Literatur an der Taktiktafel

Mit „Literatur verstehen in 77 Schritten“ gelingt Johannes Frey ein Leseratgeber, in dem er den Künstler-Genius entmystifiziert und stattdessen die Erzählmuster der Literatur verständlich erklärt

Von Stefan DierkesRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Dierkes

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Auf YouTube schlummert ein Video des Fußballtrainers Ralf Rangnick. Im ZDF-Sportstudio erklärt er da dem Journalisten Michael Steinbrecher 1998 die damals neuartige Idee der „Viererkette“ an einer Magnettafel. So oder so ähnlich könnte man sich auch einen Fernsehauftritt von Johannes Frey vorstellen, wenn er die Schreibtechniken von Autor:innen beschreibt.

Denn um zu erklären, wie Literatur funktioniert und wie man sie analysieren kann, unterstützt er die Argumente in seinem Buch Literatur verstehen in 77 Schritten wiederholt mit Metaphern aus dem Teamsport: „So wie Ballsportarten in verschiedenen taktischen Varianten […] gespielt werden können, so werden auch für Texte verschiedene Erzählmuster verwendet. Diese geben vor, nach welchen Maßstäben der Text analysiert werden sollte.“ Frey argumentiert dabei anschaulich, dass die Freude an Literatur und Sport gleichermaßen mit der Kenntnis der jeweiligen grundsätzlichen Regeln steige. Wer Sport schaue „und nicht weiß, warum und wozu die Menschen hierhin und dorthin rennen, der verliert wahrscheinlich schnell die Lust daran.“ Das mag übertrieben klingen, denn beispielsweise die wenigsten Fußballfans werden Zugang zu all den taktischen Überlegungen der Trainer:innen besitzen und trotzdem Freude am Zuschauen haben, trotzdem hat Frey Recht damit, dass solche Überlegungen unseren Blick schärfen und wir anders über das nachdenken, was wir sehen.

Die Aufgabe der Literaturanalyse ist, um im Bild zu bleiben, mit der von Trainer:innen zu vergleichen: festzustellen, warum etwas geklappt hat. Wenn es nicht geklappt hat, festzustellen, wie es zu verbessern ist. Einwenden könnte man gegen diesen Vergleich, dass es in der Literatur mitunter hervorragende Ergebnisse entstehen, wenn eben Regeln gebrochen oder überschritten werden, während dies im Sport sanktioniert wird. Der Literaturkritiker James Wood schreibt in seinem Buch Die Kunst des Erzählens dazu: „Der Roman ist der große Virtuose der Ausnahme: Er entwindet sich stets den Regeln, die ihn einschnüren sollen.“ Trotzdem überzeugt Freys uneitle Art, seinem Publikum die Regeln der Literatur zu erklären.

Die 77 Kapitel – oder Schritte – bilden einen Spaziergang durch verschiedene literarische Grundbegriffe, an dessen Ende man befähigt sein sollte, informierter über Literatur zu sprechen. Denn, so schreibt Frey: „Man hat zwar ein grobes Verständnis entwickelt und kann auch sagen, ob einem das Buch gefällt oder nicht; aber warum es einem gefällt, das kann man oft nicht genau benennen. Genau diese Geheimnisse sollen hier erklärt werden.“ Diese „Geheimnisse“ umfassen wichtige Stilmittel der Literatur – Erzählperspektiven, Charakterisierungen, den Aufbau und Ablauf von Dialogen. Der Großteil der Kapitel ist mit Beispielen aus Prosawerken angereichert, nur ein Kapitel am Ende behandelt ausschließlich Elemente der Lyrik.

Die Zahl 77 ist dabei nicht unwichtig, suggeriert sie gleichzeitig Ordnung und Übersichtlichkeit. Die „Listifizierung“ ist kein neues Phänomen, selbst in den mittlerweile zahlreichen Literatur- und Leseratgebern. So hat die Germanistin Nikola Roßbach 2015 in einem Buch 55 Antworten versammelt, warum man überhaupt Literatur verstehen sollte. Johannes Frey hat 2019 in einem Buch für den Reclam Verlag bereits 66 Schritte zum Literaturverständnis angeboten, die er zwei Jahre später in dem hier rezensierten Buch um elf Schritte erweitert. Frey hat Germanistik studiert, über Erzähltheorien promoviert und ist mittlerweile Deutschlehrer am Gymnasium. Daher richtet sich sein Nachschlagwerk vor allem für Oberstufenschüler und -schülerinnen und generell Leseinteressierte, die sich bislang nicht im Studium oder professionell mit Literatur beschäftigen.

Frey ist es zu Anfang wichtig, zwischen Analyse und Interpretation zu unterscheiden, denn nur um erstere geht es ihm. Im Vorwort schreibt er erfreulich selbstbewusst, dass auch der Literaturanalyse „nachprüfbare, zählbare Fakten zugrunde liegen können und sollten“, beispielsweise die Häufigkeit von Wörtern, Wortgruppen oder der Länge von Sätzen, die Perspektive, die Erzählweise oder das Verhältnis von Dialog und Beschreibung. Frey zeigt sich als Formalist, sagt aber auch, dass Literatur nicht auf ihre formalen Bestandteile reduziert werden solle und formale Analyse schwer trennbar von subjektiver Interpretation sind. Er will aber eben die formalen Bestandteile hervorheben und zeigt so den Schreibenden als „Romanfabrikant“ (Wilhelm Raabe), wie die formalen Aspekte Einfluss auf unsere Interpretation ausüben. Deshalb ist die Stilanalyse ebenso wichtig wie die Interpretation, die Kunst des Textverständnis.

Mit dieser Schwerpunktsetzung folgt er insbesondere den Fußstapfen von Richard Taylors Understanding Literature (dem er im Vorwort als Inspiration dankt) und deutschsprachigen Standardwerken der Literaturwissenschaft wie Einführung in die Erzähltheorie von Martinez und Scheffel und dem gleichbetitelten Werk von Monika Fludernik. In den Büchern finden sich ähnliche Schrittfolgen, nur wird bei Frey knapper, pointierter dargestellt, geht es ihm doch darum, die technischen Essenzen der Literatur für ein generell jüngeres Publikum – „gymnasiale Oberstufe und Grundstudium“ – zu kondensieren.

Deshalb ist es teilweise umso ärgerlicher, wenn Frey seinen selbst aufgestellten Regeln widerspricht, beispielsweise wenn er an einigen Stellen in einen moralisierenden Gestus verfällt: „Dieses Buch versucht, auf die zahlreichen Aspekte der Literatur aufmerksam zu machen und zu erklären, was eine Geschichte zu einer gut erzählten Geschichte macht.“ Zwar versucht er mitunter durch Umstellung von Sätzen aus bekannten Werken zu zeigen, wann ein Satz funktioniert und wann nicht, aber ausführlich darzustellen, wann eine Geschichte ‚gut‘ oder ‚schlecht‘ ist, kann er – nachvollziehbarerweise – in den nachfolgenden 77 Schritten nicht. Denn es geht in diesem Buch eben darum, kurz und pointiert verschiedene Schreibtechniken kennenzulernen. Zeit fürs Herumfeilen wie in einem Schreibratgeber bleibt dabei nicht. Warum beispielsweise ein Dialog bei einem bestimmten Roman funktioniert in einem anderen wiederum nicht, erklärt Frey nicht. Wer aber gerade danach in diesem Buch sucht, wird eher enttäuscht werden und in einem Buch wie Die Schlange im Wolfspelz von Michael Maar oder klassischen Schreibratgebern fündig.

Denn das Ziel des Buches ist es, wie der Titel sagt, erst einmal die Grundschritte der Literatur zu erlernen. Dazu zerlegt Frey sie in ihre Einzelteile, um sie unter der Lupe sichtbar und erklärbar zu machen. Das gelingt Frey zum großen Teil durch seine klare, flüssige Sprache, die auf Fachwörter größtenteils verzichtet oder Fachbegriffe zumindest anschaulich erklärt. Wie eben ein Trainer zeigt er uns die Taktiken des Spiels auf, beispielsweise im Schritt 24 zu Wissenden und Unwissenden Figuren. Hier bedient er sich an Textpassagen von Kazuo Ishiguro und der Harry Potter-Serie, um zu erklären, wie unwissende Figuren – oder unwissende Leser – Spannung erzeugen können, wie wissende Figuren unser Weltverstehen strukturieren oder bereits Erzähltes bestätigen oder in Frage stellen können. Frey ermuntert dabei immer wieder, sich mögliche Alternativen vorzustellen, um eine Idee davon bekommen zu können, warum der Satz in dieser Abfolge von Wörtern seinen Weg ins Buch gefunden hat und nicht anders. Immer wieder erinnert er uns dabei, die Wirkungsabsicht der Autor:innen in den Fokus zu nehmen.

