedeutsamkeit. Während ich fasziniert war, machte der Kommilitone kein Hehl daraus, dass er sowohl Roman als auch Autor gewöhnungsbedürftig fand. Für ihn war das Altherrenliteratur, gespickt mit eher peinlichen Altherrenfantasien (in dem Romanauszug, den Walser vortrug, ging es um Sex zu dritt). Dass ich dem Kommilitonen darüber hinaus nachher, beim Bier in einer Kneipe, meine Begeisterung über die Notate in Meßmers Gedanken gestand, machte die Sache nicht besser. Zum Trost sagte ich mir, dieser Kommilitone komme eben aus dem Norden und könne somit nicht denselben starken Bezug zu diesem Autor entwickeln wie ich.

 „Durch mein Gesicht ziehen die Jahre wie Eroberer“[2] ist eines dieser Zitate aus Meßmers Gedanken (1985), das ich bis heute nicht vergessen habe. Warum ich mich als 22-jähriger Student davon angesprochen fühlte, lag wahrscheinlich daran, dass hier nicht nur ein 58-jähriger Autor über den Prozess des Alterns klagte, sondern zugleich eine Grundbefindlichkeit des Menschseins zur Sprache gebracht wurde. Wenn man bei Walser überhaupt von so etwas wie Poetik sprechen kann, dann von einer religiös getönten Poetik der Existenz; Begriffe wie Mangel und Schmerz gehören bis heute zum Grundvokabular seines Werks. Leidenserfahrungen sind demzufolge eine Bedingung für das Hervorbringen von Literatur. In seinem 1974 erschienenen Aufsatz Wer ist ein Schriftsteller?, den ich sehr früh verschlungen hatte, weil ich als Jugendlicher eine Zeitlang selbst der Idee nachhing, Schriftsteller zu werden, erläutert Walser dieses existenziell fundierte Schreiben als zwanghaftes Betasten einer wunden Stelle im Mund.[3] Ein Vergleich, der damals für mich von zwingender Evidenz war, schloss er doch Sprache und Sprechen mit Verletzung kurz und verlieh somit dem Schreiben eine ungeheure Relevanz und Authentizität.

In den folgenden Jahren distanzierte ich mich zunehmend von Walser. Die Gründe dafür waren vielfältig: Im Oktober 1988 hielt er seine umstrittene Deutschlandrede, später folgten die „Paulskirchenrede“ (1998) und der Skandal um den Roman Tod eines Kritikers (2002). Debatten, die mich schlicht und ergreifend irritierten. Außerdem nahm ich den von mir bislang wertgeschätzten Existenzialismus seiner Texte mehr und mehr als larmoyant und allzu ostentativ wahr. Auch  die monothematische Ausrichtung seiner Romane – immerzu ging es um Ehebruch und die Liebe eines alten Mannes zu einer jungen Frau – empfand ich nun wie mein Kommilitone bei der Lesung in Freiburg als unangenehm, ja obsolet. Schließlich wuchs mit meinem Wechsel nach Würzburg Ende der 1980er und zur Promotion nach Bielefeld in den 1990ern die Distanz zum Bodensee…

