Wie Frauen sich eine bessere Welt vorstellen

Christiane Wyrwa stellt „Literarische Utopien von Frauen vom 15. bis 20. Jahrhundert“ vor

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dass die Utopien von Männern Dystopien für Frauen gleich kommen können, gehört seit Elaine Hoffman Baruchs 1984 erschienenem Aufsatz Women in Men’s Utopias zu den feministischen Binsenweisheiten. Wie aber sieht es mit Utopien von Frauen aus? Wie ergeht es in ihnen den Männern? Und was ist so toll an den Gesellschaften der Utopistinnen?

Wer sich davon ein Bild machen will, kann nun zu einem zwar eher schmalen, aber umso informativeren Band von Christiane Wyrwa greifen, der verspricht, 25 einschlägige Werke von 22 Autorinnen „in weitgehend chronologischer Ordnung“ zu „präsentieren“.

In einzelnen Kapitel stellt Wyrwa zunächst die jeweilige Autorin vor, um sodann entweder den Inhalt des Buches, gelegentlich aber auch nur einzelne „Ausschnitte oder Kapitel“ zusammenzufassen. Dies ist dann der Fall, wenn es sich bei dem Werk gar nicht um eine Utopie handelt, der Autorin zufolge in ihm aber doch utopische Momente oder Vorstellungen aufscheinen. Kurze Auszüge aus zehn der vorgestellten Utopien sowie eine „Doppelcoda“ vervollständigen den Band. Die älteste der vorgestellten Utopien erschien im „Herbst des Mittelalters“, die jüngsten in der „Nähe der Gegenwart“. Unter ihnen finden sich einige wohl- und einige kaum bekannte. Gemeinsam ist ihnen hingegen, dass sie fast alle in Europa oder Nordamerika erschienen. Eine Ausnahme bildet der 1905 publizierte Roman Sultana’s Dream der Inderin Rokeya Sakhawat Hossain.

Zu Anfang des Utopien-Reigens steht natürlich Christine de Pizans berühmtes Werk Le Livre de la Cité des Dames. Es erschien bereits 1405. Ebenso wenig überraschend folgt Margaret Cavendish mit ihrer 1666 erschienen Description of a New World Called the Blazing World, in der Wyrwa eine „literarische Verbindung von Utopie und voyage imaginaire“ ausmacht. Nicht ganz so bekannt wie die beiden Klassiker weiblicher Utopien ist das dritte vorgestellte Werk. Die Französin Françoise de Grafigny hat es verfasst und 1747 unter dem Titel Lettres d’une Péruvienne publiziert. Der Briefroman ist insofern originell, als er „[d]ie bekannte Situation einer Utopie, dass ein Reisender über Erlebnisse in einem fernen Land berichtet“, umkehrt. Denn die fiktionale Verfasserin der Briefe wurde aus dem Reich der Inka „in die Kulturmetropole Paris gebracht“ und beschreibt ihre ursprüngliche Heimat nun als „gelungene utopische Ordnung, weil der Herrscher verpflichtet ist, für sein Volk zu sorgen“. Damit „verkörpert“ sie Wyrwa zufolge „eine Figur der ‚edlen Wilden’ mit Wertvorstellungen einer gerechten Gesellschaft“.

Grafignys Briefroman folgen mit Sarah Scotts A Discription of Millenium Hall (1762), Sophie von La Roches Erscheinungen am See Oneida (1798) wieder etwas bekannteren Schriften mit utopischem Einschlag sowie Lucy Aikins Epistes on Women (1810). Auch Henriette Frölichs Virginia oder die Kolonie von Kentucky (1820) ist zumindest in interessierten Kreisen keine ganz Unbekannte. In ihrem fiktionalen Eldorado gibt es „keinen Ehrgeiz, keinen Gelddurst, keine Religionsstreitigkeiten und Modetorheiten“. Auch sind „‚alle[.] Unterschied[e] der Farbe, der Heimat, der Bildung […] vernichtet’“. Die BewohnerInnen gelten als „Brüder mit gleichen Rechten und gleichen Pflichten“, wie Wyrwa aus dem Buch zitiert. Auch ist das Privateigentum abgeschafft und „alle Angelegenheiten werden durch Stimmenmehrheit entschieden“. Zudem ist eine „für alle geltende Landestracht der Männer und Frauen“ vorgeschrieben. Diese Formulierung Wyrwas lässt die interessante Frage offen, ob die Geschlechter dieselbe Trachten tragen oder jeweils unterschiedliche.

