Im Stuhlwagen durch Deutschland

Das von Michael Rüppel herausgegebene „Reisetagebuch von Heinrich und Christine Gondela aus dem Jahr 1802“ ist ein lesenswertes Zeugnis der Touristik um 1800

Von Thomas MerklingerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Merklinger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am 10. August 1802 brachen der Bremer Ratsherr Heinrich Gondela und seine Frau Christine auf eine zweimonatige Sommerreise durch Deutschland auf. Ihr Ziel war das eigene Weingut in Königsbach in der Pfalz, das Christine mit in die Ehe gebracht hatte. Um die Geschehnisse dieser Fahrt festzuhalten, führten die beiden ein Reisejournal, das von Michael Rüppel nach dem Original-Manuskript im Bremer Stadtarchiv ediert und unter dem Titel Auf der Reise ins Paradies. Das Reisetagebuch von Heinrich und Christine Gondela aus dem Jahr 1802 als 362. Band im 30. Jubiläumsjahr der Anderen Bibliothek 2015 herausgegeben worden ist.

Das Reisejournal bietet nicht nur authentische Einblicke in die konkrete Realität des Reisens um 1800, sondern zeugt zugleich von einem kulturellen Wandel, da zum Bildungswert der Reise nun auch der ästhetische Reiz landschaftlicher Schönheit und Naturerfahrung hinzutritt und sogar bewusst gesucht wird. Schon das Ziel der Unternehmung, das Pfälzer Weingut, wird ob seiner idyllischen Lage als „Paradies von Deutschland“ gerühmt. Auf der akribisch mittels Reiseratgebern, Karten und Stichen geplant Route finden sich weitere anmutige Landschaften, denen das Epitheton ‚paradiesisch‘ zugedacht wird. Die im Wortsinn ‚touristische‘ Rundreise durch Deutschland – die ‚tour d’Allemagne‘, wenn man so will – ist denn auch so angelegt, dass sich kultureller und naturästhetischer Reiz paaren.

Über Braunschweig führt der Weg über das preußische Halle an der Saale nach Sachsen, wo die Eheleute Leipzig, Meißen und schließlich Dresden besuchen. Hier verbringen die beiden eine Woche, besichtigen die Stadt und ihre Kunstwerke und unternehmen Tagesausflüge in die Umgebung, bevor es durchs Erzgebirge ins böhmische Teplitz und Karlsbad geht. Sie reisen weiter über Bayreuth, Bamberg und Würzburg durch den Odenwald nach Heidelberg und dann nach Mannheim. Dort überqueren sie den Rhein, um in die französisch besetzte Pfalz und zu ihrem Weingut zu gelangen. Auf der Rückfahrt nach Bremen stehen noch Frankfurt, Kassel und Hannover auf dem Reiseplan, werden diaristisch aber nur noch knapp festgehalten. Die Höhepunkte der Fahrt – Dresden und Umgebung, Heidelberg und die Pfälzer Weingebiete um Neustadt – liegen da schon hinter ihnen.

Ein solches Reisetagebuch zu führen, war – wie das Nachwort mitteilt – nicht ganz ungewöhnlich und wurde in zeitgenössischen Reiseratgebern auch empfohlen, da es die Erlebnisse als Erinnerungsstütze für die Zukunft eindrücklich fixieren konnte. In diesem Sinne heißt es im Eintrag vom 18. August, den die beiden in Leipzig verbringen, programmatisch:

Ich will, so weit es ohne Zeichnung möglich ist, ein Bild dieser reizenden Anlagen zu entwerfen versuchen, um es treu meinem Gedächtnisse einzupregen. Vielleicht ist einiges davon bey uns anwendbar; und wenn das auch nicht wäre, so sollen ja diese Blätter dazu dienen, uns oft an die schönen Tage dieser Reise zu erinnern, und so müßten denn auch die Stunden, die wir in den Umgebungen von Leipzig zubrachten, hell und lebendig wieder vor uns treten, wenn wir uns in das Local zurück denken, worinn wir sie verlebten.