Die Entstehung des Erzählens aus der Selbstbeobachtung

Trotzdem verlor ich Walsers Werk nie ganz aus den Augen. Ein springender Brunnen (1998) nahm ich ebenso zur Kenntnis wie die Romane Angstblüte (2006) und Muttersohn (2011). Im Zuge meiner Auseinandersetzung mit der literarischen Moderne während meiner Promotion in den 1990ern kristallisierte sich zudem ein differenzierter(er) Blick auf sein Werk heraus. U.a. erkannte ich, dass seine Romane nichts anderes tun, als den so genannten Bewusstseinsroman Woolfs, Joyces oder Prousts fortzusetzen. Abgesehen davon, dass Walser das großbürgerliche Milieu dieser Vorbilder ersetzt durch einen ‚lehrbuchreifen Mittelstand‘[4], also durch Vertreter, Makler oder Chauffeure, tritt bei ihm viel deutlicher zutage, dass sich diese Art des Erzählens einer zum Habitus automatisierten Selbstbeobachtung verdankt. Ein Habitus, der eingeübt wird durch das tägliche Schreiben von Briefen und Tagebüchern. Nicht von ungefähr tragen die umfangreichen Tagebücher Walsers, die seit 2005 im Rowohlt-Verlag erschienen sind, den Titel Leben und Schreiben. In ihnen wird das „Selbstbeobachten beim Leiden“[5] nicht nur dokumentiert, sondern schreibend angetrieben und hervorgebracht. Denn wie bei Franz Kafka und anderen großen Tagebuchschreibern bedingen sich Selbstbeobachtung und Schreiben gegenseitig. Lesend wird man zudem Zeuge, wie dabei ein genuin literarisches Selbstbewusstsein entsteht.[6]

Selbstbewusstsein ist einer der Grundbegriffe Walsers, und zwar nicht zuletzt deshalb, weil es für ihn ein fiktionales Projekt darstellt. Das gilt bereits für die Tagebücher. Erst recht natürlich gilt es für die Literatur. Heißt es in einem Text aus dem Jahre 1974 über Kafka, dessen Tagebücher enthielten „die ganze Übungsstrecke des menschlichen Bewusstseins“, wobei alles, was sich ereigne, sogleich der „literarischen Zurichtung“ überantwortet werde,[7] wird 2003 in einem Aufsatz über Robert Walser hervorgehoben: „Alle Romane handeln vom Selbstbewusstsein. Vom Werden des Selbstbewusstseins.“[8] Nur konsequent ist es in diesem Zusammenhang, dass in Walsers Romanen dieses Sich-selbst-bewusst-Werden indirekt zum Thema gemacht wird, und zwar in zahlreichen Szenen des Aufwachens und morgendlichen Aufstehens. Als theatralische Urszene des Ins-Erzählen-Kommens findet das Aufwachen, das Peter Sloterdijk treffend als „Sichzuraufführungbringen“[9] bezeichnet, geradezu zwangsläufig am Beginn vieler Romane statt, wobei das Aufwachen hinausgezögert und/oder das Aufstehen meist verweigert wird: Mit der Rückkehr in die Pflichten und Rollen des gesellschaftlichen Lebens, das damit einhergeht, tun sich Walsers Hauptfiguren schwer.[10]

Diese Dramen des Nicht-aus-dem-Bett-Gelangens lassen die Hauptfiguren Walsers letztlich zu Postfigurationen Gregor Samsas werden, nur dass ihnen die Option, sich in ein riesiges Ungeziefer zu verwandeln, nicht zur Verfügung steht. Im Roman Das Einhorn (1966) heißt die Lösung aus diesem Grunde schlicht: liegenbleiben. Liegenbleiben – das ist bei Walser der Beginn eines anderen, literarischen Selbstbewusstseins. Gerade in Das Einhorn zeigt sich darüber hinaus, dass sich das durch und in der Literatur generierte Selbstbewusstsein mitnichten auf eine individuelle Identität verpflichten lässt. Im Gegenteil, ausdrücklich postuliert wird im Roman ein Ich im Plural: Fröhlich wird von der Erzählstimme „Vivat Dividuum“ ausgerufen und gleich darauf der „Tausendfalt“, ja der „Hunderttausendfalt“[11] verkündet. Und das in einem Roman, der auf den ersten Seiten mit den Authentizität suggerierenden Vokabeln „Bekenntnissucht“ und „Geständniszwang“[12] jongliert!

Satzpoetik: Ästhetische Erfahrung als Gebrauch von Literatur

Was aber ist es jenseits des Herkunftsraums Bodensee und des literaturwissenschaftlichen Interesses an der Prosa der Moderne, dass ich immer wieder auf Walser zurückkomme? Meine thesenhafte Antwort auf diese Frage lautet: Walsers Werk enthält Sätze, die haften bleiben. Sätze, die den eigentümlich persuasiven Charakter seiner Prosa ausmachen. Man muss diese Sätze nicht mögen, aber das verhindert nicht, dass man sie nicht mehr loswird.

Spätestens seit den 1960er Jahren vermitteln Walsers Texte den Eindruck, als ob sie die Tatsache, dass sie aus einzelnen Sätzen bestehen, eigens hervorheben wollen. Zu verdanken haben sie diesen Eindruck zunächst einem Stil, der auf komplexe Syntax weitestgehend verzichtet. Das Grundmodell bilden einfache, zum Teil elliptische Aussagesätze. Hypotaktische Konstruktionen kommen ebenfalls vor, werden aber kurzgehalten und nicht zu Perioden ausgebaut. In diesen Stil – ich nenne ihn im Folgenden einfach Satzstil – nisten sich sodann Sätze von besonderer Prägnanz ein, Sätze, von denen einige das Merkmal von Denksprüchen bzw. Sentenzen besitzen. Sätze, die zuweilen mit einer auktorial-apodiktischen Gebärde daherkommen, wie „Ein toter Vater ist tückischer als ein lebendiger“[13] oder „Zumfensterhinausschauen macht Lyriker aus uns allen.“[14] Daneben gibt es sentenzähnliche, direkt aufs Romanpersonal bezogene Sätze. Zu diesen gehören der boshaft-misogyne Satz „Sophie bestand nur aus Erfahrung, mit der sie nichts anfangen konnte“[15] oder hyberbolisch-vieldeutige Ichbezogenheiten à la „Ich bin wie die Sonne, es genügt, dass ich scheine.“[16]

Sätze wie diese waren es offensichtlich, die mich gerade wegen ihrer Ambivalenz faszinierten (siehe „Durch mein Gesicht ziehen die Jahre wie Eroberer“), meinen Kommilitonen 1988 jedoch abgeschreckt haben. Die Poetik der Existenz findet so ihr Äquivalent in einer Poetik des Satzes, die eine z.T. umfangreiche selbstreflexive Dimension entfaltet: Oft finden sich in den Büchern Walsers regelrechte Satzmeditationen. Im Roman Der Augenblick der Liebe (2004) wird ein Satz des materialistischen Philosophen Julien Offray de La Mettrie gar zum „Nachtgebet“[17], und in Der letzte Rank (2017) formiert sich der Text um Sätze wie „Mir geht es ein bisschen zu gut“; zugleich thematisieren viele Sätze darin selbst Sätze, z.B. „Ich liebte Sätze, die man nicht beweisen muss.“[18] Die Poetik des Satzes zwingt fast jede Walser-Lektüre hinein in eine potenzielle Stellen-Lese, d.h. trotz aller u.a. durch einen Plot suggerierten Geschlossenheit öffnet sich die Prosa und bietet einen Zugang jenseits der Interpretation an – einen Gebrauch.[19]