Frey schöpft dabei aus einem breiten Fundus von Beispielen und stellt dabei dankenswerterweise Werke aus verschiedenen Generationen gegenüber. So steht F. Scott Fitzgerald neben Cornelia Funke, Werke von Heinrich Heine neben Harry Potter, ohne zu hierarchisieren, sondern lediglich, um aufzuzeigen, welche gemeinsamen literarischen Techniken sich sowohl genre- als auch epochenübergreifend in diesen Erzählungen wiederfinden. So werden Kontinuitäten herausgearbeitet und ein Konflikt zwischen Hoch- und Popkultur beigelegt.

Einzig ärgerlich ist die – durch ein konsequentes Lektorat leicht vermeidbare – in einigen Kapiteln sichtbare Aneinanderreihung von Beispielen, die mehr leere Geste ist als dem Erkenntnisgewinn zu dienen. Bisweilen nennt Frey mehrere Roman-Beispiele zu einem Thema, erwähnt sie aber erklärungslos als funktionierende Beispiele. So bei Schritt 20 Erzählen und Figuren, in dem Frey über die Wechsel von Erzählerstimmen spricht:

Shakespeare verwendet für Epiloge in Komödien gerne Figuren, die hierfür zumindest teilweise aus ihrer Rolle heraustreten und ‚Erzähler werden‘, etwa Prospero in The Tempest (1611), Puck in A Midsummer-Night’s Dream (1598) oder den Clown in Twelfth Night (1601). Bei Brecht ist die Ansprache des Publikums durch Figuren ohnehin Programm.

Wer benötigt diesen Hinweis? Leser:innen der Werke wissen Bescheid und freuen sich über die Gemeinschaft mit dem Autor. Ohne Kenntnis der Werke – und ohne erläuternden Auszug – tritt man auf der Stelle und bleibt fragend zurück. Wenn schon vergleichend, warum dann nicht am Ende jedes Kapitels einen Ausblick auf zwei bis drei weitere Werke inklusive Seitenzahl geben, in denen die gerade besprochene Technik beispielhaft verwendet wird?

Neben diesen kleinen Abwegen stolpert Frey etliche Male ins Feld des Films hinein, obwohl es laut Buchtitel doch um die Literatur gehen soll. Frey bemüht sich zwar in den fünf filmzentrischen Kapiteln die unbestreitbaren Ähnlichkeiten, Differenzen und wechselseitigen Beeinflussungen zwischen Literatur und Film herauszuarbeiten. Die Frage bleibt aber, ob diese Verweise auf das Medium Film nicht einfach in anderen Kapiteln Platz gefunden hätten. Oder wäre man sonst nicht auf die 77 gekommen? Der Fairness halber muss gesagt werden, dass der Verlag auf der Buchrückseite das Buch damit bewirbt, dass Aspekte „von Literatur oder Film griffig erklärt“ werden, allerdings wird dann die Frage laut, warum der Titel lediglich auf Literatur beschränkt bleibt, eine Frage, die wieder eher dem Verlag als dem Autor gestellt werden muss.

Recht hat der Verlag dennoch, denn ‚griffig‘ wird hier erklärt. So schaffen es all die kleinen Ärgerlichkeiten am Ende nicht, den Erkenntnisgewinn von Freys Buch grundlegend zu schmälern. Die Schrittzählmethodik von Frey mag ein Marketing-Trick sein, mit dem Vorhaben, Literatur verstehbar zu machen und übersichtlich zu halten. Dennoch schafft er es, an der Taktiktafel der Literatur etwas Ordnung und Überblick aufs Feld zu bringen und hilft in seiner uneitlen Sprache dabei, die Erzählmuster der Literatur besser entziffern zu können. Noch viel wertvoller ist das Buch vielleicht darin, sowohl Literaturenthusiasten und literaturfernen Menschen, die sich gerne Autor:innen als vom Genius geküsst vorstellen, zu zeigen: Literatur funktioniert zumeist nach bestimmten Mustern; das macht Literatur aber nicht weniger schön, sondern zugänglicher.

Titelbild

Johannes Frey: Literatur verstehen in 77 Schritten.
Königshausen & Neumann, Würzburg 2021.
232 Seiten, 19,80 EUR.
ISBN-13: 9783826071119

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