Dass Gondela die Leipziger Parkanlagen auch im Hinblick auf mögliche Übernahmen für seine Heimatstadt studiert und festhält, ist eine der wenigen Stellen, an denen Zweckmäßigkeit aufscheint. Selbst die Tatsache, dass die Fahrt, wie sich später zeigt, auch den Grund hat, das Weingut wohl unter anderem wegen der unsicheren politischen Lage zu veräußern, ändert wenig am privaten Charakter der Aufzeichnungen. Wichtiger als die Details der Parkanlagen sind so vielmehr „ein paar Tassen Vanille- und Obst-Eis“, das so gut mundet, dass man anderntags noch einmal zu „der wohlbekannten Eisbude“ zurückkehrt.

Im Zustand touristischer Entspanntheit werden so Impressionen zusammengetragen, die ein kleines (Urlaubs-)Bild der Epoche und des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation bieten. Selbst wenn mitunter die große Politik aufscheint – etwa wenn Gondela im republikanisch gewordenen Königsbach als Weingutbesitzer an der Wahl Napoleons zum Konsul auf Lebenszeit teilzunehmen hat – stehen die Aufenthalte, Ausflüge und der Vorgang des Reisens im Vordergrund.

Das Ehepaar ist im Stuhlwagen unterwegs, einem in Norddeutschland recht verbreiteten Gefährt, das an einen offenen, mit Stühlen versehenen Leiterwagen erinnert. Im Süden Deutschlands unbekannt, changiert es bei der Zolltaxierung irgendwo zwischen Kutsche und Karren. Dennoch darf man es als gehobene Form des Reisens ansehen, einen eigenen Wagen zu haben. Gelenkt wird er von wechselnden Postillons, und auch die Pferde werden getauscht. Neben einer Vielzahl von Koffern mit lebensnotwendigen Utensilien haben die beiden Reisenden zudem einen Bediensteten namens Hinrich dabei. Obgleich er als Reisebegleiter stets an ihrer Seite ist, bleibt er in den Aufzeichnungen der Gondelas weitgehend unkonturiert. Zu Beginn der Fahrt wird kurz seine fehlende Bildung bemerkt, ansonsten fallen lediglich einige freundliche Bemerkungen über seine Dienste. Er ist dem Ehepaar wahrscheinlich einfach zu bekannt, als dass man ihn eigens im Journal festhalten müsste, auch wenn man heute gerne mehr über seine „Classe von Reisenden“ erfahren hätte.

Das Reisen selbst ist trotz akribischer Vorbereitung voller Unwägbarkeiten und Gefahren. Das Leben kann, wie Heinrich von Kleist einmal in einem Brief notiert, am Schreien eines Esels hängen. So ist im Reisetagebuch nicht nur das Wetter beständiges Thema, da man auf der Fahrt Hitze, Regen und Gewittern direkt ausgesetzt ist, sondern auch der Zustand der Straßen. Dreimal bricht die Achse und muss aufwändig repariert werden. Dabei hat man jedes Mal Glück, sich zum einen nicht zu verletzen, zum anderen im offenen Gelände jemanden zu finden, der den Wagen reparieren kann.

Hinzu kommt die Angst vor marodierenden Soldaten, „Fragmente des Regiments York.-R.“, die in der Gegend von Verden herumstreifen sollen. Im böhmischen Wald hingegen lauern Räuber – wenn man ihnen auch nicht begegnet, sind sie doch in der Vorstellung gegenwärtig: „Die Mordgeschichte bey Aussig, das heutige brennende Dorf, die Böhmischen Wälder aus den Räubern von Sch[iller], schwebten mir immer vor; es war mir unmöglich, den Gedanken zu verbannen: hier ist Gefahr für Eigenthum – und Leben.“ Unterwegs und in abgelegenen Herbergen ist auf das Gepäck zu achten, fremde Menschen müssen richtig eingeschätzt werden, Hilfe und Gunst erkauft man mit Geld oder Wein.

