Was der Schlaf hervorbringt

In „Das Traumbuch. Postkarten aus dem Schlaf“ bebildern Martin Walser und Cornelia Schleime nächtliche Abenteuer rund um den Bodensee

Von Günter RinkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Günter Rinke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Auch im hohen Alter frönt Martin Walser weiter seiner Leidenschaft, Sätze zu formen. Über ihre Verweisfunktion hinaus haben die Sätze eine Substanz, ein Eigengewicht, eine Struktur, einen Klang und – nicht zu vergessen – eine grafische Form, sie nehmen auf Buchseiten Raum ein und können das Auge des Lesers erfreuen oder abschrecken. Thomas Bernhard schuf bis zu seinem letzten großen Roman absatzlose, ehrfurchtgebietende Textblöcke, die dem Auge keinen Ruhepunkt boten. Martin Walsers Sätze sind im Alter kürzer, luftiger geworden, sie haben eine Tendenz zur elliptischen Verkürzung, verdichten sich in Strophen, Aphorismen, Notaten, Sentenzen und sind in den Büchern Spätdienst (2018) und Sprachlaub (2021) angereichert und bereichert durch Arabesken und Aquarelle der Tochter Alissa.

In einem Interview sagte Walser einmal, Schreiben sei für ihn wie Atmen. Wenn also der Atem kürzer werde, müssten seine Sätze auch kürzer werden. Andererseits bleibt er sich treu: Das erste Buch mit Notaten, Meßmers Gedanken, erschien bereits 1985, und Meßmers Reisen, eine Art Fortsetzung, 2003. Das Traumbuch, laut Klappentext eine Zusammenstellung von Traumprotokollen aus den letzten fünfundzwanzig Jahren, fügt sich inhaltlich in das Gesamtwerk ein, enthält aber äußerlich Neues: Texte und Bilder stehen in einer engen Beziehung zueinander, man könnte es einen Dialog aus wechselseitig einander erhellenden Sprach- und Bildelementen nennen. Inhaltlich: Nachdem viele seiner Romane mit dem Aufwachen des Protagonisten begonnen haben, ist es nur konsequent, dass der Autor jetzt einen Einblick in das gibt, was ihm vor dem Aufwachen widerfährt oder widerfahren ist.

Unvergesslich ist die Aufwachszene am Anfang von Halbzeit (1960), die aus der Metapher „Schlafzwiebel“ entwickelt wird. Wenn diese „Schale um Schale zerteilt“ wird, ist die Grenze zwischen Nacht und Tag, zwischen Schlaf und Wachzustand noch längst nicht aufgehoben. Gut zwei Seiten Text sind nötig, bis es heißt: „Meine Lider kippten. Ich ergab mich. Ein Gefangener der Sonne für einen weiteren Tag.“ Auch hier war zwischen langen Satzperioden bereits elliptische Verkürzung zu finden. Vielleicht noch berühmter ist die Aufwachszene in dem Roman Jenseits der Liebe (1976), in der die physische Anspannung des Tagesgeschäfts auch das Aufwachen beherrscht, weil die Nacht keine (Er-)Lösung gebracht hat: „Als Franz Horn aufwachte, waren seine Zähne aufeinandergebissen. Ober- und Unterkiefer spürte er als gewaltige Blöcke.“

Im Traumbuch zeigt sich nicht nur, wie das Leben im Wachzustand in den Schlaf hineinwirkt und im Traum transformiert wird, sondern diese Vorgänge werden auch reflektiert. Versuche zur psychoanalytischen Traumdeutung im Sinne Sigmund Freuds lehnt Walser ab. Träume seien bebilderte körperliche Vorgänge, meint er. Sie bedürften auch deshalb keiner Deutung, weil sie sich den Stoff, den sie brauchten, direkt holten, also, so ist es wohl gemeint, ohne Rücksicht auf die Schranken der Konvention bzw. Befehle des Über-Ichs oder Impulse des Unterbewusstseins (von dem Walser schlicht sagt, das gebe es nicht, was man durchaus anders sehen kann). Das schließt aber Peinlichkeitsgefühle im Traum nicht aus, insbesondere wenn es um Ausscheidungen oder Sexualität geht.

