Persiflage auf erzwungene und kommerzialisierte Erinnerungskultur
In „Serge“ wagt es Yasmina Reza, Konstruktionen jüdischer Identität zu unterminieren
Von Anne Amend-Söchting
Serge – Träger dieser Namen sind bei Reza immer für eine Überraschung gut. War es in Kunst (1995) – die Komödie, mit der die Autorin weltweite Berühmtheit erlangte – ein Dermatologe, der zur Dekoration seines Wohnzimmers ein völlig weißes Bild, einen „Antrios“, kaufte und damit den Unwillen seines langjährigen Freundes auf sich zog, so ist es im aktuellen Roman ein wenig erfolgreicher Wirtschaftsberater mit jüdischen Wurzeln, der sich zwar bereit erklärt, mit seinen Geschwistern und seiner Tochter nach Auschwitz zu fahren, dessen Widerstand gegen die Auseinandersetzung mit diesem Ort aber für alle offensichtlich ist.
Ihre Familie sei eine „Kuddelmuddelkiste“, so Margot, Serges Nichte, bei ihrer Rede anlässlich der Trauerfeier für ihre Großmutter Marta Popper. Es verwundert nicht, dass man auch beim Lesen etwas Zeit braucht, um die teils patchworkartigen Familienverhältnisse zu entwirren, die sich um Martas Nachkommen ranken: da ist Jean, der Ich-Erzähler des lediglich in lockere Abschnitte dividierten Romans. Er, das Sandwichkind, ist Single. Gerade überlegt er, ob er sich wieder mit seiner Ex-Freundin Marion, zu deren verhaltensoriginellem, leicht autistischem Sohn Luc er eine enge Beziehung hat, zusammentun sollte. Serge, der ältere Bruder, hat eine Tochter aus erster Ehe, Joséphine, und Martas jüngstes Kind, Tochter Anne, genannt Nana, ist die Mutter von Margot und Viktor. Zu Nanas Mann, dem Argentinier Ramos Ochoa, haben Jean und Serge ein sehr distanziertes Verhältnis. In ihren Augen ist er ein fauler Tunichtgut, der dem Staat auf der Tasche liegt.
In manchen Punkten, das lässt sich aus der „Kuddelmuddelkiste“ folgern, entsprechen der „unentschiedenen Auschwitz-Komödie“, so wie Jörg Magenau den Roman tituliert, „unentschiedene Familienverhältnisse.“
Marta war diejenige, die ihre Kinder, Schwiegerkinder und Enkel*innen mit ihrer gesamten Entourage regelmäßig am sonntäglichen Mittagstisch versammelte. Nach dem Tod der Matriarchin droht die Sippe insgesamt auseinanderzubrechen. Außerdem brodeln kleine Konflikte in den einzelnen Kernfamilien und zwischen ihnen. Serge trennt sich nach einem Diät-Urlaub in der Schweiz von seiner Freundin Valentina und zieht vorübergehend zu seinem Bruder. Zudem vermittelt er seinem Neffen Viktor ein Praktikum in einem Schweizer Nobelrestaurant, das dieser ablehnt und damit Serge beleidigt. In all das hinein bricht Joséphines Vorhaben, nach Auschwitz zu reisen, um den Ort zu sehen, an dem ihre Urgroßeltern, Juden aus Ungarn, ermordet worden sind. Serge, Jean und Nana schließen sich Joséphine an.
Anlass für die gesamte Narration, ihre Grundstruktur und ihr Voranschreiten ist nicht nur der Besuch, sondern auch die Fahrt durch Polen, vor allem durch die Wälder, die laut Jean an das „mentale Territorium“ erinnern, das „die Bilder von Lanzmanns Film“ Shoah erschaffen haben.
Als die Gruppe wieder zuhause ist, stellt sich heraus, dass Serge einen Schatten auf der Lunge hat, der sich als Tumor entpuppt. Mit seinen Geschwistern fährt er zur Untersuchung in ein Krankenhaus. „Zum letzten Mal waren wir in Auschwitz zusammen“, sagt Nana, „und jetzt zum PET-CT im Madeleine-Brès“. Und dann: „Wir könnten uns wirklich mal was Lustigeres vornehmen“.