Geld ist ohnehin ein Thema. Häufig sind kleine Trinkgelder zu verteilen. Die Reise führt zudem durch unterschiedliche Reichsgebiete, die vor allem durch Zollabgaben auffallen und immer wieder aufs Neue eine Anspannung bei den Reisenden hervorrufen. In Halle ergibt sich direkt ein Missverständnis bezüglich der „Colli“. Statt die Anzahl der Gepäckstücke zu nennen, verhört sich Gondela und gibt die deutlich geringere Anzahl der Reisebegleiter („Collegen“) an. Der Visitator zeigt sich jedoch kulant und plombiert das Gepäck ohne genauere Prüfung. Der Grenzübertritt ins Königreich Böhmen wird durch Bestechungsgeld erleichtert, wobei der Beamte noch selbst darauf dringt, dass der kleine Privathandel nicht bekannt werde. Beim Verlassen von Würzburg ist man schon ruppiger und mit der französischen Douane auf der anderen Rheinseite bei Mannheim ist nun gar nicht zu scherzen. 

Dafür entschädigen die vielfältigen Eindrücke der Reise. In den Städten besichtigt man die Kirchen und Schlösser, wenn möglich gehen die beiden ins Theater. An Dresden etwa, einem Höhepunkt der Reise, beeindrucken nicht nur das imposante Stadtbild, sondern auch die frei zugänglichen Kunstsammlungen, die man mehr als einmal aufsucht. Einzelne Werke werden dabei im Reisetagebuch detailliert gelistet und beschrieben, wie später auch die Bildergalerie in Würzburg und die Antikensammlung in Mannheim. Die kulturellen Höhepunkte werden nicht nur dank genauer Vorbereitung und mitgeführter Stiche gleich erkannt, sondern ihr Eindruck auch festgehalten.

Vor allem aber zeigen sich die beiden von der Naturschönheit begeistert. Immer wieder machen sie Tagesausflüge in die Natur, besichtigen Burgruinen und suchen Aussichtspunkte, um den Blick von oben über die Landschaft zu genießen. Häufig geraten sie dabei ins Schwärmen. Dafür gehen sie entgegen der Standessitte auch gerne und lange zu Fuß. Mehr noch als die Städte mit ihren kulturellen und politischen Unterschieden suchen die Gondelas die Schönheit in der Natur, deren Beschreibungen bereits romantische Züge tragen. In Heidelberg gibt es dann auch kein Halten mehr: der übervierzigjährige Bremer Politiker geht mit seiner Frau „jubelnd über die Nekarbrücke [sic], wo wir einige Minuten bey der herrlichen Aussicht an beyden Seiten auf den grünen Neckar mit seinen romantischen Gebirgsufer [sic] verweilten.“ Hierher, nach Heidelberg, wird es sie auch nach seiner Pensionierung ziehen.

Geschrieben ist das Reisetagebuch in der Hauptsache von Heinrich und aus Heinrichs Perspektive, obschon Christine wohl ebenfalls Passagen hinzugefügt hat. In jedem Falle hat sie die Aufzeichnungen in einer sauberen Handschrift kopiert und den Text dabei sicherlich auch stilistisch überarbeitet, so dass er noch heute sehr gut lesbar ist. Michael Rüppel sind die lautstandsgetreue Edition zu verdanken sowie Kommentar und Nachwort. Dabei werden auch die Unterstreichungen übernommen, die in der Buchausgabe in einem unaufdringlichen Hellbraun gesetzt sind. Zahlreiche historische, meist farbige Ansichten aus dem frühen 19. Jahrhundert ergänzen die hervorragende Edition. Die Buchgestaltung lag in den Händen von Roland Stieger, der ganz in der Tradition der Anderen Bibliothek für eine bibliophile Ausgabe gesorgt hat.

Titelbild

Heinrich Gondela / Christine Gondela: Auf der Reise ins Paradies. Das Reisetagebuch von Heinrich und Christine Gondela aus dem Jahr 1802.
Hg. von Michael Rüppel.
AB - Die andere Bibliothek, Berlin 2015.
454 Seiten, 38,00 EUR.
ISBN-13: 9783847703624

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