A Tale Of Two Pandemics
Denis Newiak bietet mit „Alles schon mal dagewesen“ eine Anleitung, Pandemie-Filme und -Serien als massenmedialen Ausdruck einer latent erzreaktionären Gesellschaft misszuverstehen
Von Martin Janda
Das Kino blickt auf sein Publikum – so ließe sich mit etwas Pathos das Foto auf der Einbandvorderseite von Denis Newiaks Alles schon mal dagewesen betiteln. Denn eine offenbar in der ersten Reihe eines Kinosaals sitzende Person blickt die Betrachter direkt an, während im Bildhintergrund ein Lichtschein darauf hindeutet, dass ein Projektor einen Film ausstrahlt. Das Bild insinuiert die Position der Betrachter auf der Leinwand, der neugierige Blick der vermummten Person zwingt die Betrachter in die Rolle des Betrachtungsobjekts.
Doch es ist nicht irgendein Kino, das den Blick auf die Betrachter zurückwirft, denn die Person ist in einen Dank der Bilderflut der letzten zwei Jahre allzu bekannt gewordenen medizinischen Schutzanzug gekleidet: Es ist das Pandemie-Kino, das die ehemals nur Zuschauenden mustert und beobachtet, wie sie mit der Corona-Krise umgehen. Entsprechend stellt der Untertitel der Studie – Was wir aus Pandemie-Filmen für die Corona-Krise lernen können – in Aussicht, in den dramatischen Erzählungen durchaus Lehrreiches zu entdecken. Denn, so stellt die Studie anfangs richtig fest, Kino und Fernsehen haben in der Vergangenheit in der Darstellung von fiktiven Pandemie-Szenarien Probesituationen des viralen Krisenfalls abgeliefert und seien als Mahnung und Anleitung zum Verhalten lange vor der aktuellen Pandemie in Erscheinung getreten.
Die Studie zieht Pandemie-Filme und -Serien der rund letzten 30 Jahre heran. Obwohl sich die Bewegtbildszenarien oftmals deutlich von der realen Krise im Grad der Gefahrenlage unterscheiden – als Beispiele seien I am Legend und The Walking Dead genannt, in denen eine Krankheit nicht einen überschaubaren Prozentsatz der Infizierten in Lebensgefahr versetzt und das gewöhnliche soziale Leben einschränkt, sondern aufgrund ausufernder Infektiosität und verheerender Symptomatik den Fortbestand der Spezies Mensch bedroht –, so lassen sich doch einige Situationen in den Produktionen finden, die trefflich auf die Corona-Pandemie vorbereiten konnten: panikartige Hamsterkäufe aus Sorge vor Lieferengpässen, der richtige Umgang mit Schutzbekleidung, das skrupellose Ausnutzen der Krisensituation zur Selbstbereicherung, das adäquate Begegnen der deprimierenden Situation der Isolation, indem weiterhin auf einen geregelten Tagesrhythmus und idealerweise körperliche Ertüchtigung nicht verzichtet wird.
Problematischer wird es bei Beobachtungen, die eine dystopische staatliche Reglementierung in der filmischen Krise zum Thema haben. So werden Fear the Walking Dead und Children of Men als Beispiele für eine übergriffige und autoritäre – will sagen: faschistische – Staatsgewalt in Pandemiezeiten präsentiert. Hierzu gesellen sich die Lehren aus 12 Monkeys und Outbreak, die Krankheiten als eigens geschaffene oder als natürliche Ressource für biologische Waffen thematisieren. Kritisch sind diese Beobachtungen jedoch nicht ob der filmischen Situationen an sich, sondern da sie konträr zu den allzu positiven Ausführungen über Film und Fernsehen zu Beginn der Studie stehen. Denn laut Studie seien Film und Fernsehen als wichtigstes Teilsystem der Wissenszirkulation von Verhaltensmöglichkeiten zu bewerten und dienten neben dem Prozess der gesellschaftlichen Modernisierung (S.20) vor allem dem Zusammenhalt einer Gesellschaft (S. 32).
