Varianten der Liebe in Tinder-Zeiten

Patrício Prons „Morgen haben wir andere Namen“: Eine Radiographie

Von Michi StrausfeldRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michi Strausfeld

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Die Plattformen für Partnersuche – die alle Freundinnen nutzten oder genutzt hatten – zielten auf eine Auffassung vom Menschen als Ware und der Liebeserfahrung als Austausch von Dienstleistungen“. Ist das charakteristisch für die Generation der heute 20- bis ca. 40-Jährigen? 

Patrício Pron, geb. 1975, verzichtet darauf, Antworten auf diese Frage zu geben, setzt sich aber in seinem Roman mit den diversen neuen „Gemeinschaftsmodellen“ als kritischer Beobachter auseinander. Protagonisten sind Sie und Er, die seit fünf Jahren miteinander leben – SIE, erfolgreiche Architektin (soweit dies in diesem unverändert von Männern dominiertem Beruf möglich ist), ER – Schriftsteller, Essayist, Übersetzer. Scheinbar sind sie glücklich miteinander, haben sich eingerichtet in ihrem Alltag mit Gewohnheiten, Vorlieben und Freundschaften. Dennoch kündigt SIE, aus heiterem Himmel, wie ER meint, die Beziehung und zieht aus. ER verfällt in eine Art Depression, aus der ihm seine Lektorin M. herauszuhelfen versucht, sie führt lange Gespräche mit ihm, findet ihm auch eine neue kleine Wohnung. Anteil nehmend und dennoch reserviert steht sie ihm bei, und so entwickelt sich eine lose Beziehung. SIE sucht ihrerseits Hilfe bei einigen Freundinnen, die Plattformen konsultieren, eine Ehe ablehnen, Dates organisieren und oft frustriert ablehnen.

Nur eine Freundin ist verheiratet und hat einen kleinen Sohn, den der Vater als Hausmann versorgt, während sie unbedingt weiterarbeiten will. Beim Kindergeburtstag ist sie natürlich dabei – aber generell scheint die Monogamie der Vergangenheit anzugehören, denn die Frauen wollen endlich ihre Selbstverwirklichung erzielen, nicht länger für Kinder, Ehemann und Haushalt zur Verfügung stehen. Schließlich waren sie alle dazu erzogen worden, „sich zu fragen, wie sie von Männern wie J. gesehen wurden und wie sie sich verhalten mussten, um diese nicht zu enttäuschen“. Das ist der langwierige und oft schmerzhafte Befreiungsprozess, den diese Generation gewinnen möchte.

SIE und ER vermissen einander, ohne sich dies einzugestehen, beide haben einzelne mehr oder weniger gelungene sexuelle Begegnungen. Einige Freundinnen konsultieren Statistiken über die aktuellen Liebesgewohnheiten, Scheidungsraten, Trennungen, Partnersuche via Tinder usw. – und erhalten keine erfreulichen Aussagen. Fühlen sie sich verloren? Sind sie mehrheitlich unglücklich, lediglich unsicher oder zutiefst unzufrieden? Scheuen sie Verantwortung? Bestimmen Algorithmen ihre Verbindungen?   

ER beobachtet die Veränderungen im Buchhandel, in den Verlagen, die Lesegewohnheiten, den Verlust von so vielem, was zuvor unbestrittenes Fundament unserer Gesellschaften war. Verkäufe, von was auch immer, sind wichtiger als relevante Inhalte, die mediale Präsenz der ‚Urheber‘ wichtiger als ihre Themen, so scheint es. Auch dafür gibt es natürlich deprimierende Statistiken, die Patrício Pron mit schwarzem Humor wiedergibt. Er selbst kennt dieses „Geschäft“ ja bestens. Stehen wir am Ende einer historischen Epoche, ist das ein Abgesang auf die ‚anspruchsvolle‘ Literatur? Können wir auf unsere traditionell verstandene ‚Hochkultur‘ verzichten?

Das Geschehen spielt in Madrid, wo der argentinische Autor seit vielen Jahren lebt. Daher steuert er auch ironische Kommentare über die Stadt, ‚eine Betonwüste‘, das Ausgehviertel Malasaña, das Leben des Prekariats und die Fixierung der Gesellschaft auf das Mobiltelefon bei. So wird der Roman auch zu einer Analyse oder Radiographie unserer Zeit.  

Das Ende dieses brillant geschriebenen und vortrefflich übersetzten Buches soll hier nicht verraten werden – es ist in jedem Fall überraschend. Morgen haben wir andere Namen wurde mit dem Alfaguara-Romanpreis ausgezeichnet – eine verdiente Anerkennung dieses so modernen Buches, das der älteren wie jüngeren Generation zum Teil verstörende Einsichten gibt.  

Titelbild

Patricio Pron: Morgen haben wir andere Namen.
Aus dem Spanischen von Dagmar Ploetz.
Rowohlt Verlag, Hamburg 2021.
320 Seiten , 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783498001827

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