Befreiung vom Nationalsozialismus und Rückholung der Eltern aus Theresienstadt

Daniel Huhn folgt Manfred Gans in „Rückeroberung“ auf dessen ungewöhnlichen Wegen in einem Spezialkommando der britischen Armee

Von Jens FlemmingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Flemming

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Er war ein Junge aus Borken im Münsterland, der dritte Sohn eines in der Stadt wie in der jüdischen Gemeinde angesehenen, wohl situierten Textilgroßhändlers, der als Frontkämpfer für die deutsche Sache ein Bein eingebüßt und den Vorsitz der örtlichen Sektion des Verbandes der Kriegsopfer übernommen hatte, außerdem 1929 auf dem Fahrschein der SPD in das Kommunalparlament gewählt wurde. Manfred Gans – so heißt die 1922 geborene und 2010 gestorbene Hauptfigur der Biographie von Daniel Huhn – wächst behütet auf, ist bei flüchtiger Betrachtung kaum berührt vom Antisemitismus, der im katholischen Borken, einer Hochburg der Zentrumspartei, ohnehin nicht dominant war.

Im Prozess der Gleichschaltung, den die Nationalsozialisten 1933 mit atemberaubender Geschwindigkeit und Brutalität vorantreiben, kippt das Klima fast über Nacht. In der Schule werden die jüdischen Schüler rasch stigmatisiert und zu Außenseitern gestempelt. Der Biologielehrer heftet sich das Parteiabzeichen an sein Revers, predigt „Rassenkunde“ und ist sich nicht zu schade, gegen Juden Verdächtigungen, Lügen und Parolen der NS-Propaganda auszustreuen. Sie seien, behauptet er, den ‚Deutschen‘ körperlich und seelisch unterlegen, hätten verbrecherische Neigungen und seien sozial ohne Engagement.

In dem Maße, wie die Stimmung feindseliger und die wirtschaftliche Repression schärfer wird, denkt man in der Familie Gans über Alternativen nach. Der Vater besorgt Ausreisevisa für die Söhne. Manfred schifft sich am 17. Juli 1938 über Holland nach England ein. „Es ist“, kommentiert Huhn, „ein Abschied, aber vor allem ein Aufbruch.“ Mehr noch: der Abschied ist unwiderruflich. Das neue Land ist anfangs fremd. Die Sprache, die er auf dem heimischen Gymnasium nicht gelernt hat, muss er sich erst noch aneignen, auch in die Lebensgewohnheiten und die Routine des Alltags hineinfinden. Sich um eine feste Bleibe zu kümmern, ist ebenso schwierig wie eine berufliche Zukunft aufzubauen.

Als das deutsche Regime den Krieg anzettelt, wird der junge Mann wie die meisten seiner Landsleute, gleichgültig ob Emigrant oder NS-Anhänger, im Juni 1940 als „enemy alien“ interniert. Im Lager auf der Isle of Man wird er ein halbes Jahr festgehalten, ehe er freigelassen und in Schottland dem – unbewaffneten – Pioneer Corps zugewiesen wird, wo er schwere, den Geist nicht fordernde Arbeit leistet, Baracken errichtet oder Panzer anstreicht.

Ende 1942 lädt man ihn zu einem Gespräch nach London ein. Da die Prüfungen, denen er unterzogen wird, offenbar zufriedenstellend verlaufen, wird er wenig später an die walisische Küste verlegt. Manfred Gans mutiert zu Frederick Gray und trainiert sich eine neue, nunmehr ganz und gar englische Identität an. Die Einheit, in der er dient – Three Troop –, besteht aus Flüchtlingen. Ihre Aufgabe ist Aufklärung dicht an der Front. Voraussetzung dafür ist neben antifaschistischer Überzeugung die akzentfreie Beherrschung des Deutschen. Bei den Kämpfen in Frankreich wird das Terrain sondiert, werden die feindlichen Truppen ausgekundschaftet, gefangene Soldaten und Offiziere verhört. Manfred alias Frederick erweist sich als belastbar und hoch motiviert, Ende 1944 wird er befördert. „In knapp vier Jahren“, resümiert der Autor, „ist aus einem feindlichen Ausländer ein Offizier der britischen Armee geworden.“

Mit diesem an sich schon außergewöhnlichen Schicksal sind drei Geschichten verwoben, die ihren Ursprung in der antisemitischen Vertreibungs- und Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten haben. Da ist zum einen die Beziehung zu Anita Lamm, die noch in Borken begonnen hatte, dann aber mit der Emigration des Mädchens in die USA unterbrochen wurde. Während des Krieges bahnt sie den Kontakt wieder an, die beiden korrespondieren regelmäßig und tauschen sich intensiv aus, aber es bleibt über Jahre hinweg eine Brieffreundschaft, getrennt durch den Atlantik und die Umstände. Es dauert bis 1947, ehe sie sich in England treffen. 1948 heiraten sie, Manfred beendet sein Studium zunächst in Manchester, dann in Boston und wird Chemieingenieur.

