Wer ins Paradies kommen will, muss vorher sterben

Hany Abu-Assads Film „Paradise Now“ (2004) als Exempel der zwei Seiten einer Medaille: Krieg und Frieden

Von Bernd NitzschkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernd Nitzschke

Gott hat sein Versprechen erfüllt.
Wir, die Nachkommen Abrahams, haben das Land geerbt,
wir haben die Wüste zum Blühen gebracht,
wir haben es glorreich aufgebaut
.
Ehud Olmert, israelischer Ministerpräsident, 2008
bei seiner Ansprache zum 60. Jahrestag der Staatsgründung

Im Märchen von Dornröschen
reicht das Geschirr nur für zwölf weise Frauen.
Die dreizehnte Fee wird aus dem Schloss verjagt.
Die Kunst ist der Anwalt der dreizehnten Fee.
Alexander Kluge, Süddeutsche Zeitung, 13. April 2022

Das Märchen schert sich nicht um historische Wahrheiten. Es macht psychische Realitäten sichtbar, die es, wie im Märchen von Dornröschen, mit bunten Bildern ausmalt. Dieses Märchen beginnt so: Als ihm seine Gemahlin nach langem Warten endlich doch noch ein Kind gebar, da war der König überglücklich. Er lud alle zu einem großen Fest ein, Verwandte, Freunde, Bekannte und die weisen Frauen seines Reiches, die dem Kind Segenswünsche erteilen sollten. Es waren aber dreizehn Frauen, doch weil der König nur zwölf goldene Teller hatte, von welchen sie essen sollten, musste eine von ihnen zuhause bleiben. Das Fest wurde mit großer Pracht gefeiert. Und als es zu Ende war, beschenkten die weisen Frauen das neugeborene Mädchen mit ihren Wundergaben. Als elf Frauen ihre Sprüche getan hatten, trat plötzlich die dreizehnte Fee herein. Sie wollte sich dafür rächen, dass man sie nicht eingeladen hatte, und ohne jemand zu grüßen oder anzusehen, rief sie laut: „Die Königstochter soll sich in ihrem fünfzehnten Jahr an einer Spindel stechen und tot hinfallen.“ Da trat die zwölfte Fee hervor, die ihren Wunsch noch nicht ausgesprochen hatte, und weil sie den bösen Spruch der elften nicht aufheben, sondern nur mildern konnte, sagte sie: „Es soll aber kein Tod sein, sondern ein hundertjähriger tiefer Schlaf, in welchen die Königstochter fällt.“

