Ein Citoyen wirbt für Zivilisation, Kultur und Demokratie

Karl-Markus Gauß lädt mit „Die Jahreszeiten der Ewigkeit“ zum Erinnern an Vergangenes, zu einem Erkennen des Hier und Jetzt und damit zu einer Mitgestaltung der Zukunft ein

Von Günter HelmesRSS-Newsfeed neuer Artikel von Günter Helmes

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Alltag ist es, der humanisiert,
gefeiert, geliebt zu werden verdient […].

„Eine Skizze sagt uns oft mehr als das ausgeführte Kunstwerk, weil sie uns zum Mitarbeiter macht.“ Diese Einsicht der großen Marie von Ebner-Eschenbach, von dem Selbstdenker, ja dem im besten, eigentlichen Sinne dieses Wortes Querdenker Karl-Markus Gauß im dritten Buchkapitel Schneller als das Erdbeben zitiert, taugt als hintersinnige Leseanleitung nicht eben schlecht für die hoffentlich Vielen, die das hier zur Rede stehende, gerade mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung ausgezeichnete (und nahezu fehlerfrei gesetzte) Buch Die Jahreszeiten der Ewigkeit zur Hand nehmen werden. Das, so verrät uns der „Fröhlichkeit“ und „Geselligkeit“ preisende, stets auf Erkenntnis ausgehende und den Neoliberalismus geißelnde Autor im Epilog, sei ein „Journal“ bzw. eine „Chronik“ und basiere auf in zwanzig Heften gesammelten Aufzeichnungen aus den Jahren 2014 bis 2019. 

Dabei sei gleich einer für Die Jahreszeiten der Ewigkeit unangemessenen Auslegung der Einsicht Ebner-Eschenbachs entgegengetreten: Bei den Jahreszeiten handelt es sich – selbstverständlich, ist man allein angesichts der letzten beiden großartigen Gauß-Bücher Abenteuerliche Reise durch mein Zimmer und Die unaufhörliche Wanderung versucht zu sagen – um ein Kunstwerk. Diesen Charakter verdankt es der artistischen, auf ein gehalt- und temperamentvoll mäanderndes Gespräch über viele Tage hinauslaufenden Komposition nicht gezählter Skizzen, Reflexionen, Miniaturen, Bekenntnisse, Anekdoten, Vignetten und dergleichen mehr sowie dem – so der Verlag auf dem Rücken des Schutzumschlags ganz zu Recht – „vielgerühmte[n] Gauß-Sound“. Dieser Gauß-Sound, der daraus erwächst, dass dem oftmals randständig erscheinenden Alltag mit Hingebung, einem nachsichtigen Lächeln und/oder besonnener Streitbarkeit begegnet wird, ist allerdings nicht nur „sanft und präzise, abschweifend und von aphoristischer Schärfe“, darüber hinaus stets „elegant“. Er, der auch Rhythmus hat, ist darüber hinaus zuweilen heiter, witzig, bissig, (selbst-)ironisch und sogar hier und dort einmal sarkastisch. Niemals aber ist er zynisch, denn:

Mich haben die meinen [die eigenen Kinder] von der schweren Krankheit des Zynismus, die mich an Leib und Seele zu zersetzen drohte, geheilt und vor dem selbst verschuldeten Untergang gerettet.

Doch zurück zu der in eine Leseanleitung umgedachten Einsicht Ebner-Eschenbachs. In der Tat macht Die Jahreszeiten der Ewigkeit, ein Buch, das um des allen Zuträglicheren willen vieles missbilligt, eine anwachsende Gefährdung unverzichtbarer Werte und Tugenden, bewährter Standards und erprobten Handelns in unterschiedlichen Lebensbereichen diagnostiziert und all dem Unliebsamen, nicht Hinzunehmenden und gar Verabscheuungswürdigen ein kraftvolles So nicht! entgegensetzt, den Leser in ganz ungewöhnlicher Weise zum „Mitarbeiter“. Denn Schlag auf Schlag wird man mit einer wahren Flut an Situationen, Begebnissen, Entwicklungen, Themen, Beobachtungen, Mutmaßungen, Gefühlslagen, Denkbewegungen, Behauptungen, Schlüssen oder Urteilen konfrontiert, die es zu bedenken gilt und zu denen man sich verhalten muss – verhalten sollte jedenfalls.