Was mit Serge passieren wird, bleibt offen. Reza beendet ihren Roman mit einem Blick auf diesen eigentümlichen, vorwiegend aus der Perspektive des Bruders konturierten Protagonisten. Er hinterlasse eine „bläuliche Lücke“ zwischen den Geschwistern, wie ein „braver Schüler“ begebe er sich zum Arzt, um mit ihm seine Diagnose zu besprechen. Und vielleicht indiziert exakt diese „bläuliche Lücke“ die offene Virtualität, will sagen die verschiedenen Haltungen, die Menschen jüdischer und nicht-jüdischer Herkunft im Zuge der Konfrontation mit kollektiver Erinnerung im Allgemeinen und beim Besuch einer Gedenkstätte im Besonderen an den Tag legen können.
Die Allusion des Namens auf einen der ersten Charaktere, die Reza designt hat, geht über das Partikular-Kauzige hinaus, indem das, was den Serge aus Kunst ausmacht, das umstrittene weiße Bild nämlich, hier zu einer Möglichkeit avanciert, mit Erinnerungskultur umzugehen: „tabula rasa“ zu machen, die kollektive Erinnerung zu ignorieren und/oder alles, was diese ausmacht, dezidiert zu hinterfragen. Zu dieser Haltung gesellen sich im Roman zwei weitere Optionen des Umgangs mit der Erinnerung: Verordnung und Kommerzialisierung.
Sowohl mit dem Roman Serge in seiner Gesamtheit als auch mit ihrem gleichnamigen Protagonisten ordnet sich Yasmina Reza ein in den unendlichen Diskurs über familiäre und kollektive Identität, den der Besuch in Auschwitz exemplifiziert. Bereits die Großeltern der Geschwister Popper, Martas Eltern, waren „Apostel der Assimilation“, eine Attitüde, die ihr Tod ad absurdum führte. Dennoch wollte Marta selbst nichts von Auschwitz hören, somit die „Assimilation“ fortführen und ihre eigene Essenz und Gewordenheit nicht aus dem Kontakt mit dem Holocaust beziehen.
Dem entspricht das, was Yasmina Reza, „invitée spéciale“ der Sendung „La Grande Librairie“, sagt: Identität werde nicht durch „diese Dinge“, den Genozid, infrage gestellt, Identität sei für sie vielmehr „l’identité personnelle qu’on se forge soi-même, elle n’a rien à voir avec la culture, les racines“. Im Kontakt mit der Familie als erster Sozialisationsinstanz formiere sich die intra- und interpersonelle Identität, sie bedürfe keiner kulturellen Matrix, zumindest keines historischen Makrosystems.
Diese Vorbehalte gegenüber jeglicher identitätsstiftenden Kraft kollektiven Erinnerns bündeln sich in Serge, der mit seinem schwarzen Anzug – eine Parodie auf alle Ernsthaftigkeit – fehl am Platz wirkt. Genauso wenig wie er, passen Nana mit ihrer leuchtend roten Handtasche und Joséphine mit ihren microgebladeten Augenbrauen, stets auf der Suche nach der perfekten Fotolocation, in das ehemalige Konzentrationslager. Doch obwohl das Verhalten der Besucher*innen den Ort zu verspotten scheint und die Gedanken abschweifen, lässt sich das Unsagbare, das Unmenschliche, kaum übertünchen. Das zeigen die Kommentare des Ich-Erzählers Jean, die sehr objektiv, nahezu abgespalten von allem Persönlichen, bar jeder Affektivität, daherkommen und mitunter gleichzeitig Joséphines Reiseführerlektüre wiedergeben. Kurz bevor die neutrale homodiegetische Stimme in das Emotionale kippt, entzieht sie sich:
Mit einem einzigen Bild verschlingt die Allegorie der Trostlosigkeit den Besucher. Überlegenheit der Bilder gegenüber der Wirklichkeit. Das Wirkliche bedarf, um wirklich zu bleiben, der Ausdeutung.