Diese Überhöhung von Film und Fernsehen mag auf den ersten Blick zu vernachlässigen sein, doch tatsächlich ist sie zentral für das Verständnis der Studie, da sie eine gehörige Filmgeschichtsvergessenheit zu Tage fördert, die das Fundament für eine allzu harsche Kritik an sozialen Netzwerken legt. Die Studie möchte soziale Netzwerke als Ort, der sich weitgehend auf die „Reproduktion von hochstilisierten Scheinrealitäten“ (S. 20) beschränkt, reduziert sehen – eine offensichtliche blumige Formulierung für dort zu findende fake news und Selbstinszenierung im Allgemeinen und während der Corona-Krise aufkochende, eine andere als die in den ‚Mainstream-Medien‘ dargestellte Realität vermutende Verschwörungstheorien im Speziellen.
Die sprachliche Rahmung sozialer Netzwerke als dysfunktionales Teilsystem der Wissenzirkulation greift die Studie im Zusammenhang mit Contagion erneut auf, wenn die egoistischen Machenschaften der von Jude Law gespielten Figur des online sehr aktiven und fake news verbreitenden Alan Krumwiede referiert werden (S. 42/43). Die aus dem Film gezogene Lehre bestätigt die in der Studie vorgefasste Meinung, dass das Internet ein Raum frei flottierender, falscher Informationen sei.
Dass Scheinrealitäten, basierend auf Fehlinformationen oder Fehldeutungen von validen Daten, keine Erfindung sozialer Netzwerke sind, hat Umberto Eco bereits in Das Foucaultsche Pendel eindringlich unter Beweis gestellt. Die Studie übersieht sowohl dieses Problem als auch den filmgeschichtlichen Einfluss auf besagte Scheinrealitäten. Man denke nur an einen ersten Tiefpunkt in der Verbreitung von Scheinrealitäten, der in nationalsozialistischen Filmen zu finden ist, die vermeintlich naturwissenschaftlich fundiert den Wert diverser Leben absprachen und damit die Auslöschung ganzer Bevölkerungsgruppen propagierten.
Doch man muss nicht nur auf staatlich gelenktes filmisches (Un-)Wissen zurückgreifen, sondern findet dieses auch in der Populärkultur: Dank Steven Spielbergs Kassenrenner Der weiße Hai musste die titelgebende Tierart lange mit dem Ruf der stets bereiten Tötungsmaschine hadern, der sich naturwissenschaftlich nicht halten lässt. Freilich handelt es sich hierbei zwar um eine Fehlinformation, nicht jedoch um eine Verschwörungstheorie. Hierzu wird man allerdings in zeitlicher Nachbarschaft mit Alan J. Pakulas Zeuge einer Verschwörung und Die Unbestechlichen fündig, die das filmische Fundament für weitere, beim Publikum erfolgreiche Produktionen wie JFK oder Akte X legten, die das Bild von nicht zu trauenden und die Öffentlichkeit manipulierenden Regierungen und Mediensystemen zementierten.
Höhepunkt einer paranoiden Weltsicht stellen die Matrix-Filme dar, die wortwörtlich eine allumfassende Scheinrealität thematisieren. Dass ausgerechnet die Symbolik der blauen und der roten Pille in Bezug auf ‚Schlafschafe‘ und ‚Erwachte‘ besonders in den Online-Sprachgebrauch eingeflossen ist, zeugt genauso vom Einfluss filmischer Werke auf manche Weltsicht wie Vaxxed, der auf den tönernen Beinen einer unzuverlässigen Datenbasis stehend Impfungen als sehr bedrohlich herausstellt, aber ob seines Erfolgs eine Fortsetzung erfuhr.
Zudem übersieht die Studie, dass die Figur des Verschwörungstheoretikers in Film und Fernsehen nicht selten in Form eines vermeintlich spinnerten David gegen den Goliath einer ihn abkapselnden Gesellschaft zelebriert und zur heilbringenden Figur hochstilisiert wird, wenn sich am Ende der Erzählung die Richtigkeit der verqueren Theorien bewahrheiten. Die Gelegenheit, diesen bedenklichen Einfluss im Rahmen ihrer Beobachtungen zu 12 Monkeys und dem darin von Bruce Willis gespielten Außenseiter und von allen als wahnhaften Irren betrachteten James Cole (S. 35–37) zu reflektieren, lässt die Studie ebenso ungenutzt wie das realweltliche Problempotenzial hervorzuheben, das die bereits erwähnten Produktionen Children of Men und Fear the Walking Dead haben, wenn sie als mögliche Handlungsanweisung für die irrige Annahme herhalten können, dass Regierungen aufgrund einer medizinischen Krisensituation ein faschistisches System errichten wollen. Eine Erklärung, inwieweit dies dem Zusammenhalt einer Gesellschaft dienlich sein soll, bleibt die Studie schuldig.