Im Märchen müssen allerlei Verwünschungen und Todesgefahren überstanden werden, doch am Ende steht die Erlösung. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute … Also leben sie ewig. Das Märchen erfüllt diesen Wunsch – den Wunsch nach Gerechtigkeit für die Gedemütigten. Im Märchen von Dornröschen versinnbildlicht die dreizehnte Fee den Wunsch nach Rache, den wohl jeder Mensch schon einmal verspürt hat, wenn er sich gedemütigt und erniedrigt fühlte. Meist genügen Rachephantasien, um wieder zur Ruhe zu kommen, doch allzu oft kommt es auch zu Rachetatenwie 2022 im Krieg gegen die Ukraine. Andreas Weber-Meewes hat die Bedeutung des Rachemotivs für den Krieg in der Ukraine vor dem Hintergrund der Lebensgeschichte Wladimir Wladimirowitsch Putins überzeugend analysiert (https://mcusercontent.com/8ec7ffb1ae657c2d7c4a4ef8a/files/688d7af4-24d7-79c0-e980-7a6b189cde9a/Krieg_oder.pdf – Aufruf: 19.04.2022). Putins „Wirken als Staatschef zielte […] von Beginn an wesentlich darauf ab, die vermeintliche Niederlage wettzumachen: Das angeblich erniedrigte Russland sollte sich ‚von den Knien erheben‘ und seine frühere Größe zurückgewinnen“, schreibt der ukrainische Historiker und Projektmitarbeiter der Gedenkstätte KZ Sachsenburg Mykola Borovyk (https://www.blaetter.de/ausgabe/2022/april/die-ukraine-ist-nicht-einmal-ein-staat – Aufruf: 27.04.2022). Ergänzend dazu kann man bei euronews diese Nachricht finden: „Als Rache für den Untergang des russischen Kriegsschiffs ‚Moskwa‘ – Flaggschiff der russischen Schwarzmeerflotte – hat Russland mit einer Intensivierung der Angriffe gedroht“ (https://de.euronews.com/2022/04/16/untergang-des-russischen-kriegsschiffes-moskwa-rache-und-gedenkmarken – Aufruf: 10.04.2022). Siehe dazu auch das Interview mit Fabian Bernhardt bei ZEIT online: „Wir täuschen uns, wenn wir glauben, die Rache überwunden zu haben“ (https://www.zeit.de/arbeit/2022-03/ukraine-krieg-rache-philosophie-fabian-bernhardt – Aufruf: 10.04.2022). Es ließe sich aber auch noch daran erinnern: Der von George W. Bush am 12. September 2001 als Vergeltung ausgerufene ‚Krieg gegen den Terror‘ forderte u.a. in Afghanistan und im Irak über eine Million Tote, aber keinen einzigen in Saudi-Arabien, das Land, aus dem die Attentäter kamen (und dessen Regierung Regimegegner öffentlich auspeitschen oder geheim zerstückeln lässt).

Vom Wunsch nach Rache und den beiden Möglichkeiten, mit diesem Wunsch umzugehen – auf Rache zu verzichten oder Rache zu üben – handelt auch Hany Abu-Assads vielfach ausgezeichneter Film Paradise Now, der u.a. 2005 den Großen Preis der Europäischen Film- und Fernsehakademie und 2006 den Golden Globe für den besten fremdsprachigen Film gewann. Paradise Now kommt der im Lexikon der Filmbegriffe gegebenen Definition des Melodrams ziemlich nahe. Dort heißt es: „Fluchtpunkt des melodramatischen Dramas ist immer eine extreme Idealvorstellung der Hauptfigur (Selbstbestimmung, Freiheit, individuelles Glück etc.), so dass die Entwicklung auch ein Feld potentieller Emanzipation abschreitet, auch wenn der Verlauf der Geschichten gerade vom Scheitern jener utopischen Hoffnungen erzählt. Das Thema ist […] eine Leidensgeschichte, eine Erfahrung des Scheiterns.“

Die drei Hauptfiguren des Films – Suha (dargestellt von der in Brüssel geborenen marokkanisch-spanischen Schauspielerin Lubna Azabal), Khaled (dargestellt von dem in Nazareth geborenen und an der Schauspielschule in Tel Aviv ausgebildeten israelischen Palästinenser Ali Suliman) und Said (dargestellt von dem als Sohn einer deutsch-christlichen Mutter und eines arabisch-muslimischen Vaters in Israel geborenen Schauspieler Kais Nashef) – teilen diese Erfahrung des Scheiterns, wenngleich in sehr unterschiedlicher Weise: Suha verliert Said, den sie liebt; Khaled verliert Said, mit dem er seit seiner Kindheit befreundet ist; und Said verliert sich in der Vergangenheit, die ihn an seinen Vater fesselt, der als israelischer Kollaborateur von einem palästinensischen Kommando hingerichtet worden ist. Said will diese Schande, die sein Vater über die Familie gebracht hat, durch sein Selbstopfer als Märtyrer – sprich: als Selbstmordattentäter – tilgen.

