Bringing out the dead

In seinem Debütroman „Aus unseren Feuern“ erzählt Domenico Müllensiefen vom Leben und Sterben einer verlorenen Nachwendegeneration

Von Sebastian WeirauchRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sebastian Weirauch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Heiko Persberg, die Hauptfigur von Müllensiefens Roman, ist ein abgehärteter Mitarbeiter eines Bestattungsunternehmens. Augenscheinlich hat er sich längst an den Umgang mit Toten gewöhnt. Bis darunter seiner alter Freund Thomas ist: 

Man holt Renter aus Heimen, Arme aus Sozialwohnungen, Trinker, Messies und Drogensüchtige. Leichen, die voller Keime und Viren sind. Man holt Kinder, Krebsleichen, Selbstmörder, Ermordete, Unfallopfer, Ertrunkene. Man dringt in Familien ein, holt die Menschen ab, die anderen lieb und wichtig sind, beziehungsweise wichtig waren. Man nimmt Hoffnungen und Wünsche mit. Der Tod begegnete mir jeden Tag. Jetzt war er mir so nah wie noch nie zuvor, denn die Leiche war noch immer ein Freund, und der Wagen, mit dem sich Thomas totgefahren hatte, hatte einmal mir gehört.

Thomas‘ Autounfall, die Präparation seiner Leiche im Unternehmen und die anstehende Beerdigung werden für den Ich-Erzähler zum Anlass, sich an die eigenen Lebensstationen im Ostdeutschland der 00er-Jahre zu erinnern. Erzählt wird eine Coming-of-Age-Story, die Geschichte von Heikos Freunden Thomas und Karsten, die alle auf je verschiedene Weise von Krisen getroffen werden. Bis sie sich letztlich aus den Augen verlieren. Wie der Autor selbst arbeitet auch Heiko zunächst als Elektroniker und später als Bestatter. 

Müllensiefen streut in seinen Roman, der manchmal Züge einer Milieustudie trägt, zahlreiche chronistische Markierungen ein. Oft geht es um Weltpolitisches, aber auch um Fußball. So erinnert der Erzähler sich an 2006, als alle zur WM „Fahnen auf den Dächern“ hatten, oder an 1999, als viele glaubten: „Die Computer werden alle abstürzen, Kraftwerke werden ausfallen.“ Oftmals bekommen Heiko und sein Umfeld von den bewegenden Ereignissen allerdings nicht viel mit. Als die Flugzeuge ins World Trade Center stürzen, sieht er das auf einem winzigen Fernseher. In Gegenwart zwei betrunkener Kollegen, die mit ihm im Kollektorgang eines Plattenbaus Kabel verlegen. Man hält das Ganze für einen schlechten Actionfilm und schaltet um.

Sowieso spielen Alkohol und Zigaretten für den Erzähler und das beschriebene Milieu eine große Rolle. Es ist ein historisch glaubhaft erzähltes, eher männlich geprägtes Milieu der unteren Mittelschicht, das im Nachraum der Wende von einer Krise in die nächste schlittert. Gerne entlarven Autor und Erzähler an ihm die Scheinhaftigkeit sozialromantischer Sichtweisen: Heiko erinnert sich an Fußballspiele, wo der ganze Block einen schwarzen Spieler rassistisch beleidigt. Auch nazistische und geschichtsrevisionistische Denkweisen sind in seinem Umfeld allgegenwärtig ‒ wenn in der Kneipe Aufkleber hängen wie: „Opa war in Ordnung, unsere Großväter waren keine Mörder!“

Aus unseren Feuern erzählt auch von der unüberwindlichen Differenz von Oben und Unten, dem schönen Glanz und seiner Beschmutzung durch das Niedrige. Selbst beim Bahnfahren: „Das Klo war widerlich, irgendwer hatte die Schüssel vollgeschissen und nicht gespült. Und ich hatte gedacht, dass nur feine Pinkel mit dem ICE fuhren. Ich drückte die Spülung und zündete mir eine an.“

Dass der Autor sich auch in politisch heikle Bereiche vorwagt, zeichnet ihn aus. An der Reflektiertheit seines Zugangs besteht wohl kein Zweifel. Interessanter ist die Frage, wo eigentlich der Ich-Erzähler (Heiko) steht. Er ist kein bewusster Rassist, aber abwertende und differenzierende Begrifflichkeiten scheinen für ihn austauschbar, was impliziert, dass sein zur Mehrheit gehöriges Milieu mit dieser Logik der Austauschbarkeit eben doch einer latent rassistischen Logik folgt: „Als ich in deren Alter war, nannte man die noch Kanaken. Später waren die dann Jugoslawen, Araber und eine Zeit lang sagte man Türken, und jetzt hießen die Syrer.“ Es geht hierbei aber auch um eine Gleichgültigkeit gegenüber einer als oberflächlich wahrgenommenen Umetikettierung in Medien, hinter der nicht immer ein Interesse an den betroffenen Menschen steckt, die fliehen oder von Diskriminierung betroffen sind.

Sowohl die chronistischen Einsprengsel, als auch die Milieubeschreibungen gelingen Müllensiefen mit Humor und zurecht sind die Dialoge und der Wortwitz des Buches gelobt worden. Wie etwa, als aufgebrachte (ostdeutsche) Eltern mit einem als schnöselig verschrienen (westdeutschen) Schulleiter konfrontiert werden und ihn fragen, wo er denn bitteschön herkomme:

Aus dem Siegerland. 
Was, brüllte Herr Meier.
Aus dem Siegerland.
Und wo kommen wir her? Aus dem Verliererland? Sag mal, bist du noch ganz knusper?
So heißt meine Heimat. Das Siegerland ist in Nordrhein-Westfalen.

