Von Geschmacksurteilen heute

Eine Gegenwartsästhetik von Moritz Baßler und Heinz Drügh

Von Linda MaedingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Linda Maeding

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Grundlegung und Analyse der Gegenwartsästhetik zugleich“, verspricht die von Moritz Baßler und Heinz Drügh verfasste Gegenwartsästhetik zu sein. Das ist ein hoher Anspruch, der in der Einleitung – „Geschmack: Waschbär“ – nicht in erster Linie theoretisch ausgeführt wird, als vielmehr gleich an einer Filmanalyse von Quentin Tarantinos Once upon a time…in Hollywood durchexerziert wird. Das funktioniert erstaunlich gut: Das Pop-Archiv des Regisseurs (und, so darf ich hinzufügen, der Autoren) erschließt Bezüge, die der selbstbewussten Setzung des Ästhetischen geradezu entgegenkommen. Aus der Zusammenfügung von „syntagmatischen Befunden“ (Aisthesis in der Gegenwart) und „paradigmatischen Bezügen“ (Vergleich und Archiv) ergibt sich eine sehr dichte Lektüre, die immer – und das ist auch der Selbstanspruch und die Vorgabe der Autoren – beim Ästhetischen verweilt, ohne dass dadurch ethische Implikationen ausgeblendet werden. Letztere werden aber eben auch nicht, wie in zeitgenössischen Urteilen teils der Fall, hyposthatisiert und vom Ästhetischen abgetrennt. Die Resonanzen, die durch das Aufspüren der paradigmatischen Bezüge auch begrifflich artikulierbar werden, sorgen für eine sehr breite Lektüre, die ihren Gegenstand als ästhetischen doch nie aus dem Blick verliert.

Eine Quelle der Inspiration für diese Lektüre ist Stephen Greenblatts Kulturpoetik. Nicht unbedingt zwingend scheint die dafür einführend gesuchte Opposition zur Hermeneutik. Einer Hermeneutik, wie sie Peter Szondi vertrat, wird man kaum vorwerfen können, dass sie auf ein Verstehen in Form von „abgeschlossenen“ Aussagen dringe, „die das ästhetische Spiel zu begrenzen, wenn nicht gar stillzustellen oder zu verhindern“ drohe. Doch ist diese Abgrenzung eigentlich auch gar nicht nötig, um Baßlers und Drüghs Analyse der Gegenwartsästhetik zu folgen und, ja, sie gar zu feiern.

Der erste Teil des Buchs besteht aus drei Kapiteln zum gegenwartsästhetischen Urteil, zum gegenwartsästhetischen Objekt und zur Bestimmung von „Gegenwart“. Der zweite Teil untersucht, was gegenwärtig mit ästhetischen Maßstäben in drei prägenden (begrifflichen und phänomenalen) Entwicklungen passiert: „Demokratisierung“, „Anthropozän“ und „Digitalisierung“.

Ausgangspunkt des ganzen Vorhabens ist die Beobachtung, dass wir es heute grundsätzlich mit einer Zunahme des Ästhetischen im Alltag zu tun haben, viele traditionell nicht in den Gegenstandsbereich der Ästhetik fallende Phänomene in Formen gedacht oder besser: wahrgenommen werden. Lebenswelten werden durchgehend ästhetisiert; Geschmacksurteile gewinnen in traditionell ästhetikfernen Bereichen (Essensvorlieben, Sportwahl, Gebrauch gegenderter Sprache) an Bedeutung. Dies kontrastiert zunächst mit dem Eindruck einer zunehmenden gesellschaftlichen Relevanz ethischer Fragen, der sich in der Öffentlichkeit angesichts von Cancel Culture, stärkerer Wahrnehmbarkeit von Minderheiten und Identitätspolitiken einstellen mag.