Die Dreharbeiten des Films begannen in Nablus, einer Stadt, die seit den 1980er Jahren mit israelischen Siedlungen umbaut wird. Am 2. Juni 1980 verübte die Terrororganisation Jüdischer Untergrund dort ein Bombenattentat, bei dem Bassam Shakaa, dem palästinensischen Bürgermeister der Stadt, beide Beine abgerissen wurden. Moshe Zar, ein mit Ariel Scharon, dem damaligen Landwirtschaftsminister und Förderer des Siedlungsbaus in den besetzten Gebieten eng befreundeter jüdischer Extremist, wurde wegen dieses Anschlags zu drei Jahren Gefängnis verurteilt, von denen er vier Monate absitzen musste, bevor er wegen ‚schlechten Gesundheitszustands‘ vorzeitig entlassen werden konnte …

Während der Dreharbeiten des Films explodierte dreihundert Meter von der Crew entfernt eine Landmine, und als dann ganz in der Nähe israelische Kampfhubschrauber auch noch ein Auto mit einer Rakete angriffen, verließen einige der Crewmitglieder den Ort fluchtartig. Die Dreharbeiten wurden in Nazareth fortgesetzt, einer Stadt, in der die Familie des heute in den Niederlanden lebenden Hany Abu-Assad seit Jahrhunderten zuhause ist. Zuvor hatten militante Palästinenser den Drehortleiter in Nablus entführt, der erst nach einer Intervention Jassir Arafats wieder freikam. Diese militante Gruppe hatte dem Regisseur vorgeworfen, sein Film sei anti-palästinensisch, weil er die Gewalt der Israelis nicht offen zeige, sondern nur metaphorisch andeute, wie beispielsweise in der Szene, in der die aus Europa in die besetzten Gebiete zurückkehrende Suha an einem Checkpoint einem schwerbewaffneten israelischen Soldaten gegenübersteht, der sie wortlos demütigt, indem er sie mit Blicken straft.

Die an der Bundeswehrhochschule in Hamburg für Politische Wissenschaft zuständige Professorin Antonia Schmid erhob wie die militanten Palästinenser den Vorwurf der Einseitigkeit – allerdings in umgekehrter Richtung. Sie warf Hany Abu-Assad „fehlende Visualisierung des Attentats und seiner [jüdischen] Opfer“ vor, womit er die Niedertracht palästinensischer Selbstmordattentäter zu verschleiern versucht habe. In einem Vortrag, den sie 2010 im Rahmen eines vom Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände in Nürnberg organisierten Symposiums mit dem Titel Antisemitismus ohne Ende? Propaganda und Provokation im Film hielt, bezeichnete sie den bei der Berlinale 2005 von Amnesty International ausgezeichneten Film Paradise Now als „Paradebeispiel für den alt-neuen Antisemitismus der Gegenwart“ (https://www.yumpu.com/de/document/view/8334954/terror-als-tragodie-paradise-Now-in-rezeption-und – Aufruf: 10.04.2022).

Andere sahen Hany Abu-Assads Film, der 2006 als bester ausländischer Film für einen Oskar nominiert wurde, mit anderen Augen. So die in Nigeria, in einem Land, dessen Einwohner die Geschichte des Kolonialismus anders erinnern als die meisten Europäer, geborene britische Soul- und Jazz-Sängerin Sade Adu. Sie kommentierte den Film Paradise Now mit ihrem Song Love is found, wobei sie sich im Text des Liedes immer wieder auf die Augen bezog: „I know my eyes already like you / Baby you, I know that love, love is found / Love is found …“ (https://www.youtube.com/watch?v=zFGoQ4ECkzg – Aufruf: 10.04.2022). Das Musikvideo von Sade Adu endet so wie der Film – mit der Großaufnahme der Augen Saids, der mit einem Sprengstoffgürtel um den Leib geschnallt und von israelischen Soldaten umgeben in einem Bus an den glänzenden Fassaden der Hochhäuser von Tel Aviv vorbeifährt. Ein letzter Blick in Saids Augen – und dann ist die Leinwand weiß und leer und jeder kann die Leere mit seinen eigenen Phantasien ausfüllen. Wird sich Said im Bus in die Luft sprengen? Oder wird er sich doch noch anders entscheiden – nämlich so, wie sein Freund Khaled, der Suhas Argumenten gegen die Anwendung terroristischer Gewalt folgte und sich für das Leben im alltäglichen Elend der besetzten Gebiete anstatt für das Weiterleben im Paradies entschieden hat?