Wer da also nicht auf ein entschleunigtes, mitdenkendes Lesen und ein stetes, ggf. auch neu gruppierendes Wiederlesen, quasi wie in einer Art Log- oder auch Laborbuch, setzt, sondern glaubt, er könne sich das Buch ‚mal eben so‘ in zwei/drei großen ‚Bissen‘ einverleiben und verdauen, der geht fehl. Und wer da gar behauptet, genau dies erfolgreich getan zu haben, gehört zu jenen auch in akademischen und feuilletonistischen Kreisen schon längst auftrumpenden – nein, kein Tippfehler! – und von Gauß verachteten „[g]ebildete[n] Nichtleser[n]“, die dem US-amerikanischen Malware-Import „distant reading“ frönen, bloß um irgendwie mitreden zu können. Womit Weiteres über die sich u.a. im Stil niederschlagende Haltung des Autors und über Thematisches gesagt wäre.

Gauß bekennt sich handelnd – siehe hier beispielsweise die zahlreichen Alltags- und Allerweltserlebnisse auf Straßen, in Kneipen oder bei geselligen Anlässen, an denen er seine und des Lesers Aufmerksamkeit schärft – und schreibend vehement zu den mittlerweile gefährdeten, u. a. das Soziale und die Bildung betreffenden Errungenschaften bürgerlich geprägter Zivilisation, wenn die Art und Weise zur Rede steht, wie man privat, öffentlich und politisch-gesellschaftlich miteinander umgeht. Deshalb geht er aber nicht den gleisnerischen, den zu Ablenkungs- und Sedierungszwecken neoliberal lancierten und obendrein zutiefst philisterhaften Forderungen nach Correctness all überall auf den Leim. Wo beispielsweise um der Verteidigung der Leitvorgabe des zivilen, demokratisch-sozialen Miteinanders willen von „Schweinerei“ oder „dumm“ und „Dummheit“ die Rede sein muss, da nimmt er diese Worte auch ohne Umschweife in den Mund, denn:

Die organisierte Dummheit ist eine Macht, die zerstören möchte, was die Zivilisation aufgebaut […] hat, und daher muss man ihr entgegentreten, wo immer sie sich anschickt, gesellschaftliches Terrain zu erobern. Wer politisch auf die Dummheit setzt oder mit ihr sein mediales Geschäft betreibt – [Die Medien Österreichs und Deutschlands sind fortwährend damit beschäftigt, mittels telekratischer Volksbefragung den Supertrottel zu finden […]. Ihm winkt aus unüberwindbarer Ferne kumpelhaft ein Politiker neuen Typs zu, der sich seinerseits nicht mehr darum bemüht, jene Bildung, die ihm abgeht, immerhin vorzutäuschen.] –, arbeitet daran, die Demokratie zu schädigen, die Menschenwürde zu schänden. 

Und Gauß spricht – wie sympathisch, wie dienlich! – von dem Zorn und der Wut, die ihn befallen, wenn er erleben oder erkennen muss, dass jenes sich im Großen wie im Kleinen zeigende Humanum, das im Zentrum seines Empfindens, Denkens und Wollens steht, mit den Füßen getreten wird, sei es durch rüdes Verhalten im Alltäglich-Privaten oder durch rücksichtslose, bspw. strukturelle Gewalt im Ökonomisch-Sozialen. Dass dieses Treten auch Hassgefühle in ihm auszulösen vermag – 

Ich bin grundsätzlich gegen Gewalt, aber die Gesellschaft hat sich in einem Maße brutalisiert, dass es nicht ausreicht, immer nur meinen Pazifismus aufzuwenden, um sie zu humanisieren.

– wer wollte ihm, der den Menschen und dem Leben mit Philia und Pragma zugetan ist, das ernsthaft zum Vorwurf machen!

Weiteres ließe sich noch über Gauß als einen Bekenner sagen, beispielsweise als denjenigen, der ganz ‚angekleidet‘ von den Leiden seines „teigig aufgequollenen Altmännerleib[es]“ spricht, beispielsweise auch als denjenigen, der darüber nachsinnt, was es bedeutet, sich selbst zur Gestalt zu bringen:

Autobiographisch schreiben: Ich bin nicht die Voraussetzung, sondern das Ergebnis meines Schreibens. Ich bilde mich nicht ab, sondern erschaffe mir ein Selbstbild. Mit dem ich nicht verwechselt werden möchte, aber mich selbst längst zu verwechseln begonnen habe.

Kennzeichnender für Die Jahreszeiten der Ewigkeit, kennzeichnender für Gauß als einen derjenigen, der wie andere an Herz und Geist Gebildete bzw. Vernünftige den Schädigern von Demokratie und menschlicher Würde für nichts anderes als ein „Mensch von vorgestern“ gilt, ist es aber wohl, stellvertretend für die erwähnte Flut an Gegenständen, noch andeutend ein/zwei Themen anzusprechen.