Das Nachdenken über dieses Buch schließt die Frage ein, inwiefern es überhaupt interessant sein kann, Aufzeichnungen von Träumen eines Menschen, den man nicht kennt, zu lesen. Manche Leute sagen ja, nichts sei langweiliger als die Träume von anderen. Allerdings steht Walser mit seinem Traumbuch nicht allein, man denke beispielsweise an Adornos (allerdings posthum veröffentlichte) Traumprotokolle (2005) und Michel Leirisʼ Nuits sans nuit et quelques jours sans jour (dt. Lichte Nächte und mancher dunkle Tag, 1961). Vielleicht sind die Träume berühmter Schriftsteller schon deshalb interessant, weil man durch sie hindurch auf die Menschen blickt, von denen man sich durch deren Bücher oder Medienauftritte ein Bild gemacht hat. Vielleicht kann der Autor durch Bekanntgabe seiner Träume dieses Bild zurechtrücken, modifizieren – oder er bestätigt es.

Walsers Träume lassen sich grob in zwei Gruppen einteilen. Einerseits sind es Träume, wie sie jedermann kennt, Angstträume von rasenden Auto- oder Motorradfahrten mit ungewissem, möglicherweise tödlichem oder auch glimpflichem Ausgang, Träume vom Fliegen und von Abstürzen, an deren Ende es schon einmal heißen kann: „Doch der Sturz wird sehr tief gehen, das sehe ich und sage zu Guido, dass es eben jetzt so weit sei!“ Träume, in denen körperliche Vorgänge als peinlich empfunden werden, wenn sie von anderen beobachtet werden. Sexuelle Wunschträume, bei denen, wenn sie sich zu erfüllen scheinen, bei Walser mehrmals die „Mama“ auftaucht. Ein verbreitetes Traummotiv ist das vom verpassten Zug, sodass man nicht rechtzeitig zur Arbeit oder nach Hause kommen kann.

Schließlich Träume vom Versagen bei der Berufsausübung, die natürlich je nach Profession unterschiedlich ausfallen. Dem Schriftsteller fehlt bei einer Lesung das richtige Manuskript, oder er kann die darin vorkommenden französischen Wörter nicht aussprechen. Er kommt zu spät zur Veranstaltung, in der er auftreten soll, oder er spielt in einem eigenen Stück mit und verpasst seinen Einsatz, obwohl die Souffleuse ihm das Stichwort mehrmals zugerufen hat.

Die zweite Gruppe ist spezifisch für den prominenten Intellektuellen, der häufig mit anderen Prominenten zusammentrifft und ihnen dann nachts wieder begegnet. Die Riege der in dem Buch Auftauchenden, die zu dieser Kategorie gehören, ist lang. Manches, was man dabei erfährt, ist erwartbar, anderes überrascht und fordert dann doch, entgegen der Intention des Autors zur Deutung heraus. Fast unvermeidlich ist es, dass Marcel Reich-Ranicki zwei Auftritte hat, man darf ihn wohl Walsers Intimfeind nennen. Das eine Mal kommt der Großkritiker „mit Gefolge“, darunter „eine Art Michel Friedman“. Der Ich-Erzähler – ist er eigentlich hier mit dem Autor identisch? – springt auf und ruft, dass er sich nicht von denen schlagen lasse. Sie sind nämlich, wie der Erzähler, mit dünnen Stöckchen ausgerüstet. Nach einem kurzen Gefecht verliert der Erzähler „irgendwie“. Beim zweiten Mal besiegt Reich-Ranicki sogar Walsers Tochter Franziska in einem TV-Quiz. Der Traum gipfelt in dem Satz: „Dann siegt er auch noch als Filmkritiker.“

