Eine Familie am Rande des Zusammenbruchs
Una Mannions Debüt „Licht zwischen den Bäumen“ geht tief hinein in die US-amerikanische Provinz der 1980er Jahre
Von Martin Gaiser
Die fünfzehnjährige Libby erzählt in diesem eindringlichen und nahezu makellosen Debüt vom Sommer des Jahres 1981 am Valley Forge Mountain im US-Bundesstaat Pennsylvania. Es ist der letzte Schultag, ihre Mutter holt sie und ihre Geschwister von der Schule ab. Da sind die kleine Beatrice, die genaugenommen eine Halbschwester ist, da sie einen anderen Vater als die anderen hat. Ellen, zwölf Jahre alt und mit einem künstlerischen Talent gesegnet. Dann Thomas, 17 und nur noch mit Schwimmen und Naturwissenschaft beschäftigt und vorn auf dem Beifahrersitz die 18-jährige Marie, die nun, nach Abschluss der Schule, ihr Elternhaus verlassen und nach Philadelphia ziehen wird. Sie ist großer Musikfan, mit ihrem Outfit eifert sie Siouxsie Sioux nach, in „Philly“ wird sie erst einmal bei einer Freundin wohnen und in einem Plattenladen arbeiten. Im Auto ist es turbulent, alle quasseln durcheinander, es könnte ein schöner Abend und ein gelungener Start in die Ferien werden.
Könnte. Doch wir sind hier nicht in einer heiteren Familienkomödie, sondern in einem sehr aufwühlenden, spannenden und äußerst vielschichtigen Buch, das ebenso Merkmale eines Horrorromans aufweist wie auch solche des Psychothrillers und des Familiendramas. Denn die Mutter hinterm Steuer ist eine sehr besondere Person, nicht eben empathisch und liebevoll, sondern schnell überfordert. Als es im Auto etwas hitziger und wilder wird, sich ein Streit anbahnt und ein Wort das andere ergibt, schmeißt sie Ellen am Straßenrand raus. Alle Geschwister sind entsetzt, schließlich sind es noch gut acht Kilometer bis nach Hause und es dämmert bereits. Doch die Mutter bleibt hart und fährt davon.
Diese Aktion entwickelt eine Dynamik, die viele Personen, nicht nur die Familie Gallagher, mit sich reißen und verändern wird und am Ende der Sommerferien wird am Berg nichts mehr sein wie zuvor. Denn Ellen kommt nicht unbeschadet nach Hause, mitten in der Nacht taucht sie im Haus der schönen Mrs Boucher auf, bei der Libby immer freitags auf die beiden kleinen Jungs aufpasst, wenn deren Mutter ausgeht. Völlig überfordert ruft Libby ihre beste Freundin Sage an, gemeinsam päppeln sie Ellen wieder ein bisschen auf, nehmen ihr den ersten Schrecken, fragen sie, was passiert ist. Und Libby ruft daheim an im Wissen darum, dass ihre Mutter ohnedies nicht ans Telefon gehen wird. Marie geht ran und sie bringt einen weiteren Stein ins Rollen, indem sie Wilson McVay um Hilfe bittet. Dieser ist sofort zur Stelle, um die verschreckte Ellen nach Hause zu fahren. Doch Wilson McVay ist nicht eben das, was man einen Freund der Familie nennt, oh nein. Vielmehr ist er ein von düsteren Gerüchten umgebener junger Kerl, dem nachgesagt wird, die Haustiere der Umgebung umzubringen, mit Drogen zu handeln und keiner Auseinandersetzung aus dem Weg zu gehen.
Una Mannion zeigt anhand dieser Romanfigur, wie komplex soziale Gefüge sein können, wie schnell Abhängigkeiten und Anspruchshaltungen entstehen können, aber auch, wie sehr Gerüchte, Klischees und Vorurteile das öffentliche Bild eines Menschen prägen und wie beschwerlich es ist, dieses Bild zu korrigieren. Diese Korrektur muss auch der Leser von Licht zwischen den Bäumen vornehmen, da viele der Personen des Buches im Laufe dieses Sommers ihr Verhalten ändern, gut verborgene Facetten ihrer Psyche sichtbar und Geheimnisse auf schmerzhafte Weise gelüftet werden.
Doch zurück zu Familie Gallagher. Marie zieht endgültig aus, Ellen, die wieder einigermaßen in der Spur ist und ihrer Mutter von dem Schrecken jener Nacht nichts erzählt, möchte in ein Kunstcamp, Thomas, der Einzelgänger, verbringt die meiste Zeit daheim und im Schwimmbad und die pubertierende Libby hängt ein wenig dazwischen. Sie ist es, die die innigste Beziehung zu ihrem verstorbenen Vater hatte. Sie denkt oft an ihn, an seine Liebe zur Natur und zu den Büchern, an die Reisen in seine irische Heimat (eine von mehreren Parallelen zur Biografie der Autorin). Die Ehe ihrer Eltern war von vielen Streitereien geprägt, noch vor seinem frühen Tod haben sie sich scheiden lassen, er ging nach New York, wo er wohl sehr einsam war.
Das leidenschaftliche Verhältnis zur Natur, die genauen Beobachtungen hat er offenbar an sie weitergegeben, Una Mannion gelingen in ihrem Buch immer wieder eindrucksvolle Schilderungen der Landschaft um den Valley Forge Mountain. Und diese Landschaft ist es auch, die das Grauen und das Bedrückende in die Handlung bringt bzw. verstärkt, da es dort viele geheime Pfade und versteckte Plätze gibt, die waldreiche Gegend trägt ihr Übriges dazu bei. Wilson McVay kennt sich dort bestens aus, er macht es sich zur Aufgabe, den Kerl zu finden, der Ellen in der Nacht in sein Auto gelotst und ihr einen furchtbaren Schrecken eingejagt hat. Das ist typisch für diesen Hitzkopf, der eine solche Tat nicht unbestraft lassen kann, obwohl die Gallagher-Geschwister ihn nicht darum gebeten haben.
Und so gerät dieser Roman, der aus vielen kunstvoll miteinander verwobenen Geschichten von Freundschaft und Nachbarschaft, von Ehen und Familien besteht und der mehr ist als die Summe dieser einzelnen Erzählteile, zu einem spannenden Buch, das von Sühne und Gewalt, vom Fehlen jeglicher moralischer Werte, von Angst und Beklemmung erzählt. Da ist nichts zu viel, da ist alles am richtigen Platz mit der richtigen Gewichtung, Una Mannion beweist mit diesem Romandebüt eine bewundernswerte Souveränität in der Komposition, gut möglich, dass das Schreiben von Gedichten und Kurzgeschichten hier wertvolle Vorarbeit geleistet hat. Und vor allem an der Figur der Marie, aber nicht nur an ihr, wird das Faible der Autorin für Musik deutlich. Immer wieder flicht sie die Namen von Musikerinnen und Musikern ein, The Who, Mick Jagger und viele andere werden erwähnt.
Am Berg hörten alle Rock oder Heavy Metal, und ob man Creedence Clearwater oder Black Sabbath lieber mochte, entschied darüber, wer man war und mit wem man seine Zeit verbrachte. Meine Schwester war meines Wissens die Einzige, die auf Punk stand. Bei den anderen Mädchen der Schule galt sie als Freak.
Licht zwischen den Bäumen ist einer jener Romane, die man seinen besten Freunden empfiehlt, an denen man sich auch bei erneuter Lektüre erfreut und noch etwas entdecken kann. Er schürt die Hoffnung, da möge noch mehr von vergleichbarer Qualität kommen.
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