Was ist eigentlich Philosophie?

Karen Gloys Studie „Das Projekt interkultureller Philosophie aus interkultureller Sicht“ überdehnt den Philosophiebegriff

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Schon seit längerer Zeit zensiert China nicht nur die Kommunikation in sozialen Netzwerken, sondern sperrt zudem alle missliebigen Webseiten. Russland überbietet das seit seinem Überfall auf die Ukraine sogar noch nach Kräften. Da wirkt es aus der Zeit gefallen, wenn Karen Gloy ihr Plädoyer für eine interkulturelle Philosophie mit der Feststellung eröffnet, „jede Person an jedem Ort der Erde“ könne „zu jeder Zeit in Echtzeit mit jeder anderen kommunizieren, Sachverhalte erkunden und Daten und Informationen abrufen“, denn „[g]rundsätzlich“ stehe „jedem Internet-User alles gleichzeitig und gleichberechtigt zur Verfügung“. Dabei sollte jemandem, der Interkulturalität so hoch hält wie die Autorin, bewusst sein, dass es nicht überall so zugeht wie im liberalen Westen.

Gloy nennt vier „mögliche Methoden der interkulturellen Philosophie“, um die jeweils fremden Kulturen zu erschließen: „erstens die komparative bzw. komparatistische Philosophie, zweitens der Polylog, drittens die Transkulturalität und viertens das Ein- und Einsfühlen“. Schon hier wird deutlich, wie umfangreich und damit inhaltsleer ihr Philosophie-Begriff ist. Vielleicht noch klarer wird dies, wenn Gloy darlegt, dass afrikanische Philosophie „in der Sammlung von Lebensweisheiten, Sprüchen und Mythen [besteht]“, die sich aufgrund einer fehlenden „Schriftkultur“ „eher in der Kunst ausdrücken“. Ihr „Programm der interkulturellen Philosophie“ geht sogar soweit, indirekt zu behaupten, dass auch unbewusst Philosophie betrieben werden könne. Denn es besagt, „dass alle Kulturen in irgendeiner Weise Philosophie treiben“, sei es nun „bewusst oder unbewusst“.

Gloy wirft denn auch selbst die Frage auf, ob ihr „Philosophiebegriff zu sehr ausgedehnt [wird] auf alles, was in irgendeiner Weise methodisch verläuft“, und beantwortet sie mit dem Hinweis, dass „viele Manifestationen in anderen Kulturen ab[ge]werte[t]“ würden, würde man ihnen das Prädikat philosophisch verweigern. Ein offensichtlich wenig tragfähiges Argument. Denn warum sollte der ‚Wert’ einer bestimmte Zugangsweise zu Welt und Dasein allein darum herabgesetzt werden, weil sie nicht als philosophische gilt. Werden Literatur, Musik und bildende Kunst abgewertet, weil sie keine Philosophie sind? Wohl kaum.

Mit Gloys weitem Philosophiebegriff geht zudem ein nicht ungefährlicher Kulturrelativismus einher, der etwa die allgemeinen Menschenrechte mit dem Argument infrage stellt, dass sie den „Stempel westlicher Werte tragen[.]“. Unter Verweis auf die sogenannte islamische Menschenrechtserklärung von Kairo, die auf der Scharia fußt und bei der es sich demzufolge tatsächlich eher ein Katalog von Pflichten handelt, konstatiert Gloy weiter, dass die „Version[en] der Menschenrechte  […] alle historisch kontingent sind, und nur für eine bestimmte Gruppe von Menschen und zu einer bestimmten Epoche gelten, aber keine zeitlosen, universell für alle Menschen geltenden Rechte sind“. Damit aber sind sie eben keine Menschenrechte, die nämlich per definitionem für alle Menschen gelten. Aufgrund ihrer rechtspositivistischen Auffassung spricht Gloy denn auch ganz folgerichtig nur von „sogenannte Menschenrechte[n]“.

Ihrer Auseinandersetzung mit der Frage, ob Philosophie ein „europäisches oder internationales Projekt“ ist, und einer Kritik der ersteren setzt die Autorin eine Definition ihres Verständnisses dessen voran, was Kultur und Kulturtheorien sind. Bei ersterer handele es sich um „die Gesamtheit symbolischer Repräsentationen einer Gesellschaft, die alle Bereiche umfasst“. Das „spezielle[.] Forschungsgebiet“ der Kulturtheorie wiederum untersuche die „strukturellen Differenzen, die sich in den unterschiedlichen Denk- und Sprachstrukturen, Schriftzeichen, der Architektur, der Literatur, der Akzentuierung von Emotionalität und Rationalität […], Gefühlsäußerungen oder Alexithymie u.ä. zeigen“.

Sie selbst macht sich daher für eine „strukturalistische Kulturtheorie“ stark, die davon ausgeht, „dass Kultur durch Präferenz bestimmter allgemeiner wie spezieller Strukturen und Muster charakterisiert ist, die aus der unendlichen Fülle von Möglichkeiten, welche Natur und Geist vorgeben, herausgegriffen werden“. Sie zeichnen sich Gloy zufolge dadurch aus, „dass sie das Überleben einer Gesellschaft in einer bestimmten Gegend der Welt unter bestimmten klimatischen Bedingungen und bestimmten ökologischen Voraussetzungen gestatten“. Diese Strukturen, so die Autorin weiter, werden über die Zeiten hinweg „in rituellen Vollzügen und Handlungen unendlich oft wiederholt“ bis sie „schließlich im Weltbild einer Kultur verankert“ sind.