Die Autoren widmen der „Ästh-Ethik“, also der Verschränkung dieser Erkenntnisformen, gesonderte Überlegungen. Auch können sie Kant deshalb für ihre hybride Gegenwartsästhetik nutzbar machen, weil dieser selbst ästhetische Urteile als meist gemischte Urteile – in denen also auch Nicht-Ästhetisches hineinspielt – verstand. Erst vor diesem Hintergrund wird klar, warum die Autoren, die sich ja eingehend Gegenständen widmen, die in der klassischen Lehre der Ästhetik aus dem Raster gefallen wären („camp“, um mit Gewährsfrau Susan Sontag zu sprechen, Banales, Kleines – Populärformate), von Kant ausgehen können. Überhaupt ist die theoretische Versiertheit, mit der hier Hollywood-Filme, Donald Duck, deutsche Gegenwartsromane und Instagram-Accounts zum Gegenstand ästhetischer Lektüren gemacht werden, eines der großen Verdienste dieser „Gegenwartsästhetik“.

Sie ist damit aber auch eine fundierte Kritik der Frankfurter Schule sowie anderer kulturkritischer Ansätze, die populäre ästhetische Praktiken nur über ihren Konsumcharakter – als Teil der Kulturindustrie – wahrnehmen, dabei aber, so die Autoren, deren „gemeinschaftsstiftende Seite“ übersehen. Denn in der Zirkulation von Bildern und Texten über soziale Medien bilde sich eine Art „Konvergenzkultur“ – die vom Medienwissenschaftler Felix Stalder in seiner Kultur der Digitalität bezeichneten „Commons“ –, an der viele Menschen partizipierten. Und auf einer reflektierten, selbstreferentiellen Ebene schreibt auch Gegenwartsliteratur, die hier an einigen Exemplaren ausführlich untersucht wird, an dieser Konvergenzkultur mit – Romane wie Leif Randts Allegro Pastell (2020) oder Joshua Groß‘ Flexen in Miami (2020). An ihnen wird der durch die Digitalisierung eingeführte Paradigmenwechsel und ihre Verschränkung mit den Eigenheiten westlicher Überflussgesellschaften besonders deutlich.

Es wäre naiv anzunehmen, dass der angeführte Paradigmenwechsel sich nicht auch auf das Ästhetische auswirken würde. Die Ausführungen der Autoren zur augmentierten Wirklichkeit, als Verfeinerung oder Weiterentwicklung der Digitalisierung, gehören mit zu den besten Stellen des Buchs. Hier wird deutlich, inwiefern „real“ und „virtuell“ heute nicht mehr als Gegensatzpaar, sondern als Kontinuum aufgefasst werden muss, als „Mixed Reality“. Vor diesem Hintergrund könnte das Buch auch treffend als eine „Ästhetik der Postdigitalität“ bezeichnet und betitelt werden.

So schließt der Band mit der Bemerkung, dass die aufgezeigten Entwicklungen – darunter die Ästhetisierung von Bereichen, die bisher nicht oder kaum mit Ästhetik verbunden waren – erst „im Zuge der Digitalisierung, mit der allgemeinen Präsenz und Zugänglichkeit von allem und jedem“ so richtig virulent wurden – „in dem Moment, in dem die virtuelle Sphäre des Paradigmatischen in einer augmentierten Realität metonymisch-weltförmig wird.“

Zurück aber zur Einleitung, die auch als Fazit dieses Buchs durchgehen darf: Gegenwartsästhetik, schreiben die Autoren, sei zwar kulturpoetisch als (Re-)Konstruktion kultureller Paradigmen angelegt, „aber eben nicht im analytisch-semiotischen, sondern im ästhetischen Modus, d.h. als komplexe Aushandlung zwischen Sinnlichkeit, Begriff und Gefühl und zugleich als kulturelle Poiesis: In Formen denken!“

Titelbild

Heinz-Joachim Drügh / Moritz Baßler: Gegenwartsästhetik.
Konstanz University Press, Konstanz 2021.
307 Seiten, 28 EUR.
ISBN-13: 9783835391383

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