Das Zweite, das Gedanken und Gemüt beschwert, konzentriert sich auf den Verbleib der Eltern, von denen er lange nichts hört. Auch sie haben Borken verlassen und in Holland eine notdürftige Bleibe gefunden. 1943 werden sie entdeckt, in das Durchgangslager Westerbork verfrachtet, dann nach Bergen Belsen und von dort nach Theresienstadt deportiert, wo sie in steter Bedrohung unter heftigen Qualen ihr Dasein fristen.

Unmittelbar nach der Kapitulation der deutschen Wehrmacht erfährt Manfred, dass sie noch leben. Sogleich macht er sich mit Billigung seines Kommandeurs auf in die Tschechoslowakei. Gemessen an den beiden anderen Geschichten ist sie auch Jahrzehnte später die ergreifendste. In einem reparaturanfälligen Jeep lässt sich Manfred quer durch Deutschland kutschieren. Als er das Ziel erreicht, fallen sich Sohn und Eltern in die Arme. Er schaut auf den Vater, und muss, wie er notiert, „auf die Zähne beißen“, um seine Erschütterung zu verbergen. Denn der alte Herr ist „kaum wiederzuerkennen, komplett abgemagert, ein Wrack.“

Nach der Rückkehr bringt Manfred seine Eindrücke zu Papier, ein bewegender Bericht, der die auf der ganzen Welt verstreuten Familienangehörigen erreicht. Seine Freundin Anita sorgt sich, ob er jemals wieder „ein normales Leben“ werde führen können. Wie sich zeigt, kann er das, er verarbeitet seine Erfahrungen, seinen Groll, seine Enttäuschungen, auch die Tatsache, dass „30 Mitglieder der Großfamilie Gans“ von den Nationalsozialisten ermordet worden sind.

Jahre später beginnt ein Prozess der Annäherung. Der Ort dafür ist Borken, die Stadt, aus der Manfred, der seinen alten Namen wieder angenommen hat, vertrieben worden ist. Dort war er nach Kriegsende als Soldat der britischen Besatzungsmacht eine Zeit lang stationiert gewesen. Das Verhalten der Bürger registrierte er damals mit Befremden. Den heimkehrenden Soldaten hatten sie nämlich ein märchenhaftes „Spektakel“ bereitet: „eine geschlagene Armee, die ihrem eigenen Volk nichts als Elend gebracht hat und nun den großartigsten Empfang aller Zeiten genießt.“ Auf gleiche Ablehnung stoßen die fortwährenden Versicherungen, kein Nazi gewesen zu sein. Nicht „eine Person“, berichtet er an Anita, habe den Mut aufzustehen und seine früheren Überzeugungen zu bekennen. Stattdessen jammerten sie und behaupteten, zur Abwendung der „schlimmsten Verbrechen“ alles ihnen Mögliche getan zu haben.

Es dauert bis zur Rede des Bundespräsiden Weizsäcker vom 8. Mai 1985, ehe sich eine Gelegenheit zur Annäherung ergibt. Die ehemals Borkener Juden folgen einer Einladung der Stadtverwaltung. Der Pfarrer eröffnet die Gedenkfeier, die jüdischen Gäste sprechen das Kaddisch, das den Verstorbenen gewidmete Gebet. „Auf einmal“, schreibt Manfred in einem Bericht über die Reise, „hallt durch die Gassen und die Mauern ein hebräisches Lied.“ Stets, so fügt er an, „haben wir auf Hebräisch gesungen, in der Schule und auch zu Hause, aber nie in der Öffentlichkeit, nie im Freien“, nie innerhalb der Stadtmauern. Er, Manfred, habe nun gelernt, dass „wir die wenigen, vor allem die Jungen, die die Hand reichen, um aus der Geschichte zu lernen, und diejenigen, die sich der Vergangenheit stellen wollen, nicht abweisen können und dürfen“.

Daniel Huhn weist darauf hin, dass Geschichten, wie die von ihm eindringlich rekonstruierten, kaum bekannt seien. Ebenso wenig werde erwogen, sie als Teil des deutschen Widerstandes zu begreifen. Sein Buch ist ein Beitrag, dies zu ändern. Jedenfalls: mit dem Ende der Erzählung hat sich der Kreis geschlossen: „Die Geschichte der Familie Gans“, lautet der letzte Satz, ist „wieder ein Teil der Stadt Borken – und Borken ein Teil der Familiengeschichte.“

Titelbild

Daniel Huhn: Rückeroberung. Die Geschichte von Manfred Gans, der im Mai 1945 Deutschland durchquerte, um seine Eltern aus dem KZ zu befreien.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2022.
288 Seiten , 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783455013191

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