Diese Flut zunächst in Stenogrammform: Neben bereits Genanntem geht es in Jahreszeiten u.a. um Gesellschafts-, Wirtschafts- und Denksysteme, Charakter- und Typenstudien, ‚Belangloses‘ und Geschichte, rassistische Austilgungs- und technologische Optimierungsphantasien, Literatur- und Kulturbetrieb bzw. -geschichte, Schule und Universität, Kunst und Leben, Lebens- und Todeslehren bzw. -arten, Reisen und Reisegeschichten, „Avantgarde und Faschismus“, „Kongressintellektuelle“, privates und öffentliches Sprechen, Fotografie und Fotografieren, Information, Wissen und Erkennen, Glaube und Atheismus, Identitätspolitik und deren „Frömmler“, Heimat, Brauchtum, Mobilität und Multikulturalität, Kulturindustrie, Konsumismus und Superlativismus, Populismus, Pop- und Netzkultur, Sprachgebrauch, Sprachpolitik und Sprachkritik, die politische ‚Kultur‘ Deutschlands und Österreichs („Ja, wir sind Barbaren, aber immerhin Österreicher!“ / „Wir wollen den Faschismus! Aber nur ein bisserl, und eh nur gegen die Bösen“), die USA, Saudi-Arabien und Italien, schließlich um Dutzende von Politikern, Künstlern, Philosophen, Autoren, Freunde und Verwandte aus aller Welt und unterschiedlichen Zeiten, – gerade kulturell, literarisch und künstlerisch gibt es viel zu entdecken bei Gauß, der sich wie der von ihm zitierte Bischof Erwin Kräutler „heiser gehört“, gesehen und gelesen hat über die Jahrzehnte.

Diese ein/zwei Themen sodann: Zum einen zwei Sätze, die für die Treffsicherheit stehen mögen, mit der Gauß nicht nur Charaktere, sondern auch Situationen, Begebnisse und ‚Lehren‘ zu erfassen vermag. Diese Sätze lauten:

Erfolglosigkeit. [sic!] Ich habe begabte Kollegen moralisch verfallen sehen, bis sie am Ende dies waren: größenwahnsinnig aus Erfolglosigkeit.

Ein schwerer Fehler: seinen Gegnern treu ergeben bleiben. An der Feindschaft festhalten heißt seine Feinde an der eigenen Biographie mitschreiben lassen.

Zum anderen hier nicht weiter kommentierte, im Buch leicht zu kontextualisierende Feststellungen von Gauß zu den aktuellen, von ihm in den Jahreszeiten immer wieder angesprochenen Themen „Diversität“ und „Flüchtlinge“: 

Die Frage selbst – woher kommst du? – gilt Kritikern von Rassismus, Ausgrenzung, Vorurteilen […] bereits als feindseliger Akt, der die Zugewanderten […] auf ihren Status als Fremde verweist. Was für verklemmte Kleingeister! Sie preisen die Vielfalt, aber man darf sich nicht für diese interessieren, sie nicht benennen, am besten sollte man sie gar nicht bemerken; sie schwärmen davon, dass die Welt bunt sei, aber fordern, dass wir farbenblind durchs Leben gehen.

Und:

Die Kultur des Willkommens trieb prächtige und seltsame Blüten, schweren Schaden fügte ihr nachhaltig die simple Tatsache zu, dass Flüchtlinge reale Menschen, keine kulturellen Phantasmen sind und daher unter ihnen der edle Flüchtling nur gerade so häufig auftritt wie sonst in allen Sphären der Gesellschaft der edelmütige Mensch.

Fazit: Man muss – er selbst, der Verfechter einer „Kultur des Streits“ und einer der „Versöhnung“, wird dem wohl freudig zustimmen – beileibe nicht mit allem einverstanden sein, was Gauß sagt, beispielsweise mit Blick auf Marx und dessen Auslegung, beispielsweise hinsichtlich bestimmter sprachlicher Phänomene. Und nachsehen wird man ihm ganz gewiss einen Tippfehler wie denjenigen, der Barbey d’Aurevilly dem 18. Jahrhundert zuschlägt. Umhinkönnen wird man aber gewiss nicht darum, Gauß, der „nicht […] bessere“, aber hoffentlich „bessernde Mensch“, für die lange vorhaltende, glänzend dargebotene und zum gestaltenden Eingreifen anregende Versorgung mit Denkstoff zu danken.

Titelbild

Karl-Markus Gauß: Die Jahreszeiten der Ewigkeit. Journal.
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2022.
320 Seiten , 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783552072763

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