Im Zentrum von Gloys „Projekt interkultureller Philosophie“ stehen drei unterschiedliche Kulturen: die „abendländische“, die „afrikanische“ und die „fernöstliche“. Andere Kulturen wie etwa diejenige der Inuit nördlich des Polarkreises interessieren sie weit weniger. Die abendländische Kultur basiert Gloy zufolge „auf der Dominanz der Rationalität“, die afrikanische sei hingegen „untergründig durch Magie, Zauberei, Maskenspiel, Symbolik und vor allem durch Rhythmik und Bewegung bestimmt“, während die fernöstliche „stark von einer meditativen Haltung geprägt“ sei. Aufgrund von „Genetik und traditionelle[r] Erziehung“ schwinge der jeweilige „traditionelle kulturspezifische Hintergrund […] auch noch in der Generation der Kindeskinder mit“. Da alle Menschen eine „gemeinsam[e] genetisch[e] Grundlage“ teilten, sei es dennoch möglich, fremde Kulturen „prinzipiell zumindest in Teilen“ zu verstehen. Eben darum, fremde Kulturen zu verstehen, geht es Gloys Projekt interkultureller Philosophie.

Von den drei genannten Kulturen interessiert Gloy sich vor allem für die abendländische, deren Philosophie der Logik sie mit einer besonders ausführlichen Darstellung und Kritik würdigt. So sei etwa der von der abendländischen Logik erhobene „Anspruch auf reine Formalität […] etwas Widernatürliches“.

Auf die anderen beiden Philosophien bzw. deren Welt- und Daseinsbewältigungsweisen geht sie hingegen weniger ausführlich ein und erwähnt etwa, „dass die logischen Operationen in China und Indien gänzlich andere Voraussetzungen und Zwecksetzungen haben als im Westen“. Bekunde diese „ein Interesse an wissenschaftlicher Generalisierung“, so gründeten die „logischen Bestrebungen“ jener „in praktisch ethischer Lebensgestaltung“. Zudem handele es sich bei der „indischen Syllogistik“ nicht um ein „streng logisches Schlussverfahren“, sondern um ein „Analogieverfahren“. Auch gründe „die Entstehung der Philosophie im Osten nicht wie im Westen aus dem Staunen“, sondern in der „Leiderfahrung“. Daher gehe es ihr „nie nur um das reine Denken“.

Neben der (Kritik der westlichen) Logik widmet sich Gloy den jeweiligen „Zeitvorstellungen“ und „Zeittheorien“ der Kulturen sowie der vermeintlich allgegenwärtigen „Kreisstruktur“ in der „unbelebten wie belebten“ Natur, die von den „durch Explosion im Rund gelagert[en Steinen]“ über „Termiten Feenkreise“ bis hin zum „Tages- und Nachtrhythmus“ oder dem „Wechsel von Ebbe und Flut“ reichten. Wobei anzumerken ist, dass die beiden letzteren wohl kaum als kreis-, sondern eher pendelförmig charakterisiert werden könnten.

Unter Bezugnahme auf Gilles Deleuze und Felix Guattari entwickelt Gloy aus der (fernöstlichen) Analogielogik ein nicht-hierarchisches „Rhizom-Denken“, dessen „Logik des Netzwerkes“ die „moderne Fortsetzung der Analogielogik“ sei.

Gegen Ende „charakterisier[t]“ die Autorin „die unterschiedlichen Einstellungen und Verhaltensweisen in Ost und West“ anhand von „vier markante[n] Merkmale[n]“. Im Westen seien diese „das Symbol der Maschine (die Maschinenvorstellung von der Natur und ihren Mechanismus)“, „die erkenntnistheoretische Voraussetzung der Subjekt-Objekt-Spaltung und die damit verbundene Akzentuierung des Ich-Subjekts“,„die Experimentalmethode“ sowie „das Herrschafts-Knechtschafts-Verhältnis“. Dieser Quadriga stehe „in Fernost“„erstens die Kennzeichnung der Natur durch das Tai dji [gegenüber], zweitens das Yin-Yang-Symbol, drittens die Harmonie der Gegensätze, viertens das Wu Wie-Prinzip (das Prinzip des Nichthandelns) und viertens [sic!] der Rückgang in den Ursprung als Leib- und Geistbeherrschung durch Meditation (Versenkung)“.

Gloy erweist sich zwar als Philosophin, die nicht nur in der (post-)aristotelischen Logik bewandert ist, sondern offenbar auch in der fernöstlichen; weniger hingegen in den afrikanischen Welterschließungsweisen. Hier muss sie sogar einmal den Wikipedia-Eintrag „Afrikanische Philosophie“ bemühen.

Letztlich sind ihre Darlegungen auch darum nicht sehr überzeugend, weil ihre Kritik alleine auf die Schwächen der in Europa entwickelten rationalen Philosophie zielt, wohingegen sie selbst die offensichtlichsten Unzulänglichkeiten und Ungereimtheiten der Weltzugangsweisen der beiden anderen Kulturen allzu sehr von Kritik verschont.

Titelbild

Karen Gloy: Das Projekt interkultureller Philosophie aus interkultureller Sicht.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2022.
181 Seiten, 22,80 EUR.
ISBN-13: 9783826075186

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