Eine verschenkte Möglichkeit, die Literatur der DDR neu zu erzählen
„Autobiographisches Schreiben nach 1989“: Katarzyna Norkowskas Studie über Autobiographien ostdeutscher Schriftsteller
Von Marion Brandt
Eine Geschichte der DDR-Literatur zu schreiben, ist noch immer eine Herausforderung, und dies nicht nur aufgrund der Frage, welchen Status sie innerhalb der deutschen Literatur einnimmt. Übergreifende Erzählungen folgen oftmals den Veränderungen im Verhältnis von Literatur, Politik und Gesellschaft oder, etwas pathetisch gesagt, von Geist und Macht. Unter den Versuchen, die in der DDR entstandene Literatur neu zu betrachten, hat in den letzten beiden Jahrzehnten aber auch das Generationenmodell einige Aufmerksamkeit auf sich gezogen.
Bereits Wolfgang Emmerich unterschied in seiner Kleinen Literaturgeschichte der DDR (1996) vier Generationen von Schriftstellern in der DDR: 1) die bis ca. 1915 geborenen Antifaschisten, Emigranten und Altkommunisten, 2) die Schriftsteller, die bis 1930 geboren wurden, im Nationalsozialismus aufwuchsen und diesen oftmals mittrugen, 3) die nach 1930 Geborenen, die Krieg und Nachkrieg nur noch als Kinder erlebt hatten, und 4) die nach 1950 geboren Schriftsteller, nach Uwe Kolbes Gedicht(band) die „Hineingeborenen“. Emmerich stellte die generationellen Unterschiede allerdings nicht in den Mittelpunkt seiner Betrachtung und plädierte später auch dafür, die Veränderungen in der Literatur ostdeutscher Schriftsteller nach 1989 nicht allein mithilfe der Kategorie Generation zu untersuchen.1
Für Janina Ludwig und Mirjam Meuser, die 2009 den Sammelband Literatur ohne Land? Schreibstrategien einer DDR-Literatur im vereinten Deutschland herausgaben, hat der Generationenbegriff zwar eine zentrale Bedeutung, sie verknüpfen ihn aber mit einem zweiten Kriterium, nämlich dem des (literarischen) Engagements. Im Vorwort ihres Bandes entwickelten sie ein Generationenmodell, in dem sie Emmerichs Konzept etwas modifizierten und als fünfte Generation die zwischen 1959 und 1969 geborenen Autoren hinzunahmen. Ein weiteres Beispiel für Studien, die dem generationellen Ansatz folgen, ist die Monographie Systemumbruch und Lebensgeschichte. Identitätskonstruktion in autobiographischen Texten ostdeutscher Autoren (2015) von Katrin Löffler, die Autobiographien von Autoren zweier Generationen nach den Reflexionen über die Umbrüche von 1945 und 1989 befragt: der Schriftsteller, die bis zum Ende der 1930er Jahre geboren wurden (von ihr als „Generation 45“ bezeichnet) und der sogenannten Wendekinder, also der in den 1970er geborenen Autoren.
Die Thorner Germanistin Katarzyna Norkowska hat mit der Studie Autobiographisches Schreiben nach 1989. Generationelle Verortung in Texten ostdeutscher Autorinnen und Autoren einen neuen Versuch unternommen, die Literatur von Schriftstellern aus der DDR mithilfe des Generationenkonzepts zu erzählen. Ihrer Untersuchung legt sie das soziologische Modell zugrunde, das Thomas Ahbe und Reiner Gries in ihrer Geschichte der Generationen in der DDR und in Ostdeutschland. Ein Panorama (2007) und weiteren Publikationen vorgestellt haben. Sie unterscheiden eine „Generation der misstrauischen Patriarchen“ (1890–1915), die „Aufbau-Generation“ (1929–1935), eine „funktionierende“ (1935–1949), „integrierte“ (1950–1959) und „entgrenzte“ Generation“ (1960–1972) sowie die Generation der „Wende-Kinder“ (1973–1984).
