Schlucken Sie doch Glassplitter!

Ein unheimliches Graffito, ein Finanzbetrüger und eine Frau, die ihren Körper gegen ein Luxusleben tauscht: Emily St. John Mandels neuer Roman „Das Glashotel“

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der neue Roman von Emily St. John Mandel beginnt Ende der Neunziger und endet erst im Jahr 2029. Er spielt in Toronto, New York, Nizza und Dubai und springt zwischen seinen Charakteren ebenso hin und her wie durch Raum und Zeit. Doch in seinem Zentrum steht eine Schicksalsnacht im Frühjahr 2005 in einem Luxushotel an der kanadischen Westküste. Dort entdeckt der schockierte Nachtmanager Walter ein rätselhaftes Graffito: „Schlucken Sie doch Glassplitter“ steht plötzlich ans Fenster der Lobby geschrieben.

Wer die Worte geschrieben hat, ist rasch klar; es war Paul, der Nachtdiener, der entschuldigend etwas von Schulden murmelt und umgehend entlassen wird. Doch was es mit dem Spruch auf sich hat und für wen er bestimmt war, wird erst etliche hundert Seiten später klar, als dieselbe Nacht noch einmal aus einer anderen Perspektive erzählt wird. Das ist typisch für die verschachtelte Erzählweise der kanadischen Autorin, deren Roman wie ein raffiniertes Mosaik wirkt, das von den Leser:innen erst zusammengesetzt werden muss – die Lektüre als Puzzlespiel also.

Paul, eigentlich ein drogenabhängiger Möchtegern-Komponist, ist eine der beiden nomadenhaften Hauptfiguren, die andere ist seine Halbschwester Vincent, die in dieser Nacht an der Bar arbeitet. Auch das Leben der Mittzwanzigerin wird nach dieser Nacht ein anderes sein, weil sie von einem Multimillionär namens Jonathan Alkaitis das Angebot erhält, seine „Vorzeigefrau“ zu werden. Die Scheinehe liefert dem Verwalter von etlichen Milliarden Dollar an Kundengeldern den „Anschein von Beständigkeit“; der jungen Frau ermöglicht das „Abkommen“, wie sie es nennt, im Gegenzug ein märchenhaftes Leben im „Königreich des Geldes“.  

Ein fairer Deal, wie Mandels Protagonistin findet. Zumal sich die abgebrühte Vincent im Unterschied zu den meisten anderen Figuren im Roman nichts vormacht. Ein Mann wie Alkaitis kann nur ein Schwindler sein, auch wenn die junge Frau vom wahren Ausmaß des Betrugs keine Ahnung hat. Denn in Wahrheit betreibt Alkaitis ein gigantisches Schneeballsystem, in dem jeder neue Dollar in die fantastischen Ausschüttungen der übrigen Anleger fließt. Von ihnen lassen sich Künstler und pensionierte Richter ebenso blenden wie Stiftungen oder Pensionsfonds. Auch das schicke, nur mit einem Motorboot zu erreichende Hotel mitten im kanadischen Nirgendwo ist nur eine Fassade, eine gläserne Falle, die beeindrucken soll, um neue Kunden zu gewinnen.

Die 42-jährige Kanadierin Mandel wurde vor sechs Jahren mit ihrer Dystopie Das Licht der letzten Tage bekannt, in der die Menschheit hellsichtig von einem neuen Virus heimgesucht wird. Ihr neuer Roman schaut dagegen zurück in die Jahre der Finanzkrise 2007/2008: Der Finanzbetrüger Jonathan Alkaitis ist nach dem Vorbild von Bernie Madoff gezeichnet; wie dieser wird auch Alkaitis nach dem Zusammenbruch seines Schwindels zu einer astronomischen Gefängnisstrafe verurteilt. 170 Jahre soll er absitzen; am Ende suchen ihn die Gespenster all jener Investoren heim, die der Ruin in den Selbstmord trieb.

Dass Alkaitis sein Leben hinter Gittern beenden wird, verrät der Roman übrigens früh und ebenso, dass Vincent Jahre später im Meer ertrinken wird. In Das Glashotel mischt sich immer wieder die Zukunft ein, etwa in Form von Vorausdeutungen. Oder die nicht gelebte Vergangenheit meldet sich zu Wort. Denn konfrontiert mit den Konsequenzen ihrer Entscheidungen, flüchten sich Mandels Figuren gern in sogenannte „Gegenleben“, in denen sie, natürlich, alles besser gemacht hätten.

Verwirrspiele mit der Zeit sind insofern passend, als ja auch Alkaitisʼ Investoren ihr Geld schon lange vor dem Zusammenbruch verloren haben, sie wissen es nur noch nicht. Und dass man etwas wissen und zugleich nicht wissen könne, ist eine Erklärung, besser gesagt Ausrede, mit der sich Alkaitisʼ Mitarbeiter später vor Gericht um Kopf und Kragen reden. Emily St. John Mandels Das Glashotel ist ein brillant komponierter Roman über Verführung, fatale Lebensentscheidungen und nicht zuletzt über die Macht der Selbsttäuschung.

Titelbild

Emily St. John Mandel: Das Glashotel.
Aus dem Englischen von Bernhard Robben.
Ullstein Verlag, Berlin 2021.
395 Seiten , 23,00 EUR.
ISBN-13: 9783550201820

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