Ja, Paradise Now ist nicht nur ein Melodram, der Film ist auch ein Politthriller, dessen Ausgang bis zum Ende offenbleibt – und der den heiligen Ernst der potentiellen Märtyrer immer wieder in tragikomischen Szenen auflöst. So etwa, wenn Said nach dem ersten gescheiterten Versuch, das geplante Attentat auszuführen, in einem armseligen Restaurant schwitzend auf einer Kloschüssel sitzt und sein Hemd hochhebt, unter dem sein Sprengstoffgürtel sichtbar wird. „Es ist doch Gottes Wille“, spricht er sich Mut zu. Und den braucht er ja auch, wenn er die Angst überwinden will, die ihm den Weg ins Paradies schwer macht. Offenbar kannte der Regisseur das Cinema of Transgression Manifesto, das der Undergroundfilmer Nick Zedd 1985 in New York veröffentlichte, sehr gut – oder Abu-Assad hatte eine eigene kongeniale Version im Kopf, als er seinen Film konzipierte. Das Kino der Überschreitung spielt mit der Grenze, die den Horror vom Humor trennt und beide so miteinander verbindet, dass dem Zuschauer der Schrecken beim Lachen im Halse stecken bleibt. Dann muss er nach Luft schnappen, um nicht jenseits von Gut und Böse zu ersticken. Wer ist Täter, wer ist Opfer? Die Antwort überlässt der Regisseur den Zuschauern. Sie können die Ambivalenzen, die sie beim Besuch des Films erleben, durchleben – oder sie greifen sicherheitshalber auf die Urteile zurück, die sie schon hatten, bevor sie den Film sahen, und befreien sich mit Hilfe ihrer Vor-Urteile von der Anspannung, die die Bilder des Films auslösen. Dann ist alles – Täter und Opfer, Schuld und Unschuld – wieder in (vertrauter) Ordnung.

In einem Interview sagte Abu-Assad: „Wir befinden uns in einer Zeit, in der die Mehrheit der Menschen eine von zwei Ansichten über Selbstmordattentäter hat: entweder sind die Attentäter Kriminelle oder Superhelden. […] Der Film zwingt die Zuschauer nicht dazu, ihre Position zu ändern. Er ermöglicht ihnen lediglich, Dinge zu erleben, die sie in ihrem eigenen Leben nie erleben würden. Er hat also Feinde auf beiden Seiten. Wir stören ihre etablierten Wahrnehmungen.“ Nachdem der Film ins Kino kam, verteilten Menschen, die sich als Freunde (der Politik) Israels verstanden, Flugblätter in Wien mit der Überschrift „Paradise NO! Judenmord für 7 Euro“. Die Kinobesucher wurden wie folgt aufgeklärt:

Sie haben eine Kinokarte für den Film „Paradise Now“ von Hany Abu-Assad gekauft. Dieser Film verharmlost und legitimiert die Ermordung unschuldiger Menschen durch so genannte Selbstmordattentäter, deren mörderische Handlungen noch immer als Verzweiflungstaten entschuldigt und deren zahlreiche Opfer verschwiegen werden. Allein in Israel wurden zwischen September 2000 und Februar 2005 durch Selbstmordattentate 731 Zivilisten getötet und 4998 verwundet.

