Der paradiesische Duft der Magnolien

Halyna Petrosanyak legt in „Exophonien“ betörende Gedichte vor

Von Thorsten PaprotnyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Paprotny

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nicht allein heute träumen wir davon, uns in das Gewebe der Sprache zu begeben und uns ihr auch hinzugeben. Lyrik schenkt ein Zuhause. In der Vielfalt der Dichtung kann die Welt neu erkundet werden, anders wahrgenommen, vielleicht wirklich gesehen und behutsam, mit leiser Sympathie erkannt. Oder verstellen Sprachbilder und Wortfügungen den Blick auf die verletzliche Schönheit der Welt? Halyna Petrosanyak gehört zu den bekanntesten Stimmen der ukrainischen Lyrik.

Judith Schifferle, Philologin, Autorin und aufgrund längerer Aufenthalte mit Eurasien und der Ukraine gut vertraut, deutet auf ihre „Hoffnungen“, beschreibt vorsichtig und diskret im Vorwort ihre „fremd anmutenden Töne oder Bilder“. Leserinnen und Leser fragen sich: Tut sich hier tatsächlich eine andere Welt, eine ungewohnte Wahrnehmungsweise auf? Oder wird sprachlich eine Sensibilität sichtbar, die uns hineinnimmt in den Kosmos des Lebens- und Erlebensraumes namens Poesie? Gedichte aus drei Jahrzehnten von Halyna Petrosanyak warten darauf, entdeckt, erspürt und verkostet zu werden.

Die Lyrikerin erzählt von der „vergessenen Musik des Horizonts“, von Verlockungen, die aufscheinen, anziehen und entdeckt werden. Das lyrische Ich wird aber nicht „satt“ davon, denn reisend erkundet wird ein weites Land und inwendig erfahren eine „seltene Spezies Glück“, dann nämlich, „wenn ein obdachloses Herz / im Rhythmus der Landschaft schlägt“. Die Obdachlosigkeit hat viele Gesichter, Farben und Formen. In der Dichtung findet dieses Herz nicht sentimental, sondern ganzheitlich als Person – wie im Hebräischen also auch die Vernunft des Menschen miteinschließend – gedeutet, seine Stimme, bleibt in Bewegung und gewinnt Anteil an der Landschaft, in der es eine Stätte zum Verweilen oder sogar in rauschhafter Bewegung wie im Gleichklang schlagen darf, das heißt auch – weiterleben, nicht entfremdet, sondern angekommen, im Anderswo und auch bei sich selbst. Der mitnichten verträumte Blick des lyrischen Ichs ist nach vorne gerichtet, doch Erinnerungen bleiben unausweichlich:

Zeit ist es, aufzubrechen, denn das Land, das ich verlassen habe,
ist überwuchert mit den wilden Kräutern des Schweigens.

Heute treten uns die Bilder von Flucht, Vertreibung und Migration vor Augen, angesichts des entsetzlichen Krieges, der in der Ukraine tobt. Doch diese Gedichte sind sehr viel älter als das, was in diesen Zeiten allgegenwärtig ist. Nicht freiwillig gewählt sind so viele Aufbrüche, das gilt für das Leben anderswo nicht weniger. Wer zurückschaut, dem kommen je eigene „wilde Kräuter des Schweigens“ in den Sinn, auf gewisse Weise also Pflanzen, mit denen wir nicht verwachsen können, die aber auch nicht vergessen werden. Niemand zudem, so scheint es, befindet sich auf dem Weg in eine bessere, nur in eine andere Welt. Über das Paradies dichtet die religiös musikalische Halyna Petrosanjak oft:

Ich suche dein Gesicht in der Menschenmenge,
obwohl ich weiss, dass es aussichtslos ist.
Ich finde es nicht.
Es fehlt das Hauptmerkmal vom Paradies …

Sich der Aussichtslosigkeit bewusst werdend, hört die Suche doch nicht auf. Was gehört untrennbar also zu diesem letztlich doch weltlich anmutenden Garten Eden, aus dem das lyrische Ich vertrieben wurde? Unter so vielen Gesichtern vermisst wird das eine, nämlich „dein Gesicht“, die Gestalt, die vertrauten Gesichtszüge des Geliebten, die etwas karg als „Hauptmerkmal“ bezeichnet werden, anders gesagt also – die Herzmitte des Paradieses. Ohne „dein Gesicht“ sind die schönsten Blumen doch nicht mehr als äußerlich reizvoll. So wird die Dichtung zur Liebeserklärung:

Ich
Immigrantin
im Lande
Ohnedich
Nebel hier und
ein Himmel ohne Farben.
Hier leb ich nicht,
hier träum‘ ich bestenfalls
und wie im Traum
so auch im Wachen:
Nostalgie.
Ich unterhalte mich gut,
doch immerzu
will ich ins Land,
das da heisst
Du.

Das eigentliche Sehnsuchtsland, die große Weite, ist allein das „Du“, denn ein Gefühl der Heimat im Lande „Ohnedich“ kann es nicht geben, höchstens das Gefühl der „Nostalgie“, damit verbunden wohl auch Schwermut, und gute Unterhaltungen, die zum Zeitvertreib nützlich sind, aber entbehrlich bleiben. 

In Wien etwa erfährt die Dichterin, dass „meine Träume bereits mit deutscher Tonspur versehen“ sind, auch wenn sie noch immer auf Ukrainisch betet und beten möchte. Ein gläubiger, hoffnungsvoller Realismus zeigt sich, denn die Farben der Schmetterlinge sind „der beste Beweis dafür, dass Gott existiert“. Immer wieder zieht sich das lyrische Ich ins Schweigen zurück, nicht um sich abzuschotten, sondern eher, so scheint es, um auf andere Weise der Welt, ihren Formen sowie ihren Farben zu begegnen.

Natürlich kann eine Dichterin nicht schweigen, aber über die „Sprache des Schweigens“ nachdenken sehr wohl, über die „subtile Antirhetorik“, die neu sensibel macht für die Wahrnehmungen, die nicht mit vielen Wörtern zugedeckt werden sollen, sondern zu sanften Erkundungen einladen, von Natur, Mensch und Welt. War ganz am Anfang das „Du“ unentbehrlich und unverzichtbar für das Paradies, so erwacht eine neue Liebe zu den Blumen, insbesondere zu einer „Fremden“ im April, die „das ganze Leben beleuchten“ kann:

Dein Duft
erzählt mehr
über das Paradies
als die schönsten
Schilderungen.

Erlaube mir
einen Schluck
aus deinem Kelche,
Magnolie.

Halyna Petrosanyak würdigt diese unverwechselbare Blütenpracht, möchte, zumindest im Sprachbild, diesen Zauber verkosten und freut sich am Duft, der über alle unsere Wörter hinausreicht, damit auch über ästhetischen Glanz und jegliche Sprachartistik. 

Kunstvoll geformt und verfeinert, gefühlvoll und gefühlsecht erscheint dieser Gedichtband, den Leserinnen und Leser behutsam für sich entdecken dürfen. Am Anfang wurde das schmerzlich vermisste „Du“ genannt, das auch die Magnolien nicht ersetzen können und sollen. Wer aber sich an diesen Blüten erfreut und dankbar dafür bleibt, kehrt zumindest auf eine leise, stille Weise auf Pfaden der Erinnerung zurück in das Paradies, das zwar nicht gegenwärtig, aber vielleicht auch nicht ganz verloren ist, solange noch Magnolien leuchten und duften.

Titelbild

Halyna Petrosanyak: Exophonien. Im Rhythmus der Landschaft. Gedichte.
Der gesunde Menschenversand, Luzern 2022.
96 Seiten, 17,00 EUR.
ISBN-13: 9783038539919

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