Eine Magical Mystery Tour durch die Stadt der Liebenden

Ludwig Steinherrs Prosadebüt „Verona kopfüber“ sucht literarisch die Verbindung gefährdeter Liebe mit unerreichbarer Madonnenkunst und dem Dichten als Seelenventil

Von Marcus NeuertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marcus Neuert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es könnte so schön sein: Luisa und Konstantin, ein Ehepaar aus München um die vierzig, Eltern eines bezaubernden achtjährigen Mädchens namens Amanda, sind beruflich erfolgreich – er als Anwalt für Baurecht, sie als Philosophiedozentin an der Uni – und seit zwölf Jahren nach außen hin glücklich verheiratet. Sie führen ein im Prinzip sorgenfreies Leben, finanziell abgesichert, aber auch in zunehmend eingefahrenen Bahnen.

Konstantin spürt einen immer größer werdenden Widerwillen gegen seinen Beruf als Jurist, steckt mitten im Abschluss eines 350-Millionendeals fest, der ihn nicht fachlich, jedoch nervlich zu überfordern droht, denn er glaubt seine Ehe in der Krise. Luisa, die er abgöttisch liebt, scheint sich innerlich von ihm zu entfernen. Vage verdächtigt er sie, sich einen Liebhaber genommen zu haben – und will dies gleichzeitig nicht wahrhaben. Zum Ausgleich für seine Lebenskrise beginnt er Gedichte zu schreiben. Seine literarischen Ambitionen verbirgt er jedoch vor der Außenwelt und besonders vor Luisa, der er sich insgeheim weder intellektuell noch psychisch ebenbürtig fühlt.

Vor diesem Hintergrund reist das Paar nach Verona, die Tochter bleibt für die drei Tage bei Konstantins Mutter zurück, ist jedoch stets durch Anrufe, Kurznachrichten und die Erinnerungen an zahlreiche gemeinsame Aufenthalte in der Stadt präsent. Amanda scheint das einzige verbliebene echte Bindeglied für die Beziehung zu sein.

Statt der erhofften Aussprache erbittet sich Luisa von Konstantin einen Tag frei – der Ehemann sucht also allein die Stationen ihrer gemeinsamen Liebesgeschichte auf, hofft dabei aber insgeheim, Luisa zu begegnen, während diese vermeintlich auf eigene Faust in Verona unterwegs ist.

Ein Wechselbad der Gefühle aus Hoffnung, Trauer, Reflexion ereilt Konstantin, er lässt sich auf seiner ganz persönlichen „Magical Mystery Tour“, wie er sie nennt, durch die Stadt treiben. Dabei spielt ein Bildnis von Antonio Pisanello, die Madonna della Quaglia, welches vor einigen Jahren aus dem Museo del Castelvecchioentwendet und später wieder aufgefunden wurde, ein geheimnisvolle Rolle als Bezugspunkt für Konstantins Leben und Empfinden. Die zufällige Begegnung mit Stella, einer italienischstämmigen Studentin Luisas aus München, der er spontan bei der Renovierung einer kleinen Wohnung in der Altstadt von Verona hilft, reißt ihn für Stunden aus seinem Krisen-Kreislauf heraus. Doch abends trifft er im Hotel wieder auf Luisa, die ihm mitteilt, wo sie den ganzen Tag über wirklich gewesen ist.

Eine Liebesgeschichte mit atemberaubenden Wendungen“, verspricht der Klappentext. Sie sich zu erlesen soll hier nicht durch die Preisgabe derselben konterkariert werden; und dennoch sei gesagt, dass die Steinherrsche Lesegemeinde am Ende nicht wirklich schlauer sein wird als an diesem Punkt der Novelle Verona kopfüber: das dritte und letzte Kapitel der nur wenig mehr als hundert Buchseiten starken Geschichte lässt im Grunde alle Lösungsmöglichkeiten für die Konfliktebenen offen.

Ludwig Steinherr, Jahrgang 1962 und freier Schriftsteller sowie Lehrbeauftragter für Philosophie, hat nach über zwanzig Gedichtbänden seit 1985 in diesem Jahr zum ersten Mal einen Ausflug in das Reich der fiktionalen Prosa unternommen. Beinahe zeitgleich erschienen sind fünf Einakter, die unter dem Titel Museumsshop bei der edition offenes feld in Dortmund erschienen sind. Und erst Ende letzten Jahres kam Steinherrs neuester Gedichtband Zur Geburt einer Ming-Vase bei Allitera heraus. Nun haben nicht wenige Kulturschaffende unter den erschwerten Auftrittsbedingungen der vergangenen beiden Jahre mehr als genug Zeit und Muße für die Schreibtischarbeit gefunden, doch Steinherr nutzte diese Phase offenbar auch, um ganz neue literarische Wirkungsfelder für sich zu erschließen. Als Lyriker ist er seit vielen Jahren ein Begriff und regelmäßig in den wichtigen Kompendien der Republik vertreten, eines davon hat er 1993 sogar mitbegründet: die Jahresschrift Das Gedicht, welche von dem rührigen Poeten-Kollegen Anton G. Leitner betrieben wird.

Mit Verona kopfüber legt Steinherr ein Buch vor, das so unverkrampft konzipiert wirkt, als würde er schon seit Jahren nichts anderes tun als Prosa zu schreiben, trotz der wenigen Sätze, in denen man ein paar kontrafaktische Nahtstellen auszumachen meint, die einem aufmerksamen Lektorat eigentlich hätten auffallen müssen – was der Gesamtwirkung der Novelle jedoch keinen Abbruch tut.

Ludwig Steinherr verfügt über einen außerordentlichen Wissens- und Erkenntnisschatz in Bezug auf Philosophie, Kunst und Kunstgeschichte, doch am besten ist er darin, diesen nur andeutungsweise einfließen zu lassen; der Stil ist zu keiner Zeit kopflastig. Vielmehr schickt der Autor sein Lesepublikum auch einmal selbst auf „Bildungsreise“, sei es etwa zum platonischen Mythos der Kugelmenschen oder dem Bedeutungshintergrund der quaglia, jener mit abgebildeten Wachtel also, die der Madonna von Pisanello ihren Namen gab.

Die Novelle löst dieses Rätsel nicht selbst auf – analog zum offenen Ausgang, an deren Ende als poetischer Nachklang ein Langgedicht über die Entführung der Madonna steht, welches Steinherr seinem Protagonisten Konstantin in die Feder diktiert: Der Brief an die Kunsträuber vom Castelvecchio, in welchem die Versenkung ins Kunstwerk und die ehrwürdige Kulisse geschichtsträchtiger Orte „mit der großen Nachtstimme der Welt“ zu jenem wirkungsvollen Zauber gerinnen, der Geschichten, die in Italien spielen, so oft innewohnt.

Titelbild

Ludwig Steinherr: Verona kopfüber. Novelle.
Allitera Verlag, München 2022.
112 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-13: 9783962333294

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