Literatur aus der Schreibblockade oder: Warum etwas ist und nicht etwa nichts

Zwei brillante frühe Texte Andrej Bitows sind in „Leben bei windigem Wetter“ auf Deutsch erschienen

Von Kai SammetRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Sammet

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenn ich Schriftsteller wäre und nicht nur kritischer Kritiker (oder unterscheiden sich die Metiers da gar nicht so?), dann würde ich vielleicht sagen: Ich war noch nie mit etwas zufrieden, was ich geschrieben habe. Keine Koketterie, keine verlogene Bescheidenheit. Es ist so. Aber sind mir die Gründe dafür klar? Nein, also sortieren wir mal einige Möglichkeiten: (1) Grundunzufriedenheit. Gibt ja so Menschen. Reich, verwöhnt, unglücklich (um nur mal einen Grund für Grundunzufriedenheit zu erwähnen).Könnte sein. (2) Man schreibt immer (über) das Falsche – oder gehört No. 2 zu No. 1? (3) Dahinter könnte ein strukturelles Problem stecken. Es gibt tausendundeine Möglichkeit, Wörter zu wählen, sie aneinanderzureihen. Man hätte auch ganz anders vorgehen können, ganz andere Wörter wählen können, diese ganz anders miteinander kombinieren können. Also gibt es gar kein: jetzt passt’s! Wie also schreiben? Und warum überhaupt? Wie entsteht ein Text? Wie entsteht aus dem Nichts etwas? Eine doofe philosophische Grundfrage: Warum etwas ist und nicht etwa nichts. Und was ist dann eine „Schreibblockade“ – davon reden ja viele und ganze Bücher sind da(rüber) geschrieben worden, ganz zu schweigen von den jammerigen Gesprächen, den gequälten Ehefrauen  und -männern, die einem/r übellaunigen Blockierten bei lebendigem Leib ausgesetzt waren? Sollte man nicht einfach sagen: Scheiß drauf, schreib einfach drauf los? Ginge es auch anders?

Diese etwas assoziativ gelockerten Fragen führen hin zu zwei brillanten frühen Texten des russischen Schriftstellers Andrej Bitow, die jetzt von Rosemarie Tietze übersetzt wurden: Leben bei windigem Wetter und das tagebuchartige Pendant Um die Ecke. Aufzeichnungen eines Einzelkämpfers. Aus dem knappen, aber instruktiven Nachwort Tietzes erfährt man den lebensgeschichtlichen Hintergrund. Bitow wollte den Sommer 1963 „endlich ganz dem Schreiben widmen“. Der damals 26jährige hatte eine Ausbildung zum Bergbauingenieur absolviert, 1963 war ein erster Erzählband erschienen. Er fährt auf eine Datscha unweit Leningrads. Und nun? „So laufe ich jetzt herum und denke: Darüber müsste man schreiben und darüber. Und über das dort…“, das aber wird nix: „Später aber, schlimme Vorstellung, werde ich herumlaufen und – worüber könnte ich schreiben? Worüber? Geht mich das was an?! Darüber? Aber warum gerade darüber? Oder über das dort? Bringt auch nichts…“ Und nun sieht man Bitow in beiden Texten zu, wie er sich drückt, wie er den Tisch herumrückt, wie er seine Frau anpflaumt, wie er plötzlich glaubt, er müsse unbedingt was in Leningrad erledigen, wie er vor seinem Schreibtisch sitzt und ihm „langweilig“ wird. Kurz: „So verflossen die Tage.“

Das ist also alles klar und bekannt. Aber was Bitow daraus macht, das ist toll. Wie sich da einer hineinwühlt in Beobachtungen seines Nichtstuns, in Beschreibungen seiner inneren Hektik in der Erzählung Leben bei windigem Wetter – dort ist ein Sergej das Alter Ego Bitows – und wie diese Hektik in ihrer Rohfassung im Tagebuch auftaucht:

Eitle Geschäftigkeit, Hektik … das Spiel mit ihr habe ich zur Genüge betrieben, der innere Kampf gegen sie, auch der eigenartige Kult um sie, sind bei fortschrittlichen Menschen derzeit Mode, das Wort ist in vieler Munde, und dieses Auferstehen ist verbunden mit einer gewissen, generellen Belebung in der letzten, leider gar nicht langen Zeit, das Wort zeugt von einem gewissen Niveau im Seelenleben fortschrittlicher Menschen, und gut wäre, wenn es möglichst lange nicht verschwände.