Der Film „Paradise Now“ zeigt die Opfer der Anschläge nicht. Er zeigt Verständnis für die Täter. Der Regisseur des Films Hany Abu-Assad erklärte in einem Interview: „Die Selbstmordanschläge sind eine Folge der Unterdrückung, die zuerst aufhören muss. […] Ich bin gegen die Tötung von Menschen, und ich will das stoppen. Aber ich verurteile die Selbstmordattentäter nicht. Für mich ist das eine sehr menschliche Reaktion auf eine extreme Situation.“ […] Mit dem Besuch dieses Films unterstützen Sie diese verharmlosende Sichtweise. (https://www.cafecritique.priv.at/pdf/noParadise.pdf – Aufruf: 10.04.2022)

Soweit das Urteil aus Wien. Uri Avnery, der Gründer der israelischen Friedensorganisation Gush Shalom, der 2003 gemeinsam mit Sari Nusseibeh, dem damaligen Präsidenten der Al-Quds Universität in Ost-Jerusalem, den Lew-Kopelew-Preis für Frieden und Menschenrechte erhalten hat (http://werkblatt.at/nitzschke/text/Friedenspreis_Uri.htm – Aufruf: 10.04.2022), kam zu einem anderen Urteil. Nachdem Paradise Now beim Internationalen Filmfestival in Haifa 2005 und in israelischen Programmkinos gezeigt worden war, schrieb er: „Der Film stellt eine Frage, die jeden in Israel – und vielleicht in der ganzen Welt beschäftigt: […] Wie kann jemand am Morgen aufstehen und beschließen, dass er sich mitten in einer Menschenmenge in Jerusalem oder Tel Aviv in die Luft sprengt?“ Der Film beantworte diese Frage „nicht mit Slogans, nicht mit Propagandareden oder mit einer akademischen Untersuchung. Er predigt nicht, lobt nicht und wird nicht wütend. Er erzählt eine Geschichte. Die Geschichte sagt alles.“ Und so beschrieb Uri Avnery die Reaktionen, die er beim „Hinausgehen aus dem Tel Aviver Filmtheater“ wahrgenommen hatte: Die Zuschauer waren „still und nachdenklich. Das erste Mal in ihrem Leben haben sie die Terroristen gesehen, die uns töten, die sich selbst unter Kindern, Männern und Frauen in die Luft sprengen. Sie sehen wie gewöhnliche Jugendliche aus. Sie benehmen sich und reagieren wie gewöhnliche Leute. Nun sieht man die Besatzung von der anderen Seite, von der unteren Seite“ (http://www.aurora-magazin.at/gesellschaft/avnery_rache_frm.htm – Aufruf: 10.04.2022). Feinde führen Kriege. Und Feinde müssen endlich Frieden schließen, wenn sie nicht endlose Kriege führen wollen.

Am 13. September 1993 wurde in Washington das Abkommen unterzeichnet, das zum Frieden zwischen Israelis und Palästinensern führen sollte. Im Oktober 1994 erhielten Jitzchak Rabin,  Schimon Peres und Jassir Arafat deshalb den  Friedensnobelpreis. Der israelische Ministerpräsident Rabin bezahlte dafür später mit seinem Leben (er wurde am 4. November 1995 von einem religiösen jüdischen Fanatiker bei einer Friedenskundgebung in Tel Aviv erschossen). Im Februar 1994, also nur wenige Monate nach der Unterzeichnung des Abkommens, mähte der aus den USA eingewanderte jüdische Extremist Baruch Goldstein in einer Moschee bei Hebron (in der Höhle des Patriarchen – angeblich die Grabstätte Abrahams)  29 Palästinenser mit einem Sturmgewehr nieder. Als Vergeltung hierfür verübten Anhänger der Hamas im April 1994 zwei Selbstmordattentate auf israelischem Staatsgebiet. Bevor Goldstein weitermorden konnte, wurde er von in der Moschee anwesenden Gläubigen mit einem Feuerlöscher erschlagen. Radikale jüdische Siedler verehren Goldstein bis heute als Märtyrer. Die Inschrift auf einem Denkmal, das sie in Hebron errichteten, lautete: „Hier ruht der Heilige Dr. Baruch Kappel Goldstein, gesegnet sei das Andenken dieses aufrichtigen und heiligen Mannes, möge der Herr sein Blut rächen, der seine Seele den Juden, der jüdischen Religion und dem jüdischen Land geweiht hat. Seine Hände sind unschuldig und sein Herz ist rein.“ Im Dezember 1999 wurde dieses ‚Denkmal‘ auf Anweisung der israelischen Regierung beseitigt. „Kurz darauf feierten Goldstein-Anhänger am 6. Jahrestag der Tat an Goldsteins Grab in Kiryar Arba eine Art Purim-Party in Kostümen wie Armee-Uniformen, Arztkitteln und falschen Bärten“ (https://de.wikipedia.org/wiki/Baruch_Goldstein – Aufruf: 10.04.2022).