Frölichs unter dem Pseudonym Jerta veröffentlichter Utopie folgen zwei Werke, deren Aufnahme in den vorliegenden Band denn doch sehr überrascht. Beide wurden sie von der gleichen Autorin verfasst und eines von ihnen dürfte zumindest dem Namen nach zu den bekanntesten Werken der Weltliteratur zählen. Die Rede ist von Mary Shelley und ihrem sowohl als Gothic Novel wie auch als Science Fiction bekannten Roman Frankenstein, Or The Modern Prometheus (1818). Wyrwa stellt ihn vor, weil das „Monster“ eigentlich eine „utopische Anlage“ habe und erst „böse“ geworden sei, nachdem ihm sein Schöpfer die „vermisste Gegenwart einer liebenden Frau“ verwehrt. Bei Shelleys zweitem Zukunftsroman handelt es sich ebenfalls keineswegs um eine Utopie in dem Sinne, dass er „Vorstellung einer nicht verwirklichten, aber denkmöglichen guten Gesellschaft der Menschen“ schildern würde, wie Wyrwa den Begriff Utopie zu Beginn ihres Buches definiert. Das Gegenteil ist der Fall. Shelley hat mit The Last Man (1862) eine ausgemachte Dystopie erdacht, in deren achtem Kapitel Wyrwa allerdings eine „utopische Zukunftsvision“ ausmacht.

Auf Shelley folgt eine ebenso bekannte Deutsche. Denn Bettina von Arnim ist mit Dies Buch gehört dem König (1843) vertreten, dessen Titel das ins Jahr 1807 versetzte fiktionale Gespräch mit Goethes Mutter vor der Zensur bewahren sollte, übt es doch einige Kritik am Preußischen Staatswesen und seiner Rechtsprechung. Ein „Mächtige[r]“ möge „‚in schöner Mäßigung, in vollkommener Geisteserleuchtung und Denkfreiheit den Baum der Gerechtigkeit’ einpflanzen“. Mag sein, dass dies eine utopische Hoffnung ist.

Im Falle von Mary E. Bradley Lanes Mizora. A Prophecy (1880) kann hingegen kein Zweifel bestehen, dass es sich um eine Utopie handelt bzw., dass die Autorin eine solche intendiert hat. Einige ihrer Vorstellungen erscheinen heute allerdings eher als dystopisch. Zu den Elementen, die noch immer als utopisch gelten können, zählt, dass alle Menschen in Mizora „gleich geboren“ sind. „[E]s gibt keine Arme, wohltätige Unterstützung und sogar Gesetze werden in dieser aufgeklärten Gesellschaft nicht benötigt“. Außerdem werden alle Arbeiten von Maschinen erledigt, womit der Roman auch einen Einschlag in die Science Fiction erhält. Schon weniger utopisch klingt, dass es keine Tiere mehr gibt. Möglicherweise sind damit aber nur Haus- und Nutztiere gemeint, denn, „die gesamte reichhaltige und gesunde Ernährung der Bevölkerung beruht auf den ‚Wundern der Chemie’“. Auch die Fortpflanzung erfolgt in „Chemielabor[en]“. Denn nachdem die Frauen vor hundert Jahren die Macht ergriffen haben, sind die Männer von alleine ausgestorben. Seither wird in den Laboren dafür gesorgt, dass aus einer „Zelle […] nur weibliche Lebewesen entstehen“. Doch nicht nur die Männer sind verschwunden, auch „Dunkelhäutigkeit [wurde] beseitigt“, da es „nur für die weiße Rasse möglich ist, die höchste Stufe der moralischen und geistigen Exzellenz zu erreichen“. Eine dezidiert rassistische ‚Utopie’ also.

Eugenische Vorstellungen waren in den Jahrzehnte vor und nach 1900 weit verbreitet und fassten auch in Teilen der Frauenbewegung Fuß. Sie finden sich auch in Elizabeth Burgoyne Corbetts New Amazonia. A Foretaste of the Future (1889) In New Amazonia  sind „[a]lle Kinder […] Staatseigentum, niemand darf mehr als vier Kinder haben und Neugeborene mit körperlichen Behinderungen werden getötet“. Ebenso „psychisch Kranke“ und alle, die von ledigen Müttern geboren werden. Nicht nur zeitgenössische Vorstellungen zur ‚Höherzüchtung’ der Menschen spiegeln sich in dem Roman wider, es sind auch diverse Probleme gelöst, unter denen die Frauen der damaligen Zeit litten. So ist in New Amazonia das Korsett abgeschafft und Verheiratete können sich ohne weiteres scheiden lassen.

Ein anderes Problem, das sich Ende des 19. Jahrhunderts allenfalls am Horizont abzeichnete, stellt sich in New Amazonien hingegen erst gar nicht. „Es gibt keine Überbevölkerung, weil ehrgeizige Frauen, die hohe Ämter anstreben, keine Kinder haben.“ Ähnlich wie Bradley Lane vertritt auch Burgoyne Corbett sozialistische Ideen „Die gesamte Wirtschaft untersteht dem Staat, die Eisenbahnen ebenso wie die Wasserversorgung.“ Nicht unbedingt sozialistischen Vorstellungen entspricht es jedoch, dass sich die Menschen „rein vegetarisch“ ernähren. Es sind dies eher Ideen der allerdings erst nach 1900 erstarkenden Lebensreformbewegung. Ihnen entspricht auch, dass Tabak und „berauschende Getränke“ in New Amazonien verboten sind. Tatsächlich war der Alkoholismus unter den Männern der Arbeiterschaft um 1900 ein großes Problem, unter dem nicht zuletzt die Ehefrauen litten, so dass sich verschiedene Frauenorganisationen wie etwa der Deutsche abstinente Frauenbund gegen den Alkoholmissbrauch ausgesprochen haben. Rosa Voigt macht sich 1909 in ihrem Zukunftsroman Anno Domini 2000 ebenfalls gegen den Konsum von Alkohol stark.

Wie Mary E. Bradley Lane vor ihr hat auch die feministische Ökonomin und Philosophin Charlotte Perkins Gilman eine reine Frauengesellschaft erdacht. Ihr Herland (1915) dürfte die prominenteste feministische Utopie aus der Zeit der ersten Frauenbewegung sein. Überhaupt werden die Namen der Autorinnen und ihre Werke nun geläufiger. Das gilt auch für die Schwedin Karin Boye und ihre düstere Dystopie Kallokain (1940). Boye hat sie mitten im Zweiten Weltkrieg und – für den Roman vielleicht wichtiger noch –  zur Zeit der Herrschaft der beiden Tyrannen Hitler und Stalin geschrieben. Wie nicht anders zu erwarten, macht Wyrwar „[a]uch in diesem Schreckensszenario“ noch „utopische Vorstellungen“ aus, denn die allen Menschen verabreichte „chemische Wahrheitsdroge“ erweise sich als „Quelle der Bewahrung humaner Werte“.

Nach dem Zweiten Weltkrieg war den Frauen – wie im Übrigen auch den Männern – erst einmal jede utopische Phantasie abhanden gekommen. Erst mit dem Erstarken der Frauenbewegung erwachte in den späten 1960er Jahren auch die utopische Vorstellungskraft der Feministinnen wieder. Mit den neuen Anliegen der Frauenbewegung hatten sich auch die Themen ihrer Utopien gewandelt. Dass die feministischen Forderungen „auch in die literarischen Werke ein[zogen]“, ist allerdings nur die halbe Wahrheit. Tatsächlich war es eine gegenseitige Befruchtung. So erdachte Ursula K. Le Guin mit The Left Hand of Darknessschon 1969 eine Geschlechterutopie, als die Frauenbewegung noch weit von solchen Überlegungen entfernt war. Shulamith Firestones radikalfeministische Kampfschrift The Dialectic of Sex (1970) wiederum bietet ein Beispiel für die Anregungen, welche die feministisch-utopische Science Fiction den feministischen Theoretikerinnen verdankt. Firestones Überlegungen zur „künstliche[n] Fortpflanzung“ als eine Möglichkeit, „Frauen von ihrer Biologie zu befreien“, wurden in Marge Piercys Woman at the Edge of Time (1976) aufgegriffen und weitergedacht.

Weitere bekannte Utopien von Frauen aus der Zeit der Neuen Frauenbewegungen stammen etwa von Françoise d’Eaubonne, die den Planetenroman Le Satelli de l’amande (1975) verfasste, und Sally Miller Gearhart, deren phantastisch-magische Utopie The Wanderground (1979) in feministischen Kreisen großen Zuspruch fand. Beide werden sie von Wyrwa vorgestellt. Ebenso Margaret Atwoods Dystopie The Handmaid’s Tale (1985), mit der die Reihe der vorgestellten Werke abgeschlossen wird. Wyrwa lässt sie als einzige als uneingeschränkt dystopisch gelten, ohne in ihr nach utopischen Momenten zu suchen. Zu offensichtlich ist, dass es sie nicht gibt. Abgesehen vielleicht von den historischen Anmerkungen des letzten Kapitels, aus denen zu ersehen ist, dass die religiöse Terrorherrschaft von Gilead ein Ende gefunden hat.

Nun gibt es in dem vorliegenden Band zwar manches zu entdecken. Die größte Überraschung aber ist, dass sich mit Esther Vilar eine Autorin in ihm wiederfindet, die vor allem durch ihren  antifeministischen Bestseller Der dressierte Mann (1971) und das anschließende Streitgespräch mit Alice Schwarzer bekannt wurde. Dass sie in dem vorliegenden Band vertreten ist, hat Vilar ihrem 1981 erschienenen Roman Bitte keinen Mozart – ein Märchen für Kinder und Erwachsene zu verdanken, der auf sechs fiktionalen Glasplaneten zwischen Erde und Mars handelt. Auf einem dieser Planeten macht Wyrwa utopische Zustände aus. Mehr noch, Vilars Roman ist derjenige, dessen Utopie sie am stärksten beeindruckt hat. „[M]it seinem utopischen Gesellschaftsmodell einer erhofften menschenwürdigen Zukunft als Eutopie“ sei er nicht nur „eine literarische Seltenheit“, sondern ebenso wie Atwoods Dystopie „aktuell und lebendig geblieben“.

Mag die Aufnahme des einen oder anderen Werkes fragwürdig sein, weil zweifelhaft ist, ob es sich tatsächlich um eine Utopie handelt, so sind die Bedenken im Falle von E. Tannes feministischer Utopie Die Frauenwelt auf dem Mars (1910) andere. Denn es ist keineswegs ausgemacht, dass die Kurzgeschichte tatsächlich von einer Frau geschrieben wurde. So räumt auch Wyrwa ein, dass es „überhaupt keine Informationen“ darüber gibt, wer sich hinter E. Tanne verbirgt. Als Indiz, dafür, dass es eine Frau ist, führt Wyrwa an, dass dem Text ein „Appell“ vorangestellt ist, der mit „die Verfasserin“ unterzeichnet wurde. Das mag tatsächlich immerhin als Indiz gelten. Ein anderes, das gegen die Annahme, der Text sei von einer Frau geschrieben worden, bietet hingegen der unterzeichnete Text selbst:

Frauen!
Wenn ihr wüßtet, welch’ heilige Kraft in euch wohnt, ihr alle, reich und arm, jung und alt, würdet zusammentreten in Reih’ und Glied’ und euch scharen um das Banner, das euch erhebt und schützt und zum Engel der Menschheit macht.

Wenn die „Verfasserin“ die Frauen mit „ihr“ und „euch“ anredet, statt von „wir“ und „uns“ zu sprechen, exkludiert sie sich damit indirekt aus dem weiblichen Geschlecht. Nun könnte es zwar für unwahrscheinlich gehalten werden, dass ein Mann sich als Autorin einer feministischen Utopie ausgibt. Warum sollte er das tun? Darüber soll hier nicht spekuliert werden. Jedenfalls wäre E. Tanne nicht der/die einzige. Denn 1983 erschien die von Feministinnen damals hochgelobte Utopie Sweet America. Auf Einband und Titel firmierte als Autorin Marockh Lautenschlag. Wie sich herausstellte, handelte es sich um ein Pseudonym, hinter dem sich ein Mann verbarg, der nach seiner Enttarnung laut dem Lexikon der Science Fiction von 1988 angab, als Frau habe er sich ausgegeben, „um leichter seine ersten Werke veröffentlichen zu können“. Da sie in feministischen Verlagen erschienen, scheint die Begründung so abwegig nicht.

Wer sich darüber informieren möchte, welche utopischen Gedanken Frauen in den letzten sechshundert Jahren hegten und wie sie sie zu Literatur formten, sollte zu Wyrwas Buch greifen – und dann am besten zu den Werken selbst.

Titelbild

Christiane Wyrwa: Literarische Utopien von Frauen vom 15. bis 20. Jahrhundert.
Mit der vollständigen Erzählung ‚Sultanas Traum‘ von Rokeya Sakhawat Hossain und einer Doppelcoda von Katrin Girgensohn und Dagmar Knöpfel.
scaneg Verlag, München 2021.
159 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783892351269

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