Nach obligatorischen Kapiteln zu theoretischen Voraussetzungen (Überlegungen zum Verhältnis von Literatur und ‚Wende‘, zum Generationenkonzept und zur Problematik der Autobiographie) ist die Studie dem Modell von Ahbe und Gries folgend chronologisch aufgebaut. Norkowska referiert kommentierend in jedem Kapitel autobiographische Texte von zwei oder drei Autorinnen und Autoren, die sie als repräsentativ für die jeweilige Generation ansieht. Ähnlich wie Katrin Löffler interessiert sie sich dafür, wie Schriftsteller verschiedener Generationen ihre DDR-Biographie nach der Zäsur von 1989 reflektieren und mit der „‘Wende‘ als Störerfahrungen der Identität“ umgehen (zu diesem Ansatz passt allerdings nicht die Auswahl von Stephan Hermlins Abendlicht von 1979 und Stefan Heyms Nachruf von 1988). Sie untersucht ferner, welches Verhältnis die Schriftsteller vor dem Umbruch von 1989 zur DDR hatten.
Die Autobiographien dokumentieren ein breites Spektrum an individuellen Positionen, das von Identifikation mit DDR und Sozialismus über Pragmatismus und Anpassung bis hin zu Indifferenz und Distanzierung vom Staat reicht. Bei ihrer Untersuchung folgt Norkowska den Selbstdarstellungen der Autoren (Ausnahmen sind Stephan Hermlin und Erwin Strittmatter, deren öffentliche Selbstbilder schon früher in Zweifel gezogen wurden). Inwieweit nach 1989 geschriebene Autobiographien imstande sind, Auskunft über das Verhältnis der Schriftsteller zur DDR zu geben, wird von ihr nicht reflektiert. Müsste man die Texte nicht mit Dokumenten und Publikationen abgleichen, die in der DDR entstanden sind, also zwischen den Positionierungen eines Autors zu DDR-Zeiten und seiner späteren, möglicherweise selektiven, schönfärbenden, legitimierenden Erinnerung an sie unterscheiden?
Auch das Konzept von Ahbe und Gries dient Katarzyna Norkowska weniger zum besseren Verständnis der ausgewählten Texte. Sie schreibt vielmehr umgekehrt die Autobiographien in das soziologische Generationenmodell ein. Dafür drei Beispiele:
1) Das fünfte Kapitel „Im Gleichklang mit dem Lebensrhythmus der DDR. Die Aufbau-Generation (1925–1935)“ endet mit der Feststellung, dass es den Schriftstellern dieser Generation am Idealismus der älteren antifaschistischen Schriftsteller mangelte und unter ihnen „eher das pragmatische Arrangement“ überwog. Diese Einschätzung trifft gewiss nicht auf Hermann Kant und Christa Wolf zu, deren Texte Norkowska in diesem Kapitel untersucht. Sie gleicht der Charakteristik der Generation durch Ahbe und Gries, die von „pragmatische[m] Engagement“ sprechen: „Ein großer, vielleicht der größte, Teil der Aufbau-Generation hat sich gewissermaßen unpolitisch für die DDR engagiert […]. Eher als Pragmatiker versuchten sie, ihre Sache gut zu machen […].“2 Die Soziologen übersehen dabei keineswegs die wenigen Ausnahmen, denn neben der Mehrheit der „unpolitischen Konformisten“ habe sich ein kleinerer Teil dieser Generation, nämlich die „dezidierten Sozialisten“, „aus grundsätzlichen Motiven für ein nichtkapitalistisches, sozialistisches Projekt in Deutschland engagiert“. Norkowska hat das Modell von Ahbe und Gries offensichtlich nur oberflächlich auf die von ihr betrachteten Schriftsteller übertragen.
