Literarische Komposition
Alexis Ragougneaus Roman „Opus 77“ blickt tief in eine Künstlerseele
Von Michael Fassel
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDie erfolgreiche und ehrgeizige Konzertpianistin Ariane begleitet die Begräbnis-Zeremonie ihres Vaters Claessens, der ein weltberühmter Star-Dirigent war, am Klavier. Dies ist der Ausgangspunkt des Romans Opus 77 von Alexis Ragougneau. Gleichzeitig sieht die Ich-Erzählerin in dieser Situation den Anlass, sich mit dem Leben ihrer Künstlerfamilie auseinanderzusetzen und Szenen ihrer Vergangenheit zu reflektieren. Neben dem Patriarchen Claessens, der in den eigenen vier Wänden vielmehr strenger Musiklehrer denn sorgender Vater war, besteht die Familie aus ihrer psychisch labilen Mutter und ihrem drei Jahre jüngeren Bruder David, einem angehenden Geigen-Virtuosen.
Ragougneau, der bisher als vielfach ausgezeichneter Theater- und Kriminalautor in Erscheinung getreten ist, legt mit Opus 77 einen Roman vor, der tief in die Seele einer perfektionistischen Künstlerin blickt. Die Ich-Erzählerin Ariane betont von Beginn an, nun schonungslos ehrlich zu sein. Offen spricht die Solistin über den Erwartungsdruck des Vaters und den harten Wettbewerb hinter den Kulissen. Zugleich erzählt sie auch von ihrer Leidenschaft zur Musik, die wiederum gepaart ist mit der Angst, die sie vor und während des Konzerts verspürt. Diese Angst, erklärt sie, manifestiere sich als schwarzer, sie ständig begleitender Hund. Die Paranoia veranlasst sie zu der waghalsigen Handlung, unachtsam über eine viel befahrene Straße zu laufen – in der Hoffnung, der imaginäre Hund werde überfahren. Ist es die Furcht, die Kontrolle über das eigene Instrument zu verlieren? Oder die Angst vor dem Vater? Derartige Szenen und die intensive psychologische Ausleuchtung der Ich-Erzählerin stellen dar, wie widersprüchlich und facettenreich Ariane angelegt ist. Doch auch die anderen Figuren weisen spannende Dissonanzen auf.
Über all den episodenhaften Schilderungen, die nie in kausale Erklärungsmuster münden und nicht in chronologischer Reihenfolge erzählt werden, schwebt Arianes prominenter und anerkannter Vater Claessens. Sie erzählt auch seine Geschichte, nämlich die des international bekannten Pianisten, der aufgrund chronischer Beschwerden in seinen Handgelenken das Klavierspiel aufgeben muss. Er wechselt ins Dirigat. In dieser Funktion macht der Maestro Karriere, hier lebt der „befrackte Gesetzeshüter“ seine Macht mit dem Taktstock vor dem Orchester aus. