Generation Mental Health: Namibias Jugend zwischen Traditionen, Erwartung und Identitätssuche
Beauty Boois macht in ihrem Roman „ǀNamgu’s Escape Theory“ ein Tabu zum Thema
Von Julia Augart
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseBeauty Boois’ Debütroman INamgu’s Escape Theory erzählt die Geschichte von ǀNamgu, einer jungen namibischen Frau, die einerseits ein sehr modernes und selbstbestimmtes Leben führt und sich andererseits immer wieder mit Zweifeln und ihrer eigenen Unsicherheit auseinandersetzen muss. ǀNamgu, Anfang 20, teilt sich eine Wohnung mit Sophia, in der sie nach dem Umzug von Südafrika in die namibische Hauptstadt Windhoek schnell eine beste Freundin gefunden hat, die nach der gemeinsamen Schulzeit wie eine Schwester ist und sie auch darin bestärkt, entgegen dem Wunsch ihrer wohlhabenden und erfolgreichen Eltern, nicht Jura oder Medizin zu studieren, sondern Kunst und Psychologie.
Sophia ist anders als ǀNamgu – laut, selbstbewusst und freiheitsliebend und eine, die sich nimmt, was sie möchte, und der die gesellschaftlichen Erwartungen und der damit verbundene Druck nichts ausmachen. Sophia genießt das Leben, liebt Partys und hat immer wieder kurze Beziehungen und Affären mit Männern wie Frauen. ǀNamgu hingegen ist das genaue Gegenteil, sie lebt enthaltsam und ihr Freund Tangeni, der sehr religiös ist und sich in der kirchlichen Jugendarbeit engagiert, respektiert, dass sie keinen Sex vor der Ehe möchte. Sie ist zurückhaltend und konzentriert sich auf ihr Studium, das sie sehr gewissenhaft und mit Bestnoten verfolgt. Doch eines Tages – kurz vor den Abschlussexamen – lässt sie sich von Sophia zu einer Party überreden, betrinkt sich dort und wird von einem Studienkollegen, den sie immer wieder abgewiesen hat, vergewaltigt. Es folgen ein Suizidversuch, Depressionen und eine Therapie in einem Zentrum außerhalb von Windhoek. Der Weg ist beschwerlich und lang, aber ǀNamgu kommt letztendlich zu dem Punkt, an dem sie erkennt, was an ihrer „Escape Theory“ fehlerhaft war: Sie wollte nicht sterben, aber sie hatte Angst vor dem Leben. Und die Angst hatte sie sozusagen verschluckt.
ǀNamgus Geschichte beginnt mit dem ersten Tag an der Uni in Windhoek und entfaltet sich chronologisch bis zum Ende ihrer Therapie und einem Neuanfang. Der Roman bietet immer wieder Einsichten in die Gedanken der verschiedenen Figuren, die sich mit vielen direkten Dialogen und Gesprächen abwechseln, in denen sich die gesellschaftliche Situation und auch die Erwartungen, an denen ǀNamgu zerbricht, widerspiegeln. Insbesondere die Darstellungen ihrer Gefühle zeigen schon früh Anzeichen von Depressionen. Die Dialoge mit ihren Freundinnen sind versetzt mit umgangssprachlichen und anderssprachlichen Ausdrücken und fungieren so als authentisches Abbild der namibischen Mehrsprachigkeit und Sprachvermischung.
In der Darstellung von ǀNamgus Leben wie auch Therapie wird deutlich, dass nicht nur die Vergewaltigung – leider kein seltenes Verbrechen in Namibia, für das oft noch immer Frauen verantwortlich gemacht werden – der Grund für ihre Depression bzw. ihren Selbstmordversuch ist, sondern auch die Erwartungen, die von den Eltern und der Gesellschaft an sie gestellt werden. Sie widersetzt sich diesen zwar – in der Wahl ihres Studiengangs – aber kann sich von den Zwängen nicht frei machen. Sie sieht und spürt immer wieder die Enttäuschung der Eltern, die Tante rät ihr, noch auf Jura zu wechseln, um dadurch auch einen reichen Mann zu finden und sich zu versorgen. Ihre Schwester, die als Erstgeborene alle Wünsche der Eltern erfüllt – Medizinstudium, guten Ehemann und Kinder –, ist ihr nicht nur fremd, sondern lehnt ǀNamgus Leben und die Freundschaft mit Sophia ebenso ab. Erst während der Therapie beginnt die Familie ǀNamgu zu akzeptieren und zu respektieren und ermöglicht damit für ǀNamgu ein Weiterleben und eine Zukunft.
Anfangs scheint ǀNamgus Leben sich nicht sehr von dem anderer junger Frauen in der westlichen Welt zu unterscheiden, wären da nicht immer wieder die Hinweise auf die Traditionen und die Erwartungen, die auf ihr lasten. So fehlen ihr, als Tochter schwarzer, erfolgreicher Eltern in Namibia, die althergebrachten Traditionen. Sie spricht die Sprache ihrer Familie kaum noch, und die Eltern, die sich hochgearbeitet haben, haben die Erwartung, dass die Kinder ebenfalls erfolgreich sind und Karriere machen. Wie sehr die elterlichen Erwartungen oder auch das Fehlen der Eltern die Kinder beeinflussen, wird auch an den Biografien von Sophia und ǀNamgus Vergewaltiger deutlich. Der Roman zeigt zudem auf, dass psychische Erkrankungen im urbanen Windhoek häufig noch immer als Krankheit der Weißen und nicht als zunehmendes Problem in afrikanischen Gesellschaften gesehen werden. Wenngleich einige Darstellungen oberflächlich bleiben, da die Figuren nur kurze Ausschnitte ihrer seelischen Disposition zeigen, so erlauben sie doch einen Einblick in die junge Generation Namibias, ihre Suche nach Freundschaft und Beziehungen, Identität und Sexualität. Der Roman thematisiert aber auch ein namibisches bzw. afrikanisches Tabu, nämlich psychische Erkrankungen wie Depressionen, Traumata und Suizidalität sowie deren psychotherapeutische Behandlung und Heilung.
Der Roman von Beauty Boois, die Psychologie studierte und als „Wellness Counsellor“ arbeitet, schließt mit Hinweisen auf Beratungsstellen und Therapiemöglichkeiten in Namibia sowie mit Informationen und Hinweisen zu Depressionen und Suizid. Es ist zu hoffen, dass viele junge Menschen – nicht nur in Namibia – diesen Roman lesen, um damit Hilfe zu bekommen. Sie können anhand der Geschichte lernen, dass Depressionen oder auch Suizidgedanken keine Tabus sein dürfen, sondern dass es Zeichen unserer gesellschaftlichen Umbrüche sind, die man nicht verschweigen, sondern thematisieren muss und bewältigen sollte.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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