Vom Reichtum zur Verzweiflung?

Eine Auswahl aus Pier Paolo Pasolinis späten Gedichtbänden sowie Gedichte aus dem Nachlass sind auf Deutsch erschienen

Von Kai SammetRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Sammet

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit Pier Paolo Pasolini verbinden mich zwei widersprüchliche Erlebnisse. Vor Jahrzehnten lief im Kommunalen Kino in Stuttgart eine Pasolini-Filmreihe, musste ich sehen, aber seine Filme blieben mir immer etwas fremd in ihrem – tja, wie soll ich sagen? – forcierten Archaismus? Doch hartgesotten wie man ist als Filmglotzer, guckt man das Geld dann auch weg und ab. Doch Pasolinis 120 Tage von Sodom war, wenn ich mich recht entsinne, der einzige Film, den ich je vorzeitig verließ. Andererseits: bis heute liegt noch die alte Wagenbach-Ausgabe der Pasolinischen Freibeuterschriften herum mit ihrem lila Schriftzug und auch wenn es lange her ist, dass ich sie las, die Kritik am Konsumismus hat sich (hoffe ich) doch als archäologische Schicht in mir erhalten.

Nun also ist der Band Nach meinem Tod zu veröffentlichen mit dem Untertitel Späte Gedichte auf  Deutsch erschienen. Hier gleich eine nörgelige Anmerkung. Der Titel suggeriert, es handele sich um durchweg unveröffentlichte, aus dem Nachlass Pasolinis stammende Gedichte. Sensation! Sensation! Das ist nicht der Fall. Vielmehr enthält das Buch eine „Auswahl“ aus drei Gedichtbänden, die zwischen 1961 und 1971 auf Italienisch erschienen sowie „weiteren, zum Teil nachgelassenen Gedichten“. Der Titel selbst bezieht sich nicht auf irgendeine testamentarische Verfügung Pasolinis, sondern findet sich in Schizoide Mitteilung an die ANAC aus dem Jahr 1969, also sechs Jahre vor Pasolinis Ermordung. Darin sinniert er über den Titel seines nächsten Gedichtbands und meint: „Der naheliegendste Titel wäre […] ‚Nach meinem Tod zu veröffentlichen‘,/ aber wie könnte ich der Versuchung widerstehen, es schon vorher zu tun?“ Hier spielt einer herum, nichts mit Postmortem-Schwere.

So, genug an Verlagstralala herumgemeckert. Wie erwähnt, verschafft der Band zweisprachigen Zugang zu den Bänden La religione del mio tempo (1961), Poesia in forma di rosa (1964) sowie Trasumanar e organizzar (1971).

Manchmal ist es gut, einen solchen voluminösen Band nicht sofort ganz zu lesen, sondern zu blättern – und dabei machte ich eine etwas bedrückende Erfahrung.

Der erste Gedichtband, Die Religion meiner Zeit, beginnt mit einem kleinen Zyklus – Der Reichtum, der zwischen 1955 und 1959 geschrieben wurde. Da beschreibt der junge Pasolini – er ist 1922 geboren – voller Vitalität, Lebensgier, fast erzählerisch fließend unter anderem von (seinen) „Drei Obsessionen: Zeugnis ablegen, Lieben, nach Reichtum streben“:

Zwischen Horizonten, die das taube umbrische
Blau mit sonnigen Flussbetten überzieht,
und gepflügten Hügeln, die sich im Himmel
verlieren, so hell, dass sie die Hornhaut
ritzen, oder in Tälern, die sich zu leuchtenden
Buchten auftun, bist du unterwegs, ahnungsloses
Auto – für das ich nichts als Gewicht bin

Damals besaß Pasolini noch Reichtum, etwas, was er erstrebte, wollte, was ihm Reichtum war:

Aber in dieser Welt, die nicht einmal
Das Bewusstsein des Elends besitzt,
heiter, rau, des Glaubens bar,
war ich reich, besitzend!

Und was besaß er? Das sagt der Gedichttitel: Der Reichtum des Wissens, Wissen, Neugier, ihm „gehörten die Bibliotheken,/ Galerien, Werkzeuge jedes Lernens: Meine Seele/ zur Leidenschaft erwacht, barg bereits/ die ganze Kathedrale von Assisi“. Er ist gierig, für ihn gibt es „Das Privileg des Denkens“.

Später, nach der Übersiedlung nach Rom, wird ein anderer Reichtum sichtbar, er durchstreift die Gegenden. Da ist der Ton eines schnüffelnden, unruhigen, hungrigen Welpen, der alles riechen, sehen, (und vielleicht auch anbellen will), so im Gedicht Römischer Abend:

Wohin streifst du auf Roms Straßen,
in Omnibussen oder Trams, in denen die Menschen
heimfahren? Hastig, besessen, als läge
nun die geduldige Arbeit vor dir,
von der die anderen gerade zurückkehren?

Jetzt „liegt ganz Rom zu“ seinen „Füßen…“ Hier atmet er alles ein:

Ich nehme den Weg nach San Michele, zwischen niedrigem
Mauerwerk, beinahe Kasematten, grobkörnigen
Plätzen, über denen der Mond erstrahlt
wie über dürftigem Kies, Terrassen,
wo eine Nelke hervorschaut
oder ein Rautengewächs, das von Mädchen
im Nachthemd gegossen wird: Die stumme Luft
schickt ihre Stimmen von Haftinsassinnen
durch die Tuffsteinmauern mit Türen wie Luken
und gekrümmten zweibogigen Fenstern

War man mit Anfang/Mitte 20 mal so lebendig? Nicht wirklich (nicht mal im Kommunalen Kino). Und konnte man es dann so ausdrücken, dass man mit dem jungen Pasolini schnell gehend, begierig mit den Augen alles aufnehmend, nach San Michele (oder wo immer man selbst gewesen sein mag) gegangen wäre? Schon gar nicht. Und schon gar nicht, wenn man das italienische Original hinzunimmt (dessen Reime die Übersetzerin Theresia Prammer hier nicht mitübersetzt, aber das macht nichts, das Sinnliche, Begierige, das kriegt man gut mit in ihrer Übersetzung):

Imbocco San Michele, tra muraglie
basse, quasi di casematte, piazze
granulose su cui la luna abbaglia
come su decrepita ghiaia, terrazze
dove occhieggia un garofano
o una testa d’aruta, che ragazze
in vestaglia annacquano: e l’aria muta
porta le loro voci di prigioniere
tra mura di tufo con porte come buche
e bifore sbilenche.

