Im Nachttaxi durch Tôkyô

Atsuhiro Yoshida setzt auf urbane Sehnsuchtsorte und magische Momente

Von Lisette GebhardtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lisette Gebhardt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Atsuhiro Yoshida ist eine Neuentdeckung aus Japan. Er vertritt die Sparte der anspruchsvollen Unterhaltungsliteratur, die seit einigen Jahren Einzug in den deutschen Buchmarkt hält. Anbieter medialer Produkte im Internet mit dem üblichen Personalisierungsprogramm würden diesen Autor wahrscheinlich denjenigen empfehlen, deren Kaufprofil eine Vorliebe für Haruki Murakami, Banana Yoshimoto und Yôko Ogawa aufweist. Wie sie wendet Yoshida Elemente der literarischen Phantastik an, um einen traumartigen Raum alternativer Wirklichkeit zu gestalten. Darin bewegen sich mehr oder weniger exzentrische Personen aufeinander zu – beim Lesenden entsteht das Gefühl, ein an der Decke fixiertes Perpetuum mobile mit sonderbaren Figürchen zu betrachten. 

Retro-Installation und Dramatis personae 

Tatsächlich kennzeichnet Yoshidas Text ein retroästhetischer Bezug auf die visuelle Kultur der Moderne, veranschaulicht durch Referenzen auf Magievorführungen, das Kino und surrealistische Techniken. Das theaterhafte Moment bildet sowohl eine inhaltliche Linie, wie es zudem – der Verlagsbeschreibung nach – als Motto und zentrale Aussage des Episodenromans dient: „In den Nächten dieser Stadt spielt jeder eine Hauptrolle“. Zu den auftretenden Personen von Gute Nacht, Tokio (jap. Oyasumi, Tôkyô) zählen zum Beispiel die Requisiteurin Mitsuki, Mitsukis Chef, der Regisseur, Mitsukis Freund Koichi, ein Hobby-Krähenspezialist, Taxifahrer Matsui vom Nachtfahrservice Blackbird, die Telefonseelsorgerin und Biwa-Schnaps-Brennerin Kanako Fuyuki, ihr verschollener Bruder Ren, die forsche „Telefon-Entsorgerin“ Moriizumi und ihre Kundin Emi Fukada, der leicht stotternde Maeda vom Fundus des Studio 1, ehemaliger Barkeeper in einem noblen Etablissement auf der Ginza, der nachtaktive Gebrauchtwarenhändler Ibaragi aus Shimo-Kitazawa, die vier Betreiberinnen des Spezialbistros Drehkreuz, Ayanos Freundin Haruka und die elf Marias vom Film-Casting sowie der Detektiv Shuro, genannt „Palme“ alias Zauberkünstler Mighty Tashiro  – auch er hat Affinität zur Schaukunst bzw. spielt augenscheinlich diverse Rollen, obwohl die Figur des Palme im Film durch einen Schauspieler mit Namen Tetsuo Serikawa verkörpert wird. 

Über das vielfältige Personal hinaus ist der Roman in Szenen zwischenmenschlicher Begegnungen angelegt und bietet dem Leser Perspektiven auf wechselnde örtliche Kulissen an – alle charakterisiert durch den Charme, der dem Inventar des Shôwa-Zeitlichen im Rückblick anhaftet. In Yoshidas imaginierter Metropole findet man eine gemütliche Imbiss-Stube, ein betagtes Kino, eine stilvolle kleine Bar sowie den Filmfundus als eine große „Schatztruhe“ vor. Requisitenlager und Secondhandgeschäft verweisen auf die Zeitgeschichte und zugleich auf den tröstlichen Gedanken, man könne die guten alten Zeiten für immer bewahren: Die Wächter der Dinge pflegen die Erinnerung und sorgen dafür, dass sie wieder zum Einsatz kommen, wenn sie gebraucht werden.   

In kalten Zeiten  

Seit der Wende zum Jahr 2000 und der anwachsenden Prekarisierung der jüngeren Generation, spätestens aber seit dem schicksalhaften Datum des 11. März 2011, als sich die Dreifachkatastrophe von Fukushima ereignete, sieht es die Buch- und Medienbranche als ihre Aufgabe an, Tröstliches (Stichwort iyashi) zu offerieren. Der Vorgabe, sozialer Kälte und Krisenerfahrung etwas entgegenzusetzen, kommt Oyasumi, Tôkyô vollumfänglich nach. Im Original 2018 publiziert, beschreibt der Text eine stattliche Reihe von nostalgischen Zufluchtsorten in der japanischen Hauptstadt, über die man aus der Tagespresse hört, dass es dort viele isolierte Menschen in desolater Geistesverfassung gebe – angefangen mit den zahlreichen alleinstehenden Senioren, die einen Tod in Einsamkeit (kodoku-shi) sterben, über Schlüsselkinder bis hin zu den soziophobischen Hikikomori.

Yoshida gelingt es in zwölf Episoden, eine leichte, poetische Textur zu weben. Die Leitmotivik – Erinnern, Suchen und Finden – erscheint als Muster in verschiedenen Variationen. Am Ende rundet sich die Komposition, symbolisiert durch einen Ring, zu einem Ganzen ab, und das Gefüge spiegelt das Sinnhafte wider, dessen die Protagonisten in manch magischen Momenten teilhaftig werden: Eine perfekte Geborgenheitsphantasie. Auch ein Erdbeben der Stärke 5 mit Epizentrum Tôkyô kann da keine allzu großen Ängste hervorrufen. Im Gegenteil, das bedrohliche Ereignis führt, wie es Yoshidas Geschichte deutet, zu einer stärkeren Bindung unter den Teilnehmerinnen des Maria-Castings: „Dass die Mädchen sich aus Solidarität an den Händen hielten und nicht, weil es das Drehbuch so verlangte, sah Eiko zum ersten Mal.“ An dieser Stelle echot der Autor den von offizieller Seite geprägten Slogan kizuna, der nach „Fukushima“ in den Medien kursierte, um die Bevölkerung zum Zusammenhalt zu bewegen. Sieben Jahre später schien in Japan das Bedürfnis nach einem hyperrealen Raum des Wunderbaren ungebrochen, und im Jahr 2022 trifft Yoshidas Prosa wohl in Europa ebenfalls auf einige Gegenliebe. Auch hierzulande ist die Welt kälter geworden. 

Magie der Mondnächte 

Während das „nachthimmelblaue“ Taxi durch die Bezirke der Hauptstadt fährt, entfaltet sich die suggestive Stimmung des Texts. Yoshida zitiert seine Vorbilder mit entsprechenden Hinweisen: Zwei Monde kann man durch das unscharfe Okular im Trödelladen in Shimo-Kitazawa wahrnehmen – eine Anspielung auf die geheimnisvolle Parallelwelt von Haruki Murakamis 1Q84. Der Herr der Sammlung dysfunktionaler Gegenstände enthält seiner Kundin Mitsuki die passende Philosophie nicht vor. Es wäre denkbar, „(d)ass dieser Planet, diese Stadt, ja vielleicht wir selbst, doppelt existieren.“ Verstärkt durch die Magie des Ortes, der nächtlichen Stunde und des Mondlichts, manifestiert sich der epiphanische Moment, indem ein größerer, zuvor nur vage präsenter Zusammenhang fassbar wird. 

Glückstrigger

Das „letzte Teil des Puzzles“ ist gefunden, das Rätsel der eigenen Wünsche weitgehend gelöst. Die Brikolage des Lebens vollendet sich zu schöner Form. So sehr man Yoshidas professionelle Schilderungen gelungener antikonventioneller Lebensstile jenseits alltäglicher Routine auch genießt, zumal in der flüssigen deutschen Übersetzung – ein gewisses Unbehagen bleibt aufgrund des beinahe schon zu geschickt gestalteten Feel-Good-Modus, der dem Rezipienten sein Angebot für die innere Simulation von Glücksmomenten förmlich aufnötigt. Andererseits hat der Autor keine falschen Versprechungen gegeben. Das Buch mit dem von ihm verantworteten ästhetischen Cover behauptet nicht wie viele andere Texte zeitgenössischer japanischer Literatur, als Ratgeber zu dienen. Es will nicht mehr sein als ein Requisit für eine magische Reise durch die Nacht von Tôkyô.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

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Atsuhiro Yoshida: Gute Nacht, Tokio.
Aus dem Japanischen von Katja Busson.
Cass Verlag, Löhne 2022.
190 Seiten, 22 EUR.
ISBN-13: 9783944751283

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