Ein Stich ins Rattennest

In „Surazo“ erkundet Karin Harrasser einen bemerkenswerten Aspekt der nationalsozialistischen Emigration nach Lateinamerika

Von Sascha SeilerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sascha Seiler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Geschichte um Leni Riefenstahls nach Bolivien ausgewanderten Kameramann Hans Ertl und dessen Tochter Monika, die sich dort einer linken Guerilla-Bewegung angeschlossen hat und 1973 auf offener Straße erschossen wurde, ist einer der seltsamsten transatlantischen Erzählungen überhaupt. Allerdings steht sie symptomatisch für die Infiltration rechter lateinamerikanischer Regierungen durch ehemalige Nationalsozialisten, vor allem in den 1970er Jahren, und dient somit nicht zuletzt auch als Ausgangspunkt für eine tiefergehende Auseinandersetzung mit diesem immer noch viel zu unbekannten Kapitel deutsch-südamerikanischer Geschichte.

Vor einigen Jahren hat der bolivianische Schriftsteller Rodrigo Hasbún mit Die Affekte einen sehr bewegenden Roman über Monika Ertl und ihren Vater geschrieben, der, wohl aufgrund der deutschen Grundthematik, nicht nur ins Deutsche übersetzt wurde – für einen bolivianischen Schriftsteller eine mittlere Sensation –, sondern sogar bei einem großen Verlag erschien. Auch gibt es die eine oder andere Dokumentation über die Familiengeschichte der ausgewanderten Ertls, doch so intensiv wie die österreichische Kulturwissenschaftlerin Karin Harrasser hat sich noch niemand mit dieser auseinandergesetzt. Und so zufällig, wie Harrasser an die Geschichte geraten ist, so tief taucht sie dafür beim Auffinden immer neuer Fäden und Verbindungen in den immer tieferen Sumpf ein und gerät an weitere Details – wohlwissend, dass am Ende ihres Buches nur ein Bruchteil einer Geschichte erzählt wurde, die viel weiter reicht als die Biographie eines letztlich selbst ernannten Ethnographen und seiner revoltierenden Tochter.

2020 veröffentlichte Hannes Bahrmann mit Rattennest ein aufschlussreiches Buch über Nazis in Lateinamerika und die berühmt gewordene „Rattenlinie“, über die sie nach der deutschen Niederlage 1945 in verschiedene lateinamerikanische Länder flohen und sich dort, oft gar nicht mal allzu verdeckt, neue Identitäten zulegten. Bahrmann konzentriert sich hierbei vornehmlich auf die nach Argentinien Geflüchteten und wie die Regierung Juan Peróns enge Verbindungen nicht nur zu Nazi-Deutschland, sondern auch noch jahrelang zu seinen Geflohenen unterhielt. Leider endet das Buch in den 60er Jahren, die Geschichte ging jedoch noch lange weiter, wie nicht zuletzt auch Roberto Bolaño in seinem fiktiven Literaturlexikon Die Naziliteratur in Amerika treffend darstellt.

Während also die nationalsozialistische Emigrationsgeschichte nach Argentinien, Chile und Paraguay weitgehend bekannt ist, scheint der Exodus nach Bolivien immer ein wenig unter dem Radar geflogen zu sein. Das ist insofern bemerkenswert, als dass immerhin mit Klaus Barbie einer der größten Kriegsverbrecher Exil in Bolivien gefunden hat und von dort aus recht ungeniert unter neuem Namen weitergewirkt hat; mutmaßlich als illegaler Waffenhändler und Berater rechtsgerichteter Regierungen. Und es sind gerade diese bolivianischen Verbindungen, denen Harrasser in ihrem Buch nachgeht, und dabei Erstaunliches zutage fördert.