Besagte filmgeschichtliche Blindheit lässt sich zum Teil daraus ableiten, dass die Studie in ihren Beobachtungsobjekten keine Kritik am eigenen Medium entdecken kann. Das, was die Studie als Resultat von produktionsseitigem Qualitätsmanagement zur Optimierung des finanziellen Erfolgs als „erstaunliche Vertrauenswürdigkeit“ bezeichnet (S. 12), konstruieren Film und Fernsehen selbst durch Ausblenden der eigenen potenziellen Fehlerhaftigkeit. Doch was die unkritische Überhöhung von Film und Fernsehen und die überkritische Abwertung sozialer Netzwerke mit dem eigentlichen Thema der Studie und ihrer Implikationen zu tun hat, lässt sich nun erst langsam aufdecken, wenn man die bedauerlicherweise nicht genauer hergeleitete, zentrale Hypothese der Studie und ihre abschließend aus dem Film Perfect Sense gezogene Lehre aufeinander bezieht.
Besagte Hypothese sieht die Spätmoderne aufgrund Individualisierung, Digitalisierung und Säkularisierung von einem Einsamkeitsempfinden durchseucht (S. 30), während Pandemie-Filme und -Serien als Vertreter des Science Fiction-Genres unsichtbare Störungen des realweltlichen sozialen Status Quo aufgriffen, um diese durch Verfremdung wahrnehmbar zu machen (S. 23/24): Die gesellschaftliche, aber dennoch unsichtbare Störung Einsamkeit wird als filmische Analogie einer pandemiebedingt auseinanderbrechenden Gesellschaftsordnung kommuniziert. Exemplifiziert an Perfect Sense ließe sich diese tiefgehende gesellschaftliche Einsamkeit mit der Dankbarkeit für das eigene Leben überwinden, die in der Sehnsucht nach neuen sozialen Erfahrungen und schließlich umfassender Solidarität ihren Ausdruck fände (S. 112–114).
Solidarität als „unbedingtes Zusammenhalten mit jemandem aufgrund gleicher Anschauungen und Ziele“, wie es die Onlineversion des Duden ausdrückt, kann natürlich nur denk- und sagbar sein, wenn es mindestens je zwei unterschiedliche Anschauungen und Ziele gibt, so dass ein ‚wir‘ und ein ‚die anderen‘ definiert werden können. Je umfassender die Solidarität, desto größer das ‚wir‘ und desto kleiner das ‚die anderen‘. Die Studie stellt die Konstruktion eines ‚wir‘ in den Verantwortungsbereich der vermeintlich durch Glaubwürdigkeit glänzenden und gemeinsame Werte vermittelnden Film und Fernsehen, die Konstruktion ‚der anderen‘ in den Verantwortungsbereich der Scheinrealitäten und Disruptionen von Werten erzeugenden sozialen Netzwerke, die das gatekeeping anderer Mediensysteme vermissen lassen und einen mitunter problematischen Meinungspluralismus fördern.
Zusammen mit den beiden anderen in der Ausgangshypothese genannten Gründen für das spätmoderne Einsamkeitsempfinden – Individualisierung und Säkularisierung – lässt sich in Pandemie-Filmen und -Serien nun der verborgene Wunsch einer Gesellschaft nach einer Ordnung entdecken, die durch Informationskontrolle – und damit Meinungskontrolle – kollektiviert wird und ihren Glauben und Zusammenhalt in dieser Einheitsmeinung findet.
So erweist sich die Studie zwar in ihren aus diversen einzelnen Sequenzen gezogenen Lehren bezüglich der Pragmatik zum konkreten Schutz von Körper und Geist während einer Pandemie als durchaus gewinnbringend. Doch die in der Studie mitschwingende Frage, welche unterschwellige Bedeutung Pandemie-Filmen und -Serien inhärent sei, lässt sich ob der zweifelhaften Annahmen einer vermeintlichen pandemischen Einsamkeit in der Spätmoderne und der erstaunlich unreflektierten Behandlung von Film, Fernsehen und sozialer Medien nur ausgesprochen unzufriedenstellend beantworten. Denn wenn Pandemie-Filme und -Serien tatsächlich die gesellschaftliche Sehnsucht nach einer reaktionär geordneten postpandemischen Welt ausdrückten, wäre die Aussicht auf eine dauerhafte Corona-Pandemie gar nicht so erschreckend.
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