Was geht in den Köpfen von Selbstmordattentätern vor? Der israelische Psychologe Ariel Merari hat mit Palästinensern gesprochen, die gefangen genommen werden konnten, weil ihre Bomben nicht explodierten. In einem Interview sagte er: „Wir haben den Attentätern Fragebögen mit mehreren Antwortmöglichkeiten gegeben. Die meisten kreuzten an, dass die Besetzung der palästinensischen Gebiete und die damit verbundene Demütigung ihrer Nation für sie die wichtigste Motivation gewesen seien. Religion war […] nur ein Nebenaspekt“ (https://www.zeit.de/zeit-wissen/2010/06/Psychologe-Ariel-Merari/komplettansicht – Aufruf: 10.04.2022).

Im Film Paradise Now spielt die religiöse Indoktrination der beiden jungen Automechaniker Khaled und Said dennoch eine – wenngleich ironisch inszenierte – Rolle. Man sieht sie erst einmal mit Jeans und krausen Haaren ungekämmt auf einem Hügel über Nablus sitzen, wo sie mit Hilfe einer geklauten CD Rockmusik aus einem Kofferradio hören – bevor sie im Auftrag einer islamistischen Terrororganisation zunächst fromm und dann geschoren und geschniegelt als potentielle Selbstmordattentäter nach Tel Aviv geschickt werden. Zuvor sollen sie auf einem Video aber noch das Bekenntnis ablegen, dass sie bereit sind, „den Weg des Märtyrers zu gehen“ (zu den Videotestamenten von Selbstmordattentäter/innen siehe: https://www.researchgate.net/publication/355010503_Das_Selbstmordattentat_im_Bild_Aktualitat_und_Geschichte_von_Martyrerzeugnissen – Aufruf: 21.04.2022). Man sieht jetzt Khaled, in der einen Hand eine Maschinenpistole, in der anderen ein Papier mit dem vorgeschriebenen Text, den er mit monotoner Stimme abliest: „Wir haben alles versucht, um friedlich den Abzug der Israelis zu erreichen. […] Aber trotzdem baut Israel auf arabischem Boden noch immer mehr Siedlungen, treibt in Jerusalem die Judaisierung voran und führt ethnische Säuberungen durch. […] Wir müssen unsere Minderwertigkeit akzeptieren oder wir müssen sterben. Ich bin Märtyrer […].“ Doch plötzlich wird Khaleds Vortrag unterbrochen. Die Kamera streikt, die das Video aufnehmen soll. Nach kurzer Pause setzt er dann erneut an: „Im Namen des Allbarmherzigen […].“ Wieder wird er unterbrochen. Die Kamera ist noch immer nicht in Ordnung. Khaled rastet aus: „Bist du blöd, du Idiot!“, brüllt er den Kameramann an. Pause. Nächster Anlauf. Khaled will den Text erneut vorlesen, doch da sieht er, wie die Auftraggeber der Märtyreraktion gelangweilt an ihrem Fladenbrot kauen. Khaled unterbricht irritiert die heilige Mission und sagt gedankenversunken in die Kamera: „Liebe Mutter, bevor ich’s vergesse, es gibt Wasserfilter bei Mokhtar, die sind besser und billiger […]. Geh nächstes Mal zu ihm.“ Jetzt sind die fladenbrotkauenden Märtyrer-Rekrutierer irritiert. „Das soll mit aufs Video?“ Khaled entschuldigt sich: „Nein, ich wollte sie [die Mutter] nur darauf hinweisen, tut mir leid.“ Khaled liest den Text jetzt noch einmal vor. Schnitt. Dann tritt Said mit seinem Sprengstoffgürtel um den Leib vor die Kamera und sagt: „Wir haben nichts als unsere Körper.“ Und die sollen sie opfern, um die Ehre ihres Volkes wieder herzustellen?