Folgt man der Entwicklung der Figuren und des Milieus, zu dem Heiko noch halbwegs gehört, dann zeigt sich eine einzige Aneinanderreihung von Pleiten, Verlusten und Verfall. Karsten geht fort, in die USA. Thomas erlebt, wie der Fleischereibetrieb seines Vaters pleite geht. Müllensiefen verknüpft dieses persönliche Unglück mit einer Beobachtung der ökonomischen Entwicklung im Osten: 

Die Insolvenz war die Folge einer stetigen Abwärtsbewegung. Andere Schlachtereien konnten in den Neunzigern expandieren, hatten Ladenflächen in den ganzen Einkaufspassagen, die überall hingestellt wuden. Oder im Supermarkt. Kennt man ja: Supermarkt, Bäcker und Fleischer. Alles vor Ort. Thomas‘ Vater ging einen anderen Weg. Er verließ sich ganz auf einen Laden und ließ seine Schlachter nur noch Schweine töten, ausnehmen und in zwei Hälften zerlegen. Die Schweinehälften verkaufte er an die kleinen Fleischereien im Umland. Ein paar Jahre funktionierte dieses Geschäft ganz gut. Bis der Schalker den Markt immer stärker leersaugte. Der hatte nach der Wende einen Schlachthof kurz hinter der Landesgrenze zu Sachsen-Anhalt billig aufgekauft. Der große Raubzug der Treuhand […]. Zehn Jahre später hätte er es vielleicht geschafft. Da redeten alle von Bio, Nachhaltigkeit und regionaler Erzeugung. Aber nicht 2005. Da musste Fleisch billig sein. Richtig billig. 

Auch das Bestattungsgeschäft ist nichts Heiliges mehr. Heikos Chef sagt, er habe „einen Vertrag mit [einem] Internetbestatter gemacht. Die Leute suchen im Netz nach Bestattern. Der hat mir doch tatsächlich vierzig Leichen pro Woche garantiert.“

Der Eindruck der Betroffenen ist nicht nur der eines Verfalls, weil plötzlich „Handyshops“ und „Vietnamesenbuden“ die vertrauten Geschäfte ersetzen, sondern auch der einer schleichenden Kolonisierung: „Im Osten. Wir waren deren Kanaken.“ Das prekäre ostdeutsche Milieu tritt in eine Art Opferkonkurrenz zu anderen marginalisierten Gruppen und beansprucht Begriffe, mit denen in der Regel ethnische oder kulturelle Fremdheitserfahrungen von Migranten beschrieben werden. Das ist durchaus gefährlich: Thomas gerät nach der Pleite auf die schiefe Bahn und landet letztlich bei Verschwörungsgläubigen bzw. Reichsbürgern. Eine nicht plakativ und nachvollziehbar erzählte Wendung, die ihn vom Ich-Erzähler immer weiter entfremdet, bis der ihn kaum noch ernst nehmen kann. Er würde „staatenlos“ sein, meint Thomas, und Deutschland nur eine GmbH.

Heiko selbst hat Glück. Er flieht zwar auch vor den Verhältnissen, bis er über Thomas‘ Leiche stolpert, aber er bleibt offen und wird auch so von anderen wahrgenommen: „Sie sind noch jung, Herr Persberg. Sie können sich doch noch umorientieren.“ Doch er selbst bleibt misstrauisch, fühlt sich anpasserisch und kommt sich mehr wie Humankapital vor. Auch erfährt man von ihm mehr über seine Beziehungen zu Frauen, zuerst zu Julia. Deren Vater schlägt er im Streit und sie verlässt ihn daraufhin, weil sie mit niemandem zusammen sein könne, der sich nicht unter Kontrolle habe. Oder zu Mandy, die er in der Schule anhimmelt und die ihn, kurz nachdem sie überraschenderweise zusammenkommen, doch wieder verlässt, weil sie in Westdeutschland eine Stelle angeboten bekommt. 

Was Müllensiefens Erzählton und auch die Schilderungen prägt, ist eine provokative Ausstellung des Krassen. Oftmals in Gestalt von politischen Unkorrektheiten, aber häufig wird es auch saftig und grotesk, wenn Leichen beschrieben werden oder die Abläufe in Schlachtereien. Etwa wie das Fleisch in den Wurstdarm gelangt. Oder wie Tiere enthauptet werden:

Die linke Hand legt sich auf den Kopf der Sau, Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand greifen in die gestochene Verbindung der Nasenlöcher, und plötzlich, mit seinem ganzen Gewicht und aller Gewalt, die er aufzubringen vermag, stützt der Sohn sich auf den Schweinekopf und bricht ihn knochenknackend vom Rumpf ab.

Dieser Debütroman ist unterhaltsam. Vielleicht ist die titelgebende Bombe, welche Heiko mit seinen Freunden baut, Aus unseren Feuern, eine Konstruktion, die es zur Rechtfertigung des gelungenen Titels nicht gebraucht hätte. Auch das Kokettieren des Ich-Erzählers mit dem provokativen Gestus des Abgehärteten und des Verächtlichen hätte an manchen Stellen vielleicht stärker aufgeweicht werden können. Aber es besteht kein Zweifel daran, dass Müllensiefen einen Draht zu seinen Figuren und zu diesem Milieu der Nachwendezeit hat, das dieses Land mitprägte, wenn es in der Literatur (bis jetzt) auch selten vorkam.

Titelbild

Domenico Müllensiefen: Aus unseren Feuern. Roman.
Kanon Verlag, Berlin 2022.
336 Seiten , 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783985680153

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