Verzweiflung als Realität, Erlösung als Hoffnung

Eine deutschbaltische Gymnasiastin erlebt das Ende des Ersten Weltkrieges in Riga

Von Jens FlemmingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Flemming

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

1917 war im Ersten Weltkrieg das Jahr der Peripetie und der weltpolitischen Umwälzungen. Die USA schlugen sich, was bereits lange zu erwarten war, auf die Seite der Alliierten, in Deutschland mehrten sich die Stimmen für einen Frieden ohne Annexionen und Kontributionen, in Russland brach im März die Revolution aus, zunächst bürgerlich-sozialdemokratisch, dann ein paar Monate später bolschewistisch bestimmt. Riga, die Hauptstadt des Ostseegouvernements Livland, war seit 1915 nur 30 Kilometer von der Front entfernt. Im September 1917 wurde es von deutschen Truppen besetzt. Das war der eigentliche Auftakt einer länger währenden turbulenten Leidenszeit, der Krieg endete hier nicht mit der deutschen Niederlage, sondern nach etlichen Wirren, Kämpfen in verschiedenster Konstellation, revolutionären Aktionen und Reaktionen nach den Wahlen zur verfassunggebenden Nationalversammlung im Frühjahr 1920. Schon vorher, im November 1918, hatte der lettische Volksrat Lettland zur unabhängigen Republik erklärt, die einstweilen jedoch eine prekäre, von russischer wie von deutscher Seite bezweifelte Existenz führte.

In Riga, dem Zentrum des neuen Staatsgebildes, war ein Völkergemisch zu Hause, Letten, Russen, Juden und Deutsche. Letztere machten 1913 knapp unter 20 Prozent aus, hatten politisch, wirtschaftlich und kulturell jedoch – trotz der seit den 1890er Jahren forcierten Russifizierung – nach wie vor eine tragende, der Herrschaft des Zaren indes loyal verbundene Rolle. Hier wurde im November 1904 Dagmar Kopfstahl geboren, Tochter einer deutschbaltischen, gut situierten Familie, die im März 1917 (gerechnet noch nach dem julianischen Kalender) zur Feder griff.

Das Jahr, notierte sie, sei derart „ereignisreich“, dass sie beschlossen habe, Tagebuch zu schreiben. In der Schule, einem deutschen Gymnasium, fiel an diesem Tag der Unterricht aus. Zusammen mit einer Freundin besuchte sie daraufhin den Gottesdienst. Als die Mädchen die Kirche verließen, sahen sie zahlreiche Militärs, geschmückt „mit roten Schleifen“. Der Schlitten der Familie, der auf sie gewartet hatte, brachte Dagmar nach Haus. Unterwegs stiegen zwei Soldaten zu, auf einer der Straßen, die passiert wurden, geriet das Gefährt ins Schleudern, alle fielen herunter, niemand jedoch verletzte sich. „Weiter gab es nichts Interessantes mehr“, lautet die lakonische Schlussbemerkung.

Der erste Eintrag ist in mancher Hinsicht typisch für den Duktus der folgenden. Der Ton ist zumeist nüchtern, selten wechselt er über ins Pathetische – obwohl die Gründe dafür zahlreich waren. Dagmar Kopfstahl berichtet das, was sie sieht, notiert aus Zeitungen und anderen Quellen Gelesenes, von den Eltern, von Mitschülerinnen und Nachbarn Gehörtes, darunter auch Gerüchte, Falschmeldungen und Irrtümer.

Gleich am 10. März, einem Feiertag, konstatiert sie, dass sie persönlich nicht Wesentliches erlebt habe. Daher wiederhole sie nur, was andere mitgeteilt hätten. So sei ihre russische Lehrerin am Denkmal Peters des Großen vorbeigekommen. Oben auf dem Sockel habe ein Mann gestanden und verkündet, fortan seien alle Menschen Brüder. In den Händen habe er eine rote Fahne gehalten. Als er herabstieg, hätten ihn die Umstehenden auf die Arme genommen, auf einen aus dem Fenster herabgeworfenen Stuhl gesetzt und durch die Stadt getragen. Das wirkt, als hätte ein einfacher Bürger, gleichsam symbolisch, die Position des abgedankten Zaren eingenommen, als repräsentiere nun er und nicht mehr die Dynastie der Romanows die neue, die revolutionäre Zeit, in der sich ankündigte, dass von der zusammengestürzten Monarchie in Zukunft nichts oder nur wenig in Geltung bleiben würde. Diese Episode wird unter Verzicht auf schmückendes Beiwerk präsentiert: ohne eigene Gedanken und Gemütsbewegungen, fast so, als sei das Geschehen nicht nah, sondern noch weit entfernt.

Dagmar Kopfstahls Tagebuch war länger als ein Menschenalter verborgen. Es dauerte bis 2000, ehe Ojars Sparitis, damals an der finnischen Universität Jyväsküla als Gastlektor tätig, von einem Kollegen das Manuskript bekam, das er einstweilen aber bloß im Bücheregal verstaute. Dort überwinterte es erneut, ehe es wieder hervorgeholt und 2018 im Umfeld der Feier zum hundertsten Jahrestag der lettischen Unabhängigkeit auf wiedererwachtes Interesse stieß. Mit Anmerkungen und Aufsätzen zu historischen Kontexten versehen, wurde es 2020 in Riga publiziert und danach ins Deutsche übersetzt.