Den Titel des Films Paradise Now assoziierten einige Rezensenten mit Francis Ford Coppolas Antikriegsfilm Apocalypse Now. Meiner Ansicht nach liegt die Assoziation mit Peace Now jedoch sehr viel näher. Diese 1978 von israelischen Reserveoffizieren ins Leben gerufene Friedensbewegung dokumentiert Menschenrechtsverletzungen und widerrechtliche Landenteignungen in den besetzten Gebieten (https://peaceNow.org.il/en – Aufruf: 10.04.2022). Einer der Gründer von Peace Now war Yuval Neria. Im Yom-Kippur-Krieg von 1973 wurde er für seine Tapferkeit mit dem höchsten militärischen Orden Israels ausgezeichnet. Heute lehrt er an der Columbia University in New York Medizinische Psychologie. In zahlreichen Studien (die er u.a. mit israelischen Veteranen und Überlebenden der Selbstmordattentate des 11. September in den USA durchführte) hat Yuval Neria die Folgen traumatischer Erfahrungen erforscht. Dazu gehören nicht nur zeitlich begrenzte posttraumatische Belastungsstörungen (PTBS), sondern auch langanhaltende depressive Reaktionen, generalisierte Angsterkrankungen und Borderlinestörungen, die mit Wut und Hass sowie dem Wunsch einhergehen können, die passiv erlebte Gewalt später aktiv zu wiederholen.

Jedes Selbstmordattentat erzählt eine andere – und doch immer wieder die gleiche Geschichte. So kostete zum Beispiel das Attentat vom 4. Oktober 2003 im Restaurant Maxim in Haifa, bei dem sich die 29jährige Rechtsanwältin Hanadi Tayseer Jaradat in die Luft sprengte, 21 Menschen das Leben, darunter drei israelische Palästinenser, die in diesem Lokal arbeiteten, und je fünf Mitglieder von zwei jüdischen Familien mit Kindern. Die Attentäterin stammte aus dem Flüchtlingslager Jenin. Als sie 21 Jahre alt war, wurde ihr Verlobter von der israelischen Armee getötet. Dasselbe Schicksal traf später einen ihrer Cousins und einen ihrer Brüder.

Jüdische und palästinensische Hinterbliebene, die durch Attentate der jeweils anderen Seite ein Familienmitglied verloren, haben sich im Kreis der trauernden Eltern für den Frieden zusammengeschlossen (https://www.theparentscircle.org/en/pcff-home-page-en/ – Aufruf: 10.04.2022). Rami Elhanan, der als Soldat am Krieg von 1967 teilgenommen hat, gehört zu diesem Kreis. Sein Vater hat Auschwitz überlebt. Seine Großeltern und sechs weitere Verwandte wurden von Deutschen ermordet. Sein Schwiegervater nahm als General 1948/49 am jüdisch-arabischen Krieg teil. Seine Tochter fiel als Fünfjährige dem Selbstmordattentat eines Palästinensers zum Opfer. Und heute? Heute ist Rami Elhanan der Auffassung, Israelis und Palästinenser seien Opfer von Politikern, die Hass und Gewalt mit Hass und Gewalt beantworten – und dafür die Taten der jeweils anderen Seite als Rechtfertigung anführen.

