Gegenentwürfe zur algorithmisch modellierbaren Realität

Philipp Schönthaler über die Automatisierung des Schreibens

Von Ulrich KlappsteinRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrich Klappstein

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Informationstheoretiker Claude E. Shannon (1916–2001) befasste sich in den 50er Jahren in seinen Studien zu einem Printed English mit der Berechnung von Auftrittswahrscheinlichkeiten von Buchstabenabfolgen wie „XFOML RXKHRJFFJUJ“, die sich mithilfe von mathematisch-statistischen Modellen erzeugen lassen. Doch sein Buchstabenmaterial entnahm er aus schon vorliegenden Romanen. Den umgekehrten Weg ging die angehende amerikanische Schriftstellerin Gertrude Stein (1874–1946): schon in den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts hatte sie Experimentalanordnungen entworfen, um wie in einem Labor Techniken literarischen Schreibens zu erproben. 

Beide haben – wenn auch jeder auf seine eigene Weise – großen Einfluss auf die sich entfaltenden Diskussion um die „Automatisierung“ des Schreibens gehabt. Gertrude Stein wurde mit ihren experimentellen Romanen, Novellen und Gedichten für vielen Autoren der Moderne stilprägend, Claude Shannon fand Nachfolger in der Computertechnologieforschung, die sich mit dem Problem beschäftigten, wie sich (literarische) Texte vom Computer herstellen lassen können.

Diese bis heute andauernde Diskussion entstand vor dem Hintergrund der Abkehr vom literarischen Realismus des 19. Jahrhunderts, griff modernistische Schreibweisen auf und bot Raum für die unterschiedlichsten Avantgardebewegungen, eine Linie, die sich über Stéphane Mallarmé bis zu Albert Camus oder Alain Robbe-Grillet ziehen lässt. Schon in den Werken von James Joyce und Samuel Beckett waren die Anwendungen von spezifischen Techniken und Automatismen des Schreibens nachweisbar.

In jüngster Zeit macht eine computergenerierte Literatur von sich reden, die sich zwar auf einige der genannten Vorläufer und eine „Poetik“ der Avantgarden berufen kann, die gleichzeitig aber einen Bruch markiert: Anstatt zur Literatur „hinzuzutreten“ oder sie „fortzuführen“, formt sie das gesamte literarische Feld „von Grund auf um“. Dies ist zumindest die Ausgangsthese des in Berlin lebenden Schriftstellers Philipp Schönthalers (geb. 1976).

Die „Mechanisierung der Schreibhand“ – die Gesamtheit der historischen, technologischen und kulturellen Voraussetzungen einer scheinbar unaufhaltsamen Entwicklung – ist das Thema seiner umfangreichen Monografie, die nun im Verlag Matthes & Seitz erschienen ist. 

Der Anstoß für seine ambitionierte Studie fiel in seine Mainzer Poetikdozentur im Jahr 2018 mit seinem dort gehaltenen Vortrag Gehört die Zukunft des Schreibens den Maschinen? Die initiale Zündung zum Schreiben gaben jedoch Zeitungsberichte aus Nordamerika über eine Software mit dem unscheinbaren Namen „GPT-3“, die schlagzeilentauglich versprachen, dass nun mittels der „Generative Pretrained Transformer“-Software in der dritten Generation computergestützt Kurzgeschichten, Songtexte, Harry-Potter-Fortsetzungen oder sogar juristisch korrekte Abhandlungen erstellt werden könnten.

Gestützt auf weitere einschlägige Publikationen, die im Anmerkungsapparat und in der umfänglichen Biographie dokumentiert werden, setzt sich Schönthaler mit diesen Entwicklungen detailliert auseinander. Aber im Gegensatz zu den amerikanischen „Neoavantgarden“ und ihrem fast ungetrübten Pragmatismus zeichnet er auch gegenläufige, wenn auch inzwischen historisch gewordene europäische Gegenbewegungen nach, vertreten etwa durch den deutschen Philosophen, Wissenschaftstheoretiker und Schriftsteller Max Bense (1910–1990). Dessen bis heute nachwirkende Theorien bezogen sich nicht nur auf die neu entstandene Kybernetik und Informationstheorie, sondern auch auf Semiotik und Ästhetik. Bense ging es um die „anthropologische Differenz“ zwischen Mensch und Maschine und um die Beschreibung von Kommunikationsbedingungen für das anbrechende Computerzeitalter. Schönthaler zeigt auf, dass sich – quasi nebenher – eine computerbasierte Literatur immer mehr dem „Regime algorithmischer Regeln“ unterworfen hat, materialisiert etwa in Computerprorammen und deren zugrunde liegenden Programmiersprachen, die zu einem eigenständigen, ästhetischen Akt aufgewertet würden, in der Hoffnung, dass die Generierung von Texten in einem arbeitsteiligen Prozess zunehmend an Maschinen delegiert werden könne.

Hier also meldet Schönthaler insofern Skepsis an, als derzeit einem Computercode sowohl die semantische als auch die pragmatische Dimension gesprochener und geschriebener Sprache noch fehle. Allerdings werde es immer schwieriger, die menschliche Rede von formalsprachlichen und (computer)logischen Notationen zu unterscheiden: „Die Neudefinition des literarischen Schreibens, das rechenmaschinenkompatibel ist, lässt eine gewaltige Begriffsarbeit notwendig werden.“ Dieser Begriffsarbeit unterzieht sich Schönthaler auf annähernd 500 Seiten und verlangt damit seiner Leserschaft ein manchmal kleinschrittiges Nachvollziehen ab.

Zwar ist er darum bemüht, große Linien und Zusammenhänge aufzuzeigen, besonders die Ergebnisse der sog. Stuttgarter Schule oder der Wiener Gruppe, doch droht dies bisweilen an der Verwendung eines technizistischen Vokabulars zu scheitern, da es sich laut Buchtitel ja auch nur um „Gegenprogramme“ handelt. Das vorliegende Buch ist fast ausschließlich ein „Sachbuch“ und der dritte, vorerst letzte Band von Schönthalers Publikationsreihe Leben und Dienste, die er 2017 mit dem Erzählband Vor Anbruch der Morgenröte begonnen und mit dem Roman Der Weg aller Wellen im Jahr 2019 fortgesetzt hatte.

Das letzte Kapitel seiner nun vorgelegten Monografie plädiert immerhin für eine „kritische Poetik der Verknüpfung“ und selbstkritisch merkt er an: „Das Schreiben kennt […] kein einheitliches Programm, zu dem sich die einzelnen Wort- und Satzverknüpfungen in ein Ableitungsverhältnis setzen ließen“. Viele Leser werden deshalb nach Kenntnisnahme seines Aufrisses vom „automatisierten Schreiben“ wohl doch eher zu Schönthalers „händisch“ erzeugten Prosawerken greifen wollen, die auf Entscheidungen beruhen, welche „qualitativen Kriterien gehorchen“, sodass „die Verknüpfungen schlecht, gut, schlüssig oder triftig“ sind, „aber niemals einfach schalt- oder statistisch ableitbar sind“ – eben gute Literatur, die ästhetischen Erwägungen einen Vorrang einräumt, solange humane Leser den Unterschied zwischen Subjektivität oder Autorschaft jenseits von formalsprachlichen und programmierten Befehlsketten noch zu erkennen vermögen.

Titelbild

Philipp Schönthaler: Die Automatisierung des Schreibens. & Gegenprogramme der Literatur.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2021.
600 Seiten, 34,00 EUR.
ISBN-13: 9783751803410

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