Ausweglos – ist das Ende unausweichlich?

Reinhard Kaiser-Mühlecker wildert sich mit seinem Heimatroman „Wilderer“ in die Seele der Leser

Von Stefanie SteibleRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefanie Steible

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Oberösterreicher Reinhard Kaiser-Mühlecker nimmt seine Leser in diesem Roman mit in das Landleben seiner Heimat. Er, der selbst eine Landwirtschaft führt, wählt den jungen Bauern Jakob als Hauptfigur, der den Hof seiner Eltern mehr schlecht als recht betreibt und dafür weder innerhalb der Familie noch gesellschaftlich Anerkennung findet. Als er die Künstlerin Katja, die für ein paar Monate aus der Großstadt gekommen ist, kennenlernt, schreiben sich die beiden zunächst scheinbar aus Langeweile und Zeitvertreib. Doch Katja zeigt beharrlich Interesse an Jakobs Leben und er lädt sie schließlich widerwillig zu sich ein.

Anschließend macht Katja ein Praktikum bei ihm. Zunächst fällt dem Bauern auf, dass sie sich gar nicht so dumm anstelle. Vielmehr zeigt sie Jakob immer mehr Möglichkeiten auf, dem Hof zu neuem Schwung zu verhelfen. Schließlich werden die beiden ein Paar, heiraten und bekommen einen Sohn. Und auch der landwirtschaftliche Betrieb wächst. Sie bauen eine ökologische Tierhaltung auf, bald kommen Schulklassen und andere Besucher, um sich den Modellbetrieb anzusehen. Jakob ist, zusätzlich gestärkt durch die unerwartete finanzielle Unterstützung der Großmutter, plötzlich ein gemachter Mann, dem man respektvoll begegnet.

Er sollte also glücklich sein. Doch den jungen Mann fangen nach und nach dieselben düsteren Gedanken in seiner Ehe, die er aus seiner Jugendliebe heraus nicht verarbeitet hatte, genauso wenig wie die nicht mehr vorhandene Beziehung zu seiner Mutter. Auch wenn er mit ihr im selben Haus wohnt und den Küchentisch teilt:

Für ihn war es, als sähe eine Tote ihn an oder eine hässliche Puppe. Nein, er hatte nicht vergessen, wie sie ihn behandelt hatte, damals, als er ihre Hilfe so dringend gebraucht hätte; nein, nein; denn er vergaß nie etwas.

So gewinnen Zorn und Zweifel mehr und mehr Platz in seinem Kopf, und damit auch im Leben des Ehepaars. Der Protagonist kommt nicht zur Ruhe, immer grausamere Ideen durchziehen seinen Kopf und so wird er auch zunehmend ungerecht gegenüber Katja. Oder ist sein Verhalten nur gerecht, weil sie ihn – genauso wie seine erste Liebe mit 15 Jahren – nur getäuscht hat und alle außer ihm es sehen können? Das ist Jakobs misstrauische Annahme, und der Autor überlässt es seinen Lesern selbst, sich hierzu selbst ein Urteil zu bilden. Selbstzweifel, Hass und Existenzangst verbinden sich zu einem Psycho-Cocktail, der Jakob wieder an den gesellschaftlichen Rand treibt.

Als Katja mit dem Baby zu einem dreimonatigen Stipendienaufenthalt nach Hamburg abreist, ist der Bauer seinen Gedanken vollständig überlassen. Er kann sich nicht einmal mehr aufraffen, sie zu besuchen, obwohl er Eifersucht verspürt. Dennoch scheinen sich die beiden innerhalb ihrer Ehe auch immer ähnlicher zu werden. Einige Geheimnisse teilen sie und bauen sich ein Selbstbild auf, das sie noch enger zu verbinden scheint. Im Umgang mit Luisa, der unbequemen Schwester Jakobs, gelangen Katja und Jakob nach und nach zu einem stillen Übereinkommen, das auf einem gemeinsamen Ausflug beinahe in einem tödlichen Angriff auf das Familienmitglied endet.

Doch Jakob träumt immer öfter vom Ende all dessen, vom Finale des irdischen Lebens und kann die prekären familiären Verhältnisse, die er um sich herum vorfindet und die ihm verlogen vorkommen, nicht mehr einordnen. Ist seine egoistische Schwester Luisa vom rechten Weg abgekommen, oder ist es doch der mit einer älteren Frau lebende, scheinbar nur aufs Geld und den Alkohol bedachte Bruder Alexander? Jakob fällt es immer schwerer, all dies richtig zu bewerten.

Für das, was in der Welt und um ihn herum geschieht, interessiert er sich augenscheinlich nicht, aber dennoch wirkt dies zusätzlich verunsichernd auf den jungen Mann, der erkennt, dass er ohne seine Frau nicht mehr das wäre, was die anderen inzwischen in ihm sehen. Alles steht infrage und seine Befürchtungen wachsen, dass Katja ihn wieder verlassen und alles wie früher wird. Er findet erst seinen Frieden, als er das Vorherbestimmte der Situation zu erkennen glaubt:

Alles kam, wie es kommen musste, weil Er es bestimmt. Er hatte Katja bei der Hand genommen und zu ihm, Jakob, geführt. Er hatte ihnen das Kind geschenkt. Und Er hatte Katja wieder von hier weggeführt, als die Zeit dafür gekommen war…

Reinhard Kaiser-Mühlecker kommt mit diesem Roman seiner selbstauferlegten Verpflichtung nach, über die Welt zu berichten, aus der er kommt. Er beschreibt sie als unspektakulär, und das Leben auf dem Land als anstrengend und karg, ohne große Abwechslung. Vielleicht rührt daher die enge Verbundenheit zu seinen Hunden, die Jakob noch am ehesten zu verstehen scheinen. Doch auch sie enttäuschen ihn, weil sie trotz aller Erziehungsversuche zu wildern beginnen, indem sie Hühnern, Küken und Rehkitzen den Garaus machen.

Der Roman ist einerseits prosaisch verfasst, andererseits spricht die Situation für sich selbst. Diesen Gegensatz aufs Papier zu bringen, ist der große Verdienst des Autors, der nicht verurteilt, und wohl auch kein Verständnis schaffen will, sondern schlicht beschreibt, wie sich Jähzorn und Dunkelheit anfühlen können. Die Gründe für diese Disharmonie bleiben offen. Je näher das Buch auf sein unausweichliches Ende zusteuert, desto betroffener macht es und den Leser erfasst ein zunehmend beklemmendes Gefühl. So hinterlässt das Buch eine nahezu zerstörende Wirkung, ohne sich klischeehaft anzufühlen. Vielmehr zeigt es auf, dass manchmal im Leben einfach keine Alternativen bestehen. Fast plastisch fühlt sich dies an, so dass die Figuren noch lange lebendig bleiben.

Titelbild

Reinhard Kaiser-Mühlecker: Wilderer.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2022.
352 Seiten, 24 EUR.
ISBN-13: 9783103971040

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