Die Möglichkeit, von den Texten einen bestimmten Gebrauch zu machen, also auf eine mehr oder weniger beliebige Situation der lesenden Person ‚angewendet‘ zu werden, verweist darauf, dass das Werk Walsers trotz aller festgestellten Modernität eminent vormoderne Implikationen tradiert. Diese lassen sich bis in die Antike zurückverfolgen und beruhen auf einer signifikanten rhetorischen Beschaffenheit sowie auf bestimmten medialen Voraussetzungen. Ein erstes Beispiel ist die nichtlineare Lese-Praxis, das Medium Buch an einer beliebigen Stelle aufzuschlagen und der so gefundenen Stelle oder einem besonderen Satz eine prophetische oder zumindest therapeutische Bedeutung zu entnehmen: die Bibliomantie.[20] Sie wird von Susi Gern im Roman Lebenslauf der Liebe (2001) praktiziert, findet sich jedoch bereits in den Tagebuchaufzeichnungen aus dem Jahr 1958, wo Walser überlegt, dieses Verfahren einer Romanfigur, dem Prototyp Anselm Kristleins, zuzuschreiben.[21] Eine andere, nicht ganz so drastische Möglichkeit des Gebrauchs führt ebenfalls zurück in die Antike, zur späten Stoa genauer gesagt, aber auch zum frühen Christentum und zur Mönchstheologie des Mittelalters (zu der man außerdem den von Walser hochgeschätzten Dominikaner Heinrich Seuse zählen darf). Es handelt sich um eine passionierte Lektürepraxis, die u.a. die Zisterzienser als „lectio divina“ bezeichneten. Der Ausdruck „Nachtgebet“, der in Der Augenblick der Liebe in Bezug auf den Satz la Mettries verwendet wird, ist in diesem Sinne verräterisch. In seiner Rede  über den Leser aus dem Jahr 1977 schreibt Walser sogar, der Leser sei ein Nachkomme des Beters.[22] Die „lectio divina“ frühchristlicher Spiritualität nämlich konkretisiert sich als betendes Lesen – als  Schriftmeditation, die im ständigen Wiederholen des Satzes besteht und mit Auswendiglernen und dem geradezu sinnlichen Auskosten der rhetorischen Beschaffenheit dieser Stelle einhergeht.[23] Insbesondere im Auskosten rhetorischer Qualitäten wird deutlich, dass die durch die „lectio“ ermöglichte Gotteserfahrung zugleich als ästhetische Erfahrung zu verstehen ist. Indem Walser die „Schönheit des sich selbst erlebenden Denkens“[24] preist und von Sätzen schwärmt, „die man nicht beweisen muss“, knüpft er implizit an die Tradition der „lectio divina“ an, klammert jedoch den Transzendenzbezug ein. Wie bei der ‚lectio‘ handelt es sich dennoch um mehr als eine ästhetische Erfahrung, was die Sätze vor allem durch ihr Insistieren auf existenzielle Themen nahelegen. Genauso ist das Lesen auch bei Walser zu verstehen als existenzielle Erfahrung, weil es die Bereitschaft verlangt, einen Satz so auf sich wirken zu lassen, dass sich dadurch die Möglichkeit ergibt, Denken, Haltung und Leben zu ändern.[25]

Der Rückblick bleibt

Das scheint es also zu sein, was mich an Walsers Texten seit jeher fasziniert und dazu geführt hat, dass sie haften bleiben: Der Satzstil und die in diesen Stil eingelagerte Satzpoetik, die sich für einen Gebrauch anbietet, der ästhetisch und existenziell zugleich ist, sozusagen eine ‚Ästhetik der Existenz‘. Nach wie vor bin ich beeindruckt von der ungeheuren Sensibilität und Wachsamkeit, die ein solches Verfahren voraussetzt. Sensibilität gegenüber formelhaftem Sprechen bzw. gegenüber den abgeschliffenen Phrasen der Alltagskommunikation. Solchen Phrasen hat sich Walser in Aus dem Wortschatz unserer Kämpfe (1971) intensiv gewidmet. Die „Szenen“ dieses Buchs bestehen fast hauptsächlich aus der schmerzhaften Aneinanderreihung von Sätzen in der Art von „Sie werden mich noch kennenlernen“, „Ich muss doch sehr bitten“ etc.[26] Wer sich durch diesen Text gearbeitet hat, wird es zukünftig vermeiden, solche Phrasen zu benutzen! Für Walser war es möglicherweise eine Sprachinventur und ein Vermeidungstraining zugleich.