Und weiter wird sinniert, nachdem ihn Überdruss über das Sinnieren über die Hektik überfällt: „Doch genug davon. Anders steht es mit dem Wort Nichtigkeit. Das Wort hat sich für mich auf einmal mit tiefem Sinn erfüllt, und meine gesamte Erfahrung landete von allein an seinem Ufer.“ Auch in dieses Wort wühlt sich Bitow hinein und räsoniert vor- und rückwärts und hin und her. Er probiert aus, sucht herum, sucht Worte, Konstruktionen, die ihn gequält und unzufrieden zurücklassen:

Das Leben mit Menschen stellte sich Sergej insgesamt als eine Konstruktion aus Verdacht und Nichtwissen dar, diese Konstruktion sah er als so etwas wie verschlungene Rohrleitungen vor sich, eine Art Armatur, oder als dichtes Netz, in dem die Fäden der einen Richtung die Verdachtsmomente, die der anderen das Nichtwissen waren, und wenn diese Fäden sich in den Knoten überschnitten … Er verhedderte sich, die Metapher funktionierte nicht länger. Voneinander wissen wir ja überhaupt nichts, fuhr Sergej fort, selbst wenn wir hundert Jahre nebeneinander gelebt haben, wissen wir nichts, ahnen nur, unsere Schlüsse sind Luftschlösser, und diese Schlösser … Es scheint nur, als ginge es um die anderen, diese Luftschlösser gehen – um einen selbst. Wir wissen natürlich, das schon. Aber fast gar nichts mit der materiellen Zuverlässigkeit des Sehens. Und ständig verlangen wir nach dieser Materialität, ständig forschen wir weiter, daher auch der Zweifel, aufgrund dieses Mechanismus  – um sich mit eigenen Augen zu vergewissern.

Aber muss jemand, der so etwas schreiben kann, sich selbst quälen, unzufrieden mit sich sein? Man wäre froh, man könnte das nur viertel so gut. Und überdies: Irgendwann dann aber löst sich die Blockade – aber wodurch? Nun, mir schien, durch so etwas Zentrales, aber auch Diffuses wie Lebendigkeit. Und woher kommt die? Vielleicht ist sie ausgelöst durch eine Flirterei oder durch die genauere Beobachtung des kleinen Sohnes, der ihn rührte und dessen Neugierde bei der Betrachtung eines Fussels ihn anfixte? Es wird noch eine Weile dauern, ohne dass Sergey/Bitow das näher erläutern, der eine in der Erzählung, der andere im tagebuchartigen Skizzenbuch, bis er in das stille Glück der Datsche und des Schreibens einkehrt:

An den Abenden, wenn er, leergeschrieben, mit einem leichten, unwirklichen Klingen im Kopf hinunterstieg und mit seiner Frau Tee trank, dachte er, eben das nenne sich Glück. Er schaltete das Radio ein, und eine Französin sang ihr Liedchen, der Tee war stark und heiß, seine Frau – unendlich ihm vertraut, […] war bei ihm, und nirgendwohin musste Sergej von ihr wegfahren, und der Sohn schlief noch nicht und streckte ihnen ein Spielzeug entgegen … Und es kam Sergej vor, als sei das jener Frieden und jene Stille, an die er sich sein Leben lang erinnern würde – denn wer weiß, wie sich das Leben noch wenden könnte.

Aus Nichts ist nicht nur etwas geworden, auf dem Nichts des weißen Papiers sind Wörter erschienen, aber es sind nicht nur Wörter entstanden, sondern, und was kann man besseres wünschen, Leben und Schreiben kamen in Einklang.

Titelbild

Andrej Bitow: Leben bei windigem Wetter.
Aus dem Russischen von Rosemarie Tietze.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2021.
153 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783518225264

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