Im Juni 1923, mit dem Erwerb des Abschlusszeugnisses, brechen die in dieser Sammlung dargebotenen Aufzeichnungen ab. Die frischgebackene Abiturientin entschied sich für ein Studium an der Stuttgarter Kunstgewerbeschule. Nur noch einmal kehrte sie in ihre alte Heimat zurück, um 1924 der Beerdigung ihrer Mutter beizuwohnen. Sie blieb in Deutschland, 1927 heiratete sie einen Lehrer, ihren Vater sah sie nur noch zwei Mal, ehe dieser 1940 als von den Nationalsozialisten umgesiedelter Baltendeutscher in Torun, dem ehemals westpreußischen Thorn, stirbt.

Von Schicksalen wie dem von Dagmar Kopfstahl, überhaupt vom Baltikum und den dort lebenden Deutschen, ist in der Bundesrepublik wenig bekannt. Insofern verdient die kommentierte Veröffentlichung der Tagebuchblätter Anerkennung. In ihnen spiegeln sich die wechselvollen, nur schwer überschaubaren Ereignisse in der Phase des Umbruchs. Das Mädchen war wie ihre Eltern tief verankert in einer Kultur und einer Mentalität, in der man sich eins wusste mit Deutschland und der deutschen Sprache. Dass sich darauf die Sympathien richteten, also auf das, was als das eigentliche Vaterland empfunden wurde, wundert kaum. Die Stellen, in denen das zum Ausdruck kommt, sind zahlreich. 

Anfang September 1917 heißt es, dass deutsche Truppen in Riga einmarschieren. „An diesem Tage“, jubelt Dagmar Kopfstahl, „sind alle Deutschen Brüder.“ Ein Jahr später, kurz vor der Proklamierung eines unabhängigen Lettland, erinnert sie sich daran. Kaiser Wilhelm II., den man „sehnlich“ erwartete, habe „Erlösung“ gebracht. Um so größer war die Enttäuschung, als die deutschen Truppen vor den lettischen Verbänden aus Riga im November 1919 weichen mussten. „Es ist aus“, kommentiert das Mädchen. Schon das klinge „furchtbar“, aber „noch schrecklicher“ sei die „Bedeutung“. Sie liege „wie ein Stein“ auf ihrer Brust. Die Deutschen, auf denen als „Retter“ die „ganze Hoffnung“ ruhte, seien fort. „Ich weiß nicht, wie ich diese Niederlage ertragen soll und diesen Triumph der Letten.“

Auf vergleichbares Misstrauen stießen die kommunistischen Truppen, die eine Zeit lang in Riga in der Vorhand waren. Die einzelnen Kampfhandlungen werden nicht systematisch beschrieben, registriert werden jedoch die immer wieder zu hörenden Schüsse. Bisweilen sind die Granateinschläge sehr nah. Hin und wieder wird gestreikt, Anfang Februar 1920 sind es die Bäcker: „Dann gibt es kein Brot.“

Vorurteile gegen Vertreter der Linken sind an der Tagesordnung. Am 19. Januar 1919 hält die Tagebuchschreiberin den Tod von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg fest. Sie seien „gehenkt“ worden, erklärt sie und fügt an: „Ist ihnen ganz recht und von Herzen zu wünschen.“ Kurz darauf greift sie das Thema noch einmal auf und wiederholt die von den deutschen Militärs verbreitete Version, wonach nicht die Soldaten, sondern die Opfer verantwortlich gewesen sein sollen. Liebknecht sei geflohen und deshalb erschossen, Luxemburg nach einem Schlag auf den Hinterkopf von der umstehenden Menge aus dem Auto gezerrt und mit unbekanntem Ziel verschleppt worden.

Mitte Mai 1919 versteckt Dagmar ihr Tagebuch vor einem Suchkommando bolschewistischer Milizionäre, der Vater war verhaftet, aber bald wieder freigelassen worden. Die Geschichte, die er nach seiner Rückkehr erzählt, wird ausführlich referiert. Am Ende des Monats durften die Schülerinnen nach vier Monaten zum ersten Mal vor den Stunden wie früher beten. Auch Religionsunterricht fand wieder statt. Der Pastor, heißt es, habe „schön“ gepredigt: „Er sprach von der wahren Freiheit und von der Freiheit der Bolschwiken.“ Daran schloss sich das Lied Ein feste Burg an. Ein halbes Jahr später erinnert sich Dagmar Kopfstahl an das Reformationsfest, das allerdings „ganz“ in Vergessenheit geraten sei. „So gleichgültig ist man jetzt geworden.“

Das Tagebuch reflektiert ein unaufhörliches Auf und Ab, ist zwar keine zusammenhängende Chronik, gibt aber anschauliche, bisweilen eindringliche Bilder von den Ereignissen, die das Mädchen beschäftigen, mit Schrecken oder mit Hoffnung erfüllen. Sehr zu begrüßen ist daher am Schluss des Bandes der Beitrag von Elena Ilgmann, der das Geschehen zwischen 1917 und 1920 einordnet, dabei die für uns Heutige nicht immer einfach nachzuvollziehenden Beobachtungen des Mädchens systematisiert und in Kontexte setzt. Das ist für das Verständnis der Einträge unverzichtbar, die das Gemütsleben, die Empfindungen und die Erfahrungen einer Gymnasiastin offenbaren, vor allem aber auch deren eindringliche Interpretationen vom komplexen Werden der Republik Lettland und vom Los der davon betroffenen Deutschen, die damals ihre einstige Vormachtstellung unwiderruflich einbüßten.

Titelbild

Dagmar Kopfstuhl: Rigaer Tagebuch 1917-1920.
Akademische Verlagsbuchhandlung Friedrich Mauke, Jena 2021.
280 Seiten, 27,00 EUR.
ISBN-13: 9783948259051

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