Wachsamkeit vor allem gegenüber den Sätzen, die den Status von Sentenzen haben. Diese haben topische Funktion und werden traditionell als argumentative Strategie eingesetzt.[27] In ihrer Tendenz zur Simplifizierung und ihrer ambivalenten Apodiktik bergen sie die Gefahr, ideologisch vereinnahmt und zur Leerformel zu werden, mit der man scheinbar alles Mögliche legitimieren kann. Die Sentenz „Der Starke ist am mächtigsten allein“ aus Friedrich Schillers Wilhelm Tell ist ein Beispiel für eine solche Vereinnahmbarkeit. Ein anderes ist „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“ aus Theodor W. Adornos Minima Moralia. Mit ihm setzt sich Walser in einem 2003 gehaltenen Vortrag auseinander. Ausgangspunkt ist sein Entsetzen über den typischen Effekt einer Sentenz, also darüber, dass dieser Satz derart „gesetzmäßig“ klinge und er, „wo er eingesetzt wird, einschüchternd bis drohend wirkt.“[28] Mit Walser-Sätzen kann das nicht ohne Weiteres passieren. Innertextuell werden Sentenzen oder sentenzähnliche Sätze relativiert durch die enge Verzahnung mit dem Plot und durch die Bindung der Sätze an Figurenrede oder Erzählstimme, also an Verfahren der Fiktionalisierung. Wo diese narrative Schließung nachlässt, marginalisiert wird oder gar ganz verschwindet, dominiert die Selbstreflexivität der Sätze – Selbstreflexivität verstanden einerseits als Subjektivierung (Ich-Bezug) und als Thematisierung der Sätze im Satz andererseits. Mit anderen Worten: Es dominieren dann Ich-Sätze und Satz-Sätze. Das ist tendenziell in den drei Meßmer-Büchern der Fall und tritt in den Publikationen des späten Walser immer stärker hervor. Vor allem Statt etwas oder Der letzte Rank (2017) kann in dieser Hinsicht als groß angelegte und programmatische Satzmeditation angesehen werden.

Diesen späten Walser sah ich übrigens zuletzt im April 2019, auf einer Tagung, die aus Anlass von Arnold Stadlers 65. Geburtstag in Messkirch stattfand. Stadler, der Walsers Poetik des Satzes weiterentwickelt und zumindest in seinem Frühwerk mit Verfahren grotesker Komik gekoppelt hat, hatte den Freund und frühen Förderer gemeinsam mit Literaturwissenschaftler:innen und befreundeten Schriftsteller:innen eingeladen. Walser betrat abends, nach einer stattlichen Reihe beeindruckender Vorträge, in Begleitung seiner Frau und drei seiner Töchter in den Saal. Aus dem Auditorium heraus gesehen schien er starr und teilnahmslos. Als er jedoch aufs Podest gebracht wurde, um dort mit den anderen anwesenden Autor:innen zu lesen, war es, als hätte man ihn an eine externe Energiequelle angeschlossen. In seiner Rede war es plötzlich wieder da, das typisch Walsersche Temperament, das ich von der Lesung in Freiburg bestens in Erinnerung behalten hatte. Der Autor, der trotz der von ihm postulierten existenziellen Relevanz von Literatur zeitlebens ebenso darauf hingewiesen hat, dass man sich dennoch deren Wirkung „nicht klein genug vorstellen“[29] könne, ließ das Publikum zum Zeugen der vitalisierenden Intensität von Literatur werden.

Ob es wirklich Walser gewesen ist, der mir irgendwann in den späten 1980ern radfahrend im Rückspiegel erschienen ist, werde ich niemals erfahren (obwohl ich mir ganz sicher bin, deutlich seine Augenbrauen erkannt zu haben). Vielleicht ist das gar nicht weiter tragisch. Wie heißt es in Ein springender Brunnen (wo es unter anderem um ein Wunder geht)? „Jetzt sagen wir, dass es so und so gewesen sei, obwohl wir damals, als es war, nichts von dem wussten, was wir jetzt sagen.“[30] Wieder so ein Satz. Kein einfacher diesmal, aber einer, den man trotzdem nicht loswird.

 

 

[1] Geboren wurde ich 1966 in Friedrichshafen, dem damaligen Wohnort Walsers.

[2] Meßmers Gedanken. Frankfurt a. M. 1985. S. 7.

[3] Wer ist ein Schriftsteller? Aufsätze und Reden. Frankfurt a.M. 1979. S. 38.

[4] Der Augenblick der Liebe. Roman. 2. Aufl. Reinbek bei Hamburg 2007. S. 81.

[5] Leben und Schreiben. Tagebücher 1951-1962. Reinbek bei Hamburg 2005. S. 162.