Zweiter Gedichtband, von 1964: Dichtung in Form einer Rose. Etwas hat sich verändert. Schon wenige Jahre nach Religione findet sich ein selbstquälerischer Ton, ein Mischmasch aus Sentimentalität, Selbstaggression (bis zu Phantasien zu Automutilation, gar Selbstauslöschung) und Vitalität. Nehmen wir das Gedicht ohne Titel vom 25. April 1962:

Wenn ein Filmteam heute Nacht die Straßen
überschwemmt, bricht eine neue Epoche an.
Darum: Genieße auch diesen Schmerz.
Die Idee, einen Film über deinen Selbstmord zu drehen,
dröhnt durch die Jahrtausende … in der Vergangenheit schließt sie
an Shakespeare an … sie ist Sex, Übermacht der Libido, ihrer Süße …
Der Held ist abgeschlachtet:
Eine Luftblase bläht seine Haut,
er könnte fliegen vor lauter Angst.

Deshalb verwundert auch ein Gedicht mit dem Titel Una disperata vitalità: eine verzweifelte Lebendigkeit – und bestimmt ist es nicht nur eine Verzweiflung, nicht nur die, die sich gegen „neokapitalistischen Zynismus“ wehrt.

Und dann der dritte Gedichtband, 1971 erschienen: Trasumanar e organizzar, ein Titel, den Prammer klugerweise nicht ins Deutsche übersetzt – es käme doch schnell schief heraus, was Pasolini damit sagen will, wie sich aus einem Brief aus dem Jahr 1969 entnehmen lässt: „Übrigens“ werde, so Pasolini „der nächste Gedichtband eben Trasumanar e organizzar heißen. Mit diesem Ausdruck möchte ich andeuten, dass die andere Seite der ‚transumanizzazione‘, also der spirituellen Aszese, eben die Organisation“ sei.

Was könnte das meinen? Pasolini nimmt den Begriff des Transhumanen von Dante, der damit das Übersteigen der Grenzen des Menschlichen, das Anstreben oder Erreichen eines halbgöttlichen Status gemeint hat (wenn ich das richtig verstehe). Es ist dennoch schwer ersichtlich, was Pasolini damit genau sagen will. Aber vielleicht muss ich es auch nicht verstehen, sondern folge einfach meiner zunehmend irritierten Lektüre.

Zunehmend irritiert, weil sich in diesem Band etwas herauspresst, herauswühlt, das aber irgendwie kakophonisch bleibt. Ist das die richtige Formulierung? Eher nein, vielleicht lässt es sich besser mit einer Metapher beschreiben. Die Gedichte dieses Bandes wirken auf mich oft, als würden da Felsbrocken in einer Landschaft herumliegen und keiner weiß so recht (und ich unterstelle: Pasolini am wenigsten, aber was weiß ich denn), ob das eine Form annehmen soll, ob das jeweils Ganze, das da ein Gedicht ist, nicht einfach – ja, nicht ein Steinbruch von Ideen, sondern ein Trümmerhaufen ist. Zugleich wird immer wieder, wenn ich recht sehe, eine Verzweiflung umkreist, von der ich nicht weiß, ob sie noch so recht lebendig ist, Lebendigkeit zulässt. So zum Beispiel in Ein neuer Hofnarr wird geboren:

Was teile ich mit, wenn ich nichts mehr mitteile,
wenn ich, alles in allem, niemals etwas anderes mitgeteilt
habe als die Freude, das zu sein, was ich bin?

Und vorher hieß es (als stöße sich Pasolini an Steinen in sich selbst)

Ich befinde mich nicht mehr in Begleitung eines Gefühls.
Oder, besser, der Form eines Lebens (des meinen).
Bin an der letzten Haltestelle ausgestiegen.

Und weiter:

Ich habe das Gefühl nicht mehr,
das dafür sorgt, dass ich mich selbst bewundere.

Ich betrachte den Grund meiner Wörter
nicht mehr als einen wertvollen Grund, als Gnade,
als etwas Besonderes oder sonderlich Gutes.
 
Was teile ich nun mit, am Ende
meiner Karriere als Dichter, der sich, insgeheim,
für so unentbehrlich für die Menschheit hielt.

Ist also Pasolini von einem reichen Leben, verschiedenen Formen des Reichtums in zersplitterte Arten oder Formen der Verzweiflung gewandert? Das weiß ich nicht, ich hatte ja nur meine eigene, wie erwähnt zunehmend verunsicherte, beunruhigte Lektüre. Vielleicht konnte ich aber mit meinen Anmerkungen zumindest zu anderen Lektüren der späten Gedichte Pasolinis anregen.

Titelbild

Pier Paolo Pasolini: Nach meinem Tod zu veröffentlichen. Späte Gedichte.
Aus dem Italienischen von Theresia Prammer.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2021.
700 Seiten, 38,00 EUR.
ISBN-13: 9783518430095

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