Zunächst einmal ist es eine sehr persönliche Überraschung, welche der Autorin bei ihren Recherchen widerfährt und die das Narrativ der engen transatlantischen Vernetzung nationalsozialistischer Kreise stützt. Während Harrasser nämlich über das Schicksal der Ertls in Bolivien recherchiert, tauchen plötzlich enge Verbindungen in ihre Heimatstadt Kufstein auf, die sie zuvor einfach übersehen hatte. Dort nämlich wohnte bis zu seinem Tod 1982 der ehemalige Wehrmachtsoffizier und Schlachtflieger Hans-Ulrich Rudel, der als einer der Strippenzieher des Nazi-Exodus nach Lateinamerika angesehen wird und der beispielsweise Josef Mengele zur Flucht verhalf. An Rudel erinnert eine Fliegerskulptur vor seinem Haus, über die sich Harrasser nie größere Gedanken gemacht hatte, bis sie bei ihrer Recherche in Bezug auf Bolivien auf diese Verbindungen stieß. Und es sind genau diese zufälligen Entdeckungen von Verbindungen und Vernetzungen, die ihr Buch, das sie nach dem eiskalten bolivianischen Südwind, dem Surazo, benannt hat, so spannend und lesenswert machen, ihm aber gleichzeitig eine – absichtliche – Aura des Unfertigen, Fragmentarischen verleihen.

Dem Rätsel um Monika Ertl, die als Vergeltung auf den (mutmaßlich von ihr begangenen) Mord an dem rechtsextremen Politiker, früheren Polizeioberst und damaligen Generalkonsul in Hamburg, Roberto Quintillana, von Regierungstruppen auf offener Strasse ermordet wurde, hängen bereits zahllose Verzweigungen in andere politische Narrative an. So war Quintillana derjenige, der einst die Amputation der Hände Che Guevaras nach dessen Tod angeordnet hat. Involviert in den Mord an Monika Ertl war wiederum kein Geringerer als Klaus Barbie, der in Bolivien mittlerweile unter dem Namen Klaus Altmann lebte und dort als Berater der Sicherheitskräfte (und mutmaßlich als Waffenhändler) agierte. Barbie/Altmann wiederum war mit der Familie Ertl, vor allem mit Hans Ertl eng verbunden.

Doch auch abseits der zentralen Fragen dieses Buches: Wie konnten so viele hochrangige Nazis so frei leben und agieren (und zum Teil sogar den BND beraten)? Was führte zur Radikalisierung Monika Ertls, die mit linken Guerilla-Gruppen in den bewaffneten Kampf zog? Und welche Rolle spielte dabei Hans Ertl? Gerade die Untersuchung seines Lebensweges nach der Emigration ist höchst lesenswert, da Harrasser sich viel Zeit nimmt, auch die Filme zu analysieren, die Ertl in Bolivien drehte, und die ein zweischneidiges Schwert sind: Einerseits ernsthafte Beschäftigung mit den indigenen Stämmen Boliviens, andererseits aber ethnographische Appropriation, ein Eindringen in den Lebensbereich der indigenen Völker zum Zweck einer postkolonialen Aneignung. Auch hier sind, wie schon beim Thema der nationalsozialistischen Emigration, die zahlreichen kulturellen Querverweise beeindruckend. Wer hätte schon eine Parallele zwischen Ertls filmischen Expeditionen und dem Tim & Struppi-Band Der Arumbaya Fetisch gesehen?

Gerade aufgrund seiner Zerrissenheit, seiner oft sehr subjektiven Sichtweise und der work-in-progress-Ästhetik ist Surazo ein beeindruckendes Buch und ein wichtiger Beitrag zur Erforschung der nationalsozialistischen Kolonisation Lateinamerikas im 20. Jahrhundert, die, das ist wohl die erschütterndste Erkenntnis aus dem Buch, auch eine Triebfeder zur Herausbildung rechtsextremer Diktaturen war.

Titelbild

Karin Harrasser: Surazo. Monika und Hans Ertl.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2022.
260 Seiten, 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783751803533

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