Ruheloses Reifen

In „Granatapfel“ lässt Ivo Rossi Sief tief in die Gedankenwelt einer Künstlerseele blicken

Von Michael FasselRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Fassel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ivo Rossi Siefs Romantitel Granatapfel ist der rhematische Titel Ein Werdungsroman nachgestellt, obgleich diese Gattungsbezeichnung in der Literatur unüblich ist. Möglicherweise möchte der italienisch-österreichische Schriftsteller seinen Roman in die Tradition des Bildungs- und Entwicklungsromans stellen und sich zugleich wiederum davon abheben, ja, eine neue Gattung etablieren. Die Bezeichnung lässt vermuten, dass es ums Werden, ums Reifen geht. Es ist kein Zufall, dass mit „Werden“ ein zentraler Begriff der dialektischen Logik aufgegriffen wird, ziehen sich doch philosophische, existenzielle Fragen wie ein roter Faden durch den gesamten Text.

In der nur wenige Seiten umfassenden Rahmenhandlung sitzt ein Ich-Erzähler am Tisch, der ankündigt, über Reinhard zu schreiben. Er schildert zunächst, worin seine Schreibmotivation nicht besteht. Ihm gehe es keineswegs um einen Menschen, der etwas besonders Großes geleistet hat. Vielmehr erzählt er „von der Unsicherheit, die in Sachen Seinsberechtigung bereits in seiner Geburtsstunde in der Luft hing. Ich erzähle vom Weggehen und Ankommen, vom Werden und Sein.“ Damit formuliert er Programm und Credo des Romans gleichermaßen.

Rossi Sief lässt tief in die Seele seines musisch veranlagten Protagonisten Reinhard blicken, der zu Beginn mit folgenden Sätzen eingeführt wird: „Reinhard hatte auf dem Papier einen doppelten Nachnamen. Ein Teil des Namens ist ein rein italienischer, nein der alleritalienischste von allen.“ Dass der auch als bildende Künstler tätige Ivo Rossi Sief hier autobiographische Spuren legt, wird schon an dieser Stelle offensichtlich.

Eingeführt als kränklicher und schwächlicher Außenseiter wächst Reinhard in einer „kargen Gegend“ und einem seelenlosen Elternhaus auf, so dass er sogar das Krankenhaus als Zufluchtsort für eine willkommene Abwechslung hält. Vielseitig interessiert, neugierig auf die Welt und ausgestattet mit musischem Gespür schlägt Reinhard verschiedene berufliche Schneisen in seine Biographie. Sein Parallelstudium der Psychologie in Innsbruck und der Architektur in Venedig bricht er auf Anraten des Akademiedirektors ab, um in Wien die Akademie der bildenden Kunst zu besuchen. Gemeinsam mit einem Schriftsteller kooperiert er im Rahmen eines Kunstprojektes, das sie Schriftbilder nennen (ein klarer Verweis auf das Projekt Schrift-Bilder von Rossi Sief und Joseph Zoderer im Jahr 1997). Vor allem im Rahmen seiner Ausstellungen sucht Reinhard stets die Aufmerksamkeit und die Bestätigung seines künstlerischen Schaffens in der Öffentlichkeit. Auch Tätigkeiten in Kunstformen wie Theater und Film interessieren ihn sehr.

Um- und getrieben von existenziellen Fragen und einer inneren Ruhelosigkeit sucht Reinhard nach seiner Berufung. Er erweist sich als Mensch mit herausragender Beobachtungsgabe, die eindrucksvoll im Kapitel Granatapfelbetrachtungen zum Ausdruck kommt, in dem er einen gereiften Granatapfel seziert und das Innenleben en détail studiert. Es sind eindrucksvolle Bilder und Metaphern, die den Roman lesenswert machen, etwa wenn Reinhards Sonderstellung unter seinen Schulkameraden beschrieben wird: „Unter den Jungen öffneten sich also auch die Türen der Kehle. Reinhard wurde aber nie einer, der etwas von Alkohol verstand.“ An manchen Stellen wirken einige Bilder jedoch teils schief, teils überzogen. In anderen Passagen stören gar die erklärenden Ausführungen des Erzählers, wenn er Reinhards Träume von einem Leuchtturm unter Gesichtspunkten der Freudschen Psychoanalyse erläutert und damit weitere Interpretationsspielräume einengt.

Obgleich Ivo Rossi Sief einen tiefen Einblick in die bildgewaltige Seelen- und Gedankenwelt des Künstlers liefert, bleibt sein Protagonist auf geheimnisvolle Weise fremd, schwer fassbar. Möglicherweise macht genau dieser Eindruck Reinhard zu einer spannenden literarischen Figur.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Ivo Rossi Sief: Granatapfel. Ein Werdungsroman.
Retina Verlag, Bozen 2021.
196 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9788899834203

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