Befreiung aus toxischen Familienbanden
Lea Draeger präsentiert in ihrem Roman „Wenn ich euch verraten könnte“, wie das Schreiben helfen kann, scheinbar Unsagbares zu kommunizieren und so einen Ausweg aus Traumata zu finden
Von Monika Grosche
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseVon Beginn an wird bei Lea Draegers Debütroman klar, dass das keine leichte Lektüre wird. Schließlich stößt uns die Autorin mit den folgenden Sätzen mitten hinein in eine düstere Familiengeschichte:
Als mein Großvater zwölf Jahre alt war, erhängte sich mein Urgroßvater am Deckenbalken seiner Backstube mit einer Hundeleine. Die Füße schwebten über dem Arbeitstisch. Er schaute starr von oben hinunter auf sein Kind.
Erzählt wird der Roman aus Sicht der Enkeltochter eben jenes Großvaters, der den grausigen Fund machte. Seine Enkelin befindet sich als 13jährige in einer psychiatrischen Klinik, denn die unheilvollen Beziehungen setzten sich in ihrer Familie bis in ihre Generation fort und trieben sie in eine massive Magersucht.
Brutal und kompromisslos lässt Lea Draeger ihre Protagonistin in kurzen Sequenzen, die zwischen Gegenwart und Vergangenheit hin- und herspringen, die Geschichte dieser Familie beleuchten. So entsteht aus den Einträgen, die das verstummte und zwangsernährte Mädchen während seines mehr als einjährigen Klinikaufenthaltes in einem Heft niederschreibt, ein Kaleidoskop aus struktureller Gewalt, Missbrauch und Sprachlosigkeit, die das Leben der Frauen in der Familie prägten.
Sie alle leiden gleichermaßen unter der grausamen und mitleidlosen Herrschaft eben jenes Großvaters, der sein kindliches Trauma nie verarbeiten konnte. Dies führte dazu, dass er im Leben gleich zweifach versagte: So wurde zum einen nichts aus seiner beruflichen Karriere als Schriftsteller, zum anderen machte ihn das Erlebte absolut unfähig, seiner Frau, seinen Töchtern oder auch seinen Enkelinnen Verständnis und Liebe entgegenzubringen. Stattdessen herrschte er über sie mit eiserner Strenge, Gewalt und Missbrauch.
Die weiblichen Mitglieder fügen sich in die familiären Machtverhältnisse, die durch einen erzkonservativen Katholizismus obendrein noch ihre scheinbare Legitimation erhalten. Doch während die Frauen der vorherigen Generationen so selbst zu einem Teil des Machtgefüges werden und mit zu dessen Aufrechterhaltung beitragen, reagieren die Enkelinnen mit Verweigerung. Die Schwester entzieht sich dem Postulat nach Schönheit, das an die Frauen der Familie gestellt wird, durch Fressattacken, die sie immer unförmiger werden lassen, während die Protagonistin den Weg der kompletten oralen Verweigerung beschreitet, indem sie weder isst noch spricht. Allerdings betreibt jede von ihnen allein und abgesondert ihre Versuche der Selbstermächtigung, da sie in ihrem toxischen Umfeld nie gelernt haben, einander zu vertrauen oder solidarisch zu sein.
Dabei sind diesem Roman mit seinem klaren, eindringlichen Stil schematische Schwarz-Weiß-Zuordnungen fremd: Egal ob „Mutter Magda Märtyrerin“, wie die Protagonistin die Großmutter mit ihrer Sammlung von „Heiliginnen“-Figuren nennt, die aufgetakelte Mutter, die ihren Mann mit wechselnden Liebhabern betrügt oder die beiden Mädchen – sie alle sind höchst ambivalente Figuren, die zugleich verzweifelt und traurig, aber auch grausam und verletzend agieren. Allein dadurch scheinen sie die innere Stärke zu finden, um in dem Mikrokosmos nicht vollends zugrunde zu gehen. Doch auch wenn es bis zum Schluss des Romans fraglich wirkt, so scheint es am Ende, dass es der Tochter gelingen wird, die familiären Traumata zu überwinden, indem sie sich schreibend der Familienvergangenheit entgegenstellt.
Dabei vermag es Lea Draeger auf kunstvolle Weise, eine Coming-of-Age-Geschichte mit der Geschichte von Migration nach Deutschland zu verbinden. Ursprünglich stammte die Familie aus Tschechien. Doch dort wurden sie von den kommunistischen Machthabern wegen ihres Katholizismus diskriminiert, der Großvater – im Buch stets nur „der Vater“ genannt – konnte deshalb seine schriftstellerischen Ambitionen nicht ausleben, sodass „sein Werk“ nun in Deutschland ehrfürchtig von Frau und Tochter verwahrt wird. Sowohl mit der Kultur des Heimatlandes als auch der in Prag zurückgebliebenen Familie haben die Großeltern einen Bruch vollzogen. Sie machen für das Scheitern des Großvaters das dortige Regime verantwortlich – und rächen sich für das erlittene Ungemach mit patriarchaler Härte und familiärer Gewalt.
Die Protagonistin fühlt sich weder in ihrer Ursprungsfamilie, deren Kultur ihr fremd ist und deren Sprache sie nicht spricht, noch in ihrer deutschen Umgebung zu Hause. Sie ist verloren, allein und unverstanden – und begegnet dem ihrerseits mit Absonderung, Verweigerung und Selbstzerstörung. Nicht zu essen, nicht zu sprechen und sich selbst blutige Wunden zuzufügen, das sind ihre Wege sich selbst zu spüren. – Am Ende ist aber der einzige wirkliche Ausweg, um sich von dem Unglück ihrer Familie zu befreien, das Schreiben. Oder mir den Worten der Protagonistin: „Ich werde sie finden, meine Geschichte. Auch wenn ich uns verraten muss.”
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