Weitere Namen, denen meist typische oder als typisch geltende Verhaltensweisen zugeordnet werden, sind: Thomas Mann und sein Sohn (wahrscheinlich Klaus), Brecht (besorgt hinsichtlich der Länge seines Geschlechtsteils – aber es ist ja nur ein Traum), Günter Grass (von dessen neuem Buch „im Kulturbetrieb“ schon gesprochen wird, obwohl er erst zwei Kapitel geschrieben hat), Uwe Johnson (schimpfend), Max Frisch (Wein stehlend?), Arno Schmidt (plötzlich gleichaltrig und gar nicht so verehrungswürdig), Bernt Engelmann (ein Angst einflößender Riese), Joachim Kaiser (ein milder Kritiker, der allerdings auf der Toilette sexuelle Absichten hegt), Jürgen Habermas (Walser und er fallend, in enger Umarmung, einander rettend), Edgar Selge, der Schwiegersohn (der heiter über den Dingen steht), schließlich Siegfried (Unseld), der im letzten uns gebotenen Traum einen Probedruck des neuen Buchs mitbringt, einen Prachtband, der gebunden ist „wie ein Goldschnitt-Mess-Schott“, also das Messbuch der katholischen Kirche. Alexander Fest, dem Walser für die Auswahl und Anordnung der Texte dankt, hat diesen Traum sicher nicht zufällig an den Schluss gesetzt.

Der Traum könnte sich auf dieses nun vorliegende schön gemachte Buch rückbeziehen, das er abschließt. Der wichtigste Ort in den Texten ist Wasserburg, Walsers Geburtsort. Als Grundlage für die teils einseitigen, teils doppelseitigen farbigen Bilder nutzt Cornelia Schleime alte Postkarten aus der Bodenseegegend. Einige davon sind mit Unterschriften versehen, welche auf Konstanz, Schloss Meersburg, Überlingen, den Rheinfall usw. verweisen. Die meisten Postkarten könnten aus Walsers Kindheit stammen und reflektieren insofern einen seiner Sätze über das Wesen der Träume: „Im Schlaf werden älteste Daten von jüngsten geweckt. […] Darum liefert die Kindheitszeit den Träumen die meiste Nahrung.“

Wenn die Postkartenbilder, die teils ganz, teils ausschnitthaft wiedergegeben werden, die ältesten Daten repräsentieren, so stehen die Aus-, Um- und Übermalungen für die jüngsten. 

Das können schemenhafte Figuren, hingetuschte Flecken, Flächen oder aus Landschaften herauswachsende Pinselstriche sein, die den Charakter der Bilder ins Surreale, Traumhafte verändern. Viele Motive sind erotischer Natur: ein riesiger Phallus ragt aus einer braunroten Wiese, eine Frau mit nackten Brüsten schwebt über dem See usw. Besonders beeindruckend ist ein doppelseitiges, in düsteren Farben gehaltenes Bild vom Rheinfall (bei Schaffhausen), auf dem das teils rotgefärbte Wasser aus dem Foto herausfließt; bei dem romantisch von Wolken nicht ganz verdeckten Mond bleibt unklar, ob er zur Postkarte gehört oder später hineingemalt wurde.

Der Band bietet also viel für das Auge und Texte, die konkret Vorstellbares mit abstrakt Gedanklichem verbinden. Die Traumprotokolle können auch als literarische Fiktionen rezipiert werden. Denn so, wie Autobiographien nicht nur darstellen, wie es wirklich gewesen ist, weil die Erinnerung lückenhaft ist und die Phantasie bemüht werden muss, damit ein Erzählfluss entsteht, so bedürfen auch erinnerte, oft nur fragmentarisch im Gedächtnis erhaltene Träume der Formung und Ergänzung, damit sie zum Stoff für stimmige Kurzprosa werden können.

Titelbild

Martin Walser / Cornelia Schleime: Das Traumbuch. Postkarten aus dem Schlaf.
Rowohlt Verlag, Hamburg 2022.
144 Seiten , 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783498003197

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