[6] Hierzu grundsätzlich Karl Heinz Bohrer: Der romantische Brief. Die Entstehung ästhetischer Subjektivität. Frankfurt a. M. 1989. S. 17 u. passim.

[7] Wer ist ein Schriftsteller? S. 13 u. 18.

[8] Die Verwaltung des Nichts. Aufsätze. Reinbek bei Hamburg 2004. S. 155.

[9] Peter Sloterdijk: Zur Welt kommen – zur Sprache kommen. Frankfurter Vorlesungen. Frankfurt a. M. 1988. S. 119f.

[10] Vgl. Jörg Magenau: Martin Walser. Eine Biographie. Reinbek bei Hamburg 2011 (Rowohlt Digitalbuch).

[11] Die Anselm-Kristlein-Trilogie. Bd. 2: Das Einhorn. Frankfurt a. M. 1981. S. 150.

[12] Ebd. S. 7. Auch wenn mit „Dividuum“ die in der Literaturwissenschaft mittlerweile selbstverständliche Unterscheidung zwischen Autor, Erzählstimme und Figur mitgemeint ist, kann diese „Selbstvervielfältigung in literarischen Möglichkeiten“ als Effekt der permanenten Selbstbeobachtung im Distanzmedium Schrift angesehen werden. Detlef Kremer hat das u.a. am Beispiel Franz Kafkas und Henri Frédéric Amiels vorgeführt. Vgl. Detlef Kremer: Kafka, die Erotik des Schreibens. Schreiben als Lebensentzug. 2., verb. Aufl. Bodenheim 1998. S. 122f.

[13] Die Anselm-Kristlein-Trilogie. Bd. 1: Halbzeit. Frankfurt a. M. 1981. S. 83.

[14] Tod eines Kritikers. Roman. Frankfurt a. M. 2002. S. 218.

[15] Die Anselm-Kristlein-Trilogie. Bd. 1: Halbzeit, S. 67.

[16] Der Augenblick der Liebe, S. 45.

[17] Ebd. S. 20.

[18] Statt etwas oder Der letzte Rank. Reinbek bei Hamburg 2017. S. 11.

[19] Hierzu Umberto Eco: Two Problems in Textual Interpretation. In: Poetics Today 2.1a (1980), S. 145-161, hier S. 153ff.

[20] Vgl. Dieter Harmening: Wörterbuch des Aberglaubens. Stuttgart 2005. S. 73f.

[21] Leben und Schreiben, S. 344.

[22] Wer ist ein Schriftsteller? S. 98.

[23] Hierzu Jean Leclercq OSB: Wissenschaft und Gottverlangen. Zur Mönchstheologie des Mittelalters. Düsseldorf 1963. S. 86. Außerdem Pierre Hadot: Philosophie als Lebensform. Antike und moderne Exerzitien der Wahrheit. 2. Aufl. Frankfurt a. M. 2005. S. 48ff., und natürlich Michel Foucault: Hermeneutik des Subjekts.  Vorlesungen am Collège de France (1981/82). Frankfurt a. M. 2004.

[24] Tod eines Kritikers. S. 215.

[25] Michaela Puzicha OSB: Lectio divina – Ort der Gottesbegegnung. In: Erbe und Auftrag. Monastische Welt 87.3 (201), S. 245-263, hier S. 261. Außerdem neuerdings Niklaus Largier: Spekulative Sinnlichkeit. Kontemplation und Spekulation im Mittelalter. Zürich 2018.

[26] Aus dem Wortschatz unserer Kämpfe. Szenen. Mit 16 Graphiken von Peer Wolfram. Stierstadt im Taunus 1971. S. 12 u. 16.

[27] Vgl. Clemens Ottmers: Rhetorik. 2., aktual. u. erw. Aufl. Stuttgart, Weimar 2007. S. 198.

[28] Die Verwaltung des Nichts, S. 15.

[29] Ebd. S. 51.

[30] Ein springender Brunnen. Roman. 6. Aufl. 1999. Frankfurt a. M. 1999. S. 9