Joséphine versucht, die ganze Wand aufs Bild zu kriegen.
Vor der Ausdeutung, vor der Zersetzung der Wirklichkeit durch die Bilder, steht die Geste des Festhaltens der Trostlosigkeit im Bild, jede Dynamik echter Auseinandersetzung im Keim erstickend und doch eine dauernde Doppelbödigkeit manifestierend.
Das punktuell auftretende Maximen- und Sentenzhafte, das Innehalten im Fortschreiten des Romans, kann als Parallele zur inkongruenten Kommunikation der Charaktere untereinander gelesen werden: Auch in den Dialogen wird jede sich anbahnende Emotionalität infrage gestellt, ihr so gut wie möglich widerstanden bei gleichzeitigem Wissen darum, dass man eben doch eingebunden ist in dieses kollektive Gedächtnis, dass auch das semantisch-episodische Familiengedächtnis davon durchdrungen wird und die Komik nach außen das Tragische, das in einem selbst wühlt, nur bedingt überdecken kann.
Man kann nicht nicht mit der Vergangenheit kommunizieren, so lässt sich Watzlawicks berühmtes erstes Axiom erweitern. Auch dann nicht, wenn man sich noch so sehr dagegen wehrt, wenn man noch so oft betont, dass Identitätskonstruktion allein an die eigene Biografie gekoppelt ist. Daraus resultiert eine Überblendung, die die Macht des Überblendeten persistieren lässt.
Mit diesem vehementen Widerstand gegen die emotionale Vereinnahmung kontrastiert eine erzwungene Haltung des Trauerns, die während einer anderen Reise torpediert wird. Ein Teil von Margots Klasse fährt mit ihrem Philosophielehrer Monsieur Cerezo, einem „depressiven Juden“, nach Auschwitz. Nicht nur mit einer Musterung der Gesichter – alle sollen „entsetzt dreinschauen“ – geriert er sich als Hüter einer institutionell verordneten Erinnerung, deren Auswüchse seine Kollegin so zum Lachen bringt, dass die gesamte Gruppe vor den Stufen des Krematoriums in laute Heiterkeit ausbricht. So wie die Abwehr der Familie Popper ist auch Erinnerung als Pflichtübung zum Scheitern verurteilt. Oder vielleicht doch nicht? Den eigenen Besuch in Auschwitz bilanziert Jean, der Ich-Erzähler, folgendermaßen:
An diesen Orten mit ihren kosmischen Namen, Auschwitz und Birkenau, wollte mir keine Gefühlsreaktion gelingen. Ich schwankte zwischen Kälte und dem Bemühen, etwas zu empfinden, womit man nur sein Wohlverhalten unter Beweis stellen will. Und ich denke, ist all dieses Vergesst nicht!, sind all diese wilden Mahnungen zum Gedenken nicht zugleich auch Ausflüchte, um die Ereignisse zu entschärfen und sie guten Gewissens in die Geschichte zu entsorgen? Es lebe Cerezo!
Durch Jean spricht Yasmina Reza, deren Texte nicht selten, so wie etwa Hammerklavier (1997), autobiografische Züge aufweisen. Zum einen ist sie, wenn es um das Oszillieren zwischen „Kälte und dem Bemühen, etwas zu empfinden“ geht, möglicherweise mit Jean gleichzusetzen, zum anderen bringt sie einen neuen Gedanken ins Spiel: das Ringen um das Gedenken könne mit dem Versuch, die Ereignisse mildern zu wollen, einhergehen. Die Apostrophe am Ende, das Hoch auf den Philosophielehrer, ist hochgradig ironisch und paradox, unterstellt sie diesem doch den Versuch, die Ereignisse „in die Geschichte entsorgen“ zu wollen und insinuiert gleichermaßen, dass echtes Entsetzen nicht ausgeschlossen ist und sich die Fakten der Vergangenheit nicht weg argumentieren lassen.
Eine erzwungene Emotionalität indessen, eine verordnete Stille in Anbetracht der unsäglichen Schrecken, führt in die Irre und ist mit Watzlawicks kommunikativen Paradoxa zu vergleichen: Anweisungen wie „Zeig Gefühl“ oder „Sei emotional“ scheitern schon in dem Moment, wo man ihnen folgen möchte, weil sich dann jeder Anflug von Gefühl zur rationalen Anstrengung transformiert, was beweist, dass die Aufforderung mit dem erwünschten Ziel konkurriert.
Kommerzialisierung – eine letzte Art, der Erinnerung zu begegnen, durchdringt sowohl die Abwehr als auch die Verordnung von Gefühlen und jeden erinnerungskulturellen Diskurs. Eine ganze Industrie lebt von Auschwitz, angefangen bei den Fluggesellschaften, die Reisen zum Flughafen Krakau im Programm haben, über Hotels und Gaststätten in der Stadt bis hin zu den Eingangsbereichen des ehemaligen Konzentrationslagers, wo das Quartett Popper sich trotz Reservierung in eine Warteschlange einreihen muss. Im Museum, „Parzelle der Vorhölle, neu arrangiert für die Zeitgenossen“, treffen sie auf „fröhlich lärmende Gäste“.
Das Paradoxe, Inkongruente, Unmögliche, Despektierliche der Erinnerung selbst setzt sich in dem sehr „Reza-typisch“ gestalteten Roman fort. Die Abschnitte wirken ab und an zusammengewürfelt. Zwar relativ interessante, aber wenig spannungsgeladene Episoden aus der Familiengeschichte präformieren und reflektieren den quantitativ ca. ein Drittel des Romans einnehmenden Besuch in Auschwitz. Trotz seiner Kürze gibt sich der Text streckenweise wie die Erinnerung: problematisch und zäh. Am attraktivsten ist er dann, wenn er mit dichter Dialogizität auch aus einem der Theaterstücke Rezas stammen könnte, sich die Figuren in erfrischender Gereiztheit verbal duellieren, sich häufig symmetrische Eskalationen ergeben, ohne dass diese jedoch zum Eklat führen würden. Sie bleiben auf der Stufe harmloser „Kabbeleien“ innerhalb einer Familie.
Am Ende des Romans offenbaren sich, resümierend und symbolisch mit Serges Erkrankung, die für Reza wohl essenziellen Perspektiven auf Erinnerung und Identität: Es ist nicht ausgeschlossen, dass der Lungentumor, der die Atmung zu erschweren droht, die unzureichende Bereitschaft, sich auf das Vergangene einzulassen, symbolisiert. Dahinter würde sich die These verbergen, dass man dann salutogenetisch unterwegs ist, wenn man sich vor den kulturellen und familiären Wurzeln nicht verschließt. In erster Linie jedoch unterstreicht die finale Szene, dass sich die Nachgeborenen um ihre eigenen existenziellen Unbilden kümmern müssen.
Yasmina Reza diskutiert die unterschiedlichen Haltungen zur Erinnerungskultur aus der Sicht der Opfer bzw. deren Nachkommen, woraus sich die Frage ergibt, ob die Immersion in das Vergangene einer dauerhaften Viktimisierung Vorschub leisten könnte. Marta Popper ist in dieser Hinsicht sehr klar: „Um nichts in der Welt wollte sie Opfer sein“. Israel konnte sie nicht ausstehen, weil dieser Staat der Welt „eine unauslöschliche Wunde“ offeriere und „die schlimmsten Antisemiten […] selber Juden“ seien.
Hätte jemand nichtjüdischer Herkunft sich erdreistet, ein Buch wie Serge zu schreiben, wäre das nicht nur kulturelle Appropriation der übelsten Art, sondern insbesondere eine unsägliche Respektlosigkeit gewesen. Nur eine renommierte Schriftstellerin wie Yasmina Reza, mit jüdischem Hintergrund, darf das. Ob es deshalb gut ist: quod est disputandum.
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