Wer sich – wie die Mitglieder von Peace Now – für Frieden einsetzt, der sollte von Gewalt verschont bleiben, sollte man meinen. Das ist jedoch ein Irrtum. Um nur ein Beispiel zu nennen: Emil Grünzweig, der Sohn einer Auschwitzüberlebenden, der als Soldat am Sechstagekrieg, am Jom-Kippur-Krieg und am Libanonfeldzug teilgenommen und sich später der Peace Now-Bewegung angeschlossen hat, wurde bei einer Friedenskundgebung in Jerusalem 1983 von einer Handgranate zerrissen, die ein rechtsradikaler Israeli in die Menge warf. Sein Eintreten für Verständigung mit den Palästinensern wird inzwischen durch den Emil Grünzweig-Menschenrechtspreis geehrt, den die Vereinigung für Bürgerechte in Israel verleiht (https://www.english.acri.org.il/ – Aufruf: 10.04.2022). Neun weitere Teilnehmer der Friedenskundgebung 1983 in Jerusalem wurden verletzt, darunter der Peace Now-Mitbegründer und Parlamentsabgeordnete Avraham Burg, der die Regierung von Ariel Scharon 2003 in einem Zeitungsartikel (http://friedensbewegung.zionismus.info/shalom-achshav/burg.htm – Aufruf: 19.04.2022) mit der Alternative konfrontierte: entweder weitere Unterdrückung eines großen Teils der Bevölkerung (der Palästinenser in Israel und in den besetzten Gebieten) oder echte Demokratie (gleiches Recht für alle Bürger).

Man hat sich daran gewöhnt, den Nahostkonflikt als eine Auseinandersetzung zwischen (jüdischen) Israelis und (muslimischen und christlichen) Palästinensern darzustellen. Diese Sicht verdankt sich einer vereinfachten Geschichtskonstruktion. Denn von Anfang an gab es auf allen Seiten nicht nur Befürworter einer strikten Abgrenzung nach ethnisch-religiösen Kriterien, sondern auch Befürworter einer friedlichen Koexistenz. Doch bis heute hatten und haben die religiösen Fanatiker und politischen Extremisten im ‚Heiligen‘ Land größeren Einfluss als die zum Frieden bereiten Menschen – wie die Auseinandersetzungen auf dem Tempelberg zu Ostern 2022 erneut bewiesen. Es soll nur ‚einen‘ Gott geben – aber nicht für alle.

Im Film Paradise Now sagt Said, der sich seines Vaters schämt, der als Kollaborateur die Sache der Palästinenser verraten hatte, zu Suha, sie könne sehr stolz auf ihren Vater sein, der für „unsere Sache“ (die der Palästinenser) gestorben sei und deshalb als „Held“ verehrt werde. Darauf antwortet die Tochter dieses Heldenvaters: „Ich wollte, er würde noch leben, von dem Stolz habe ich nichts.“ Und in dem von Amos Oz und Avraham Shapira herausgegebenen Buch Man schießt und weint (1970) sagt eine jüdische Mutter, deren Sohn im Sechstagekrieg von 1967 gefallen ist, in dessen Folge Jerusalem wieder ‚vereint‘ wurde: „Die ganze Westmauer [die Klagemauer – B.N.] ist mir nicht einen Fingernagel von Micha wert.“ Es „sind nur Steine. Und Micha war ein Mensch. Und wenn man heute die Westmauer mit Dynamit sprengen würde und dies Micha wieder lebendig machte, dann würde ich sagen: ‚Sprengt!‘“

Paradise Now
Palästinensische Autonomiegebiete / Niederlande / Israel / Deutschland / Frankreich 2004
Regie: Hany Abu-Assad
Darsteller: Kais Nashef, Ali Suliman, Lubna Azabal.
Länge (deutsche Synchronfassung): 90 Min.