Vom Eurozentrismus zum Postkolonialismus?

Erläuterungen von Hans Christoph Buch

Von Michi StrausfeldRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michi Strausfeld

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In den Nullerjahren beschäftigte sich die Öffentlichkeit verstärkt mit dem Eurozentrismus, wenngleich unzureichend und oft aus einer verunsicherten oder sozialromantischen Perspektive. Hans Magnus Enzensberger hatte schon 1989 in seinem Band Ach Europa. Wahrnehmungen aus sieben Ländern aufgezeigt, wie fest dieser Gedanke in unserem Alltag verwurzelt ist.

Zwanzig Jahre später steht nun der Postkolonialismus im Zentrum der Aufmerksamkeit, und noch immer lässt sich eine Perspektive der Verunsicherung und angestrengter Bemühungen feststellen, um neue Erkenntnisse zu erlangen – im Zuge der vielen neuen Be- und Empfindlichkeiten, hat sich die Problematik weiter verschärft. Die akademische Welt behandelt sie in vielen Disziplinen, und Hans Christoph Buch steuert seine Erfahrungen bei, sozusagen als „Feldstudien“.

Buch hat sich immer mit diesen Themen befasst. Er ist sicher der meistgereiste deutsche Autor, hat vor Ort seine Beobachtungen gemacht und sie dann aufgeschrieben: es sind aufrüttelnde, erhellende und beeindruckende Reportagen, die die Leser mitnehmen nach Afrika, Asien, Lateinamerika und immer wieder nach Haiti, diesem geschundenen Land, dem sich der Autor aufgrund familiärer Beziehungen besonders verbunden fühlt: sein deutscher Großvater war Apotheker in Port-au-Prince, seine Großmutter Haitianerin.

Auf seinen zahllosen Reisen, geprägt von grenzenloser Neugier und vermutlich auch Abenteuerlust, hat der Autor immer wieder lebensbedrohende Erfahrungen gemacht. Seine Erlebnisse, Gedanken und Analysen hat er in diversen Zeitungen publiziert – versammelt sind sie in bislang zwei Bänden aus den Jahren 2004 und 2022.  

Während er sich in der Einleitung zum ersten Buch Standort Bananenrepublik die Frage stellte: „Wer oder was ist postkolonial?“  lautet der Vorspann zum zweiten: „Rassismus und kein Ende?“. Er greift auf die unvergesslichen Eindrücke zurück, die er bei seinem ersten Besuch in Haiti 1968 als „Weißer“ in einem „schwarzen“ Land erfuhr: 

Ich meine das schwer definierbare Gefühl als Weißer durch die Straßen von Port-au-Prince zu laufen, angestaunt von schwarzen Kindern und verfolgt von selbsternannten Guides, die mir den Weg zum nächsten Hotel oder Bordell zeigen wollen. ‚Blanc, ba‘m youn dola‘ – ‚Weißer, gib mir einen Dollar!‘ Der Ruf gellt mir noch jetzt in den Ohren.

Der neue postkoloniale Diskurs steht seiner Meinung nach häufig im Widerspruch zu akademischen Erkenntnissen. Das hat er selbst auf vielen Reisen festgestellt, wie man in diesen Texten nachlesen kann. 

Im Band Nächtliche Geräusche nimmt uns der Autor mit nach Südafrika, Guinea oder Nigeria und erinnert dabei an die Berliner Kongo-Konferenz, an Kaiser und Reich und verweist auf die grausamen Folgen dieser Aufteilung des Kontinents. Er erweitert seine Impressionen durch einschlägige Lektüre im Kapitel Literarischer Exkurs, bevor er uns dann in die Traurigen Tropen einlädt, nach Mauritius, Suriname, Kuba und natürlich nach Haiti. Buch fragt sich, ob es Gemeinsamkeiten in der Karibik gibt und hält fest „Kehrseite der materiellen Armut Haitis wie der Karibik insgesamt ist ihr kultureller Reichtum, der Staats- und Sprachgrenzen überschreitend … zu besichtigen ist“. Das gilt insbesondere für Musik und Tanz, aber auch für Kunst, Malerei und Skulptur. 

Eine Kurze Geschichte des Voodoo-Kults klärt einige Missverständnisse, die vor allem in Deutschland auf die Lektüre von Hubert Fichte zurückgehen. Auch hier schöpft der Autor seine Erkenntnisse durch Studium und auch eine persönliche Initiationserfahrung. Sein Fazit: „Haitianischer Voodoo ist ein LSD-Trip ohne LSD, der als Horrortrip enden kann“. 

Der letzte Teil, Kreuz des Südens, führt nach Managua und Paraguay, und dazwischen steht ein Text über die Expedition von Prinz Maximilian zu Wied-Neuwied in Brasilien 1815–1817. Buch beschäftigt sich mit dem unbekannt gebliebenen Hofjäger und Tierpräparator der Gruppe, der Nächtliche Geräusche im Dschungel beschreibt. Sie sind für den Leser eine vergnügliche Lektüre – und eine sichere Erkundung des Dschungels aus der Ferne.

Man möchte melancholisch den Seufzer von Hans Magnus Enzensberger wiederholen: Ach, Europa! Das Verhältnis von Europa und der früher als Dritten Welt bezeichneten Kontinente Asien, Afrika und Lateinamerika ist von so viel historischem Unrecht und aktueller Ungerechtigkeit geprägt, dass man sich nur schwer Lösungen aus der toxischen Problematik vorstellen kann. Texte wie die von Hans Christoph Buch schärfen in jedem Fall das Bewusstsein für viele soziale Missstände und persönliche Nöte, und sie wecken Empathie: notwendige Voraussetzungen für ein allmähliches Umdenken unseres Eurozentrismus.

Titelbild

Hans Christoph Buch: Nächtliche Geräusche im Dschungel. Postkoloniale Notizen.
Transit Buchverlag, Berlin 2022.
192 Seiten , 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783887473891

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Hans Christoph Buch: Standort Bananenrepublik. Streifzüge durch die postkoloniale Welt.
zu Klampen Verlag, Springe 2004.
206 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-10: 393492042X

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