2) Im siebten Kapitel mit dem Titel „Das Antlitz der Hausherren von Morgen. Die Hineingeborenen im DDR-Generationsgefüge – die Integrierte Generation (1949–1959)“ nennt Katarzyna Norkowska die Künstlerszene des Prenzlauer Berg eine der „Nischen“, die von den Machthabern „in das System eingeplant“ wurden. Ihre Schriftsteller seien wie der autobiographische Protagonist in Peter Wawerzineks Roman Mein Babylon in die DDR-Gesellschaft „integriert“ gewesen. Es ist mehr als dreißig Jahre nach dem Ende der DDR für jüngere Generationen sicherlich nicht leicht, sich in den Alltag dieses Staates hineinzudenken. Von einer wissenschaftlichen Studie kann man aber eine gewisse sozialgeschichtliche Kenntnis erwarten. Es zeugt von einem Verkennen der Situation, in der sich junge, unangepasste Menschen in der DDR befanden, wenn man jemanden als gesellschaftlich „integriert“ bezeichnet, der weder publizieren noch öffentlich auftreten durfte, der sich als Totengräber, Kellner oder Tischlergehilfe über Wasser hielt und so der Kriminalisierung durch den sogenannten „Asozialenparagraphen“ entging. Norkowska schreibt Wawerzinek, Kurt Drawert und die Künstlerszene am Prenzlauer Berg lediglich in die vorgefundene soziologische Kategorie ein. Auch hier sind Ahbe und Gries differenzierter, denn für sie gehören zu dieser Generation neben der Mehrheit der „Integrierten“ auch kleinere Kreise von Kritikern an der Politik der DDR und Angehörige von Subkulturen.
3) Im achten Kapitel „Generation Trabant, Generation ‘89‚ Zonenkinder. Die Adoleszenz im Zeichen eines politischen Umbruchs“ analysiert Norkowska Claudia Ruschs Erinnerungen Meine freie deutsche Jugend. Dabei stellt sie fest, dass politische Ereignisse für die Identitätskonstruktion dieser Autorin eine geringere Rolle spielten als die im Text erwähnten Konsumobjekte und Westmarken. Im Widerspruch dazu steht, dass Rusch die Berliner Demonstration am 4. November 1989 mit vorbereitete, Petitionen verfasste, Unterschriften sammelte und ganze Nachmittage „an Runden Tischen“ verbrachte.3 Der demokratische Umbruch von 1989/90 muss das Selbstverständnis der damals 18-Jährigen demnach stark geprägt haben. Auch diese Textanalyse hat Norkowska an den von Ahbe und Gries festgestellten Generationsmerkmalen ausgerichtet, die in diesem Fall „unpolitisch, konsumfreudig und modern“4 lauten.
Sichtbar ist das Verfahren der Kategorisierung auch in der Beurteilung des Bandes Generation Mauer. Ein Porträt (2020). Die Polemik seiner Autorin Ines Geipel mit Ahbe und Gries‘ Charakteristik der sogenannten „Entgrenzten Generation“, also ihre Zweifel, ob es sich bei den zwischen 1960 und 1972 Geborenen tatsächlich um eine Generationseinheit handelt, erklärt Norkowska publikationsstrategisch: Geipel habe auf die Popularität der Erinnerungen von sogenannten Wende- oder Einheitskindern reagieren wollen. Das lässt sich natürlich nicht ausschließen, dennoch wären Geipels Argumente bedenkenswert. Erlebte jemand, der 1989 fast 30 Jahre alt war, der in der DDR also sein Studium oder seine Ausbildung absolviert hatte, der bereits zwischen fünf und zehn Jahren beruflich tätig war und vielleicht eine Familie gegründet hatte, die DDR der achtziger Jahre tatsächlich genauso wie jemand, für den das Ende dieses Staates mit dem Schulabschluss zusammenfiel?
Diese und ähnliche Unstimmigkeiten zwischen den untersuchten Autobiographien und dem Generationenmodell von Ahbe und Gries veranlassen Norkowska nicht, das Konzept selbst kritisch zu befragen oder gar zu modifizieren. Wie sehr sie sich vielmehr durch dessen schematische Anwendung den Blick auf Lebenswege und -situationen in der DDR verstellt, mag ein weiteres Beispiel verdeutlichen: Von dem 1932 geborenen Werner Liersch schreibt sie, dass er die SS-Mitgliedschaft von Erwin Strittmatter nicht „ohne persönliches Interesse“ offengelegt habe, denn er gehöre zur Aufbau-Generation, die „im Bewusstsein des eigenen Versagens – verstanden auch als fehlender antifaschistischer Widerstand – sich der Macht der Älteren [der Generation der Antifaschisten, MB] unterworfen hat.“ Kann man jemandem, der im Frühjahr 1945 dreizehn Jahre alt war, aber tatsächlich Versagen vorwerfen, weil er sich nicht am antifaschistischen Widerstand beteiligte? Und seine späteren Publikationen als einen Versuch lesen, sich von diesem ‚Versagen‘ reinzuwaschen?
Die Untersuchung von Katarzyna Norkowska fördert so nicht die Produktivität des Generationenmodells für eine Neubetrachtung der DDR-Literatur oder der ostdeutschen Literatur zutage, sondern verweist durch die unreflektierte und schematische Anwendung vor allem auf dessen Grenzen. Das im Schlusskapitel gezogene Fazit, dass dieses Konzept es ermöglichen würde, die Polyphonie der ostdeutschen Literatur zu erfassen, erscheint als Ergebnis einer wissenschaftlichen Studie etwas dürftig, zumal schon Emmerich seine Geschichte der DDR-Literatur mit einem Verweis auf deren Vielfalt beendete.
Eine andere Schwäche von Norkowskas Monographie ist der Ausschluss verfolgter, ausgebürgerter und ausgereister Schriftsteller aus dem untersuchten Textkorpus. Viele von ihnen wuchsen in der DDR auf, haben einen Teil ihres Lebens – auch als Schriftsteller – dort verbracht und nach 1989 in autobiographischen Texten davon erzählt. Zu ihnen gehören Wolf Biermann, Jürgen Fuchs, Barbara Honigmann, Günter Kunert, Reiner Kunze, Erich Loest, Helga M. Novak, Utz Rachowski, Gabriele Stötzer und Günter Ullmann. Das Ende der DDR bedeutete nicht nur für die verfolgten, sondern auch für einige der ausgebürgerten Schriftsteller eine Zäsur, deren Bedeutung nachzugehen sich lohnen würde. Zugespitzt ließe sich sagen, dass die Ausgrenzung dieser Autoren in bzw. aus der DDR mit dieser Studie bis in die Gegenwart verlängert wird. Das ist allerdings nicht nur ein Problem des Buches von Katarzyna Norkowska, denn verfolgte und ausgebürgerte/ausgereiste Schriftsteller finden in Studien über ostdeutsche Schriftsteller allgemein zu wenig Beachtung.
Anmerkungen
1 Wolfgang Emmerich: Habitus- und Generationsgemeinschaften im literarischen Feld Ostdeutschland – vor und nach der Wende. Ein Versuch, das veränderte literarische Feld mit Bourdieu un Mannheim besser zu verstehen. In: Weiterschreiben. Zur DDR-Literatur nach dem Ende der DDR. Hg. v. Holger Helbig, Berlin: Akademie Verlag 2002, S. 269–283.
2 Thomas Ahbe, Rainer Gries: Die Generationen der DDR und Ostdeutschlands Ein Überblick. In: Berliner Debatte Initial 17 (2006) 4, S. 90-109, hier S. 95.
3 Claudia Rusch: Meine freie deutsche Jugend. Mit einem Text von Wolfgang Hilbig. Frankfurt am Main: Fischer Verlag 2007, S. 98.
4 Thomas Ahbe, Rainer Gries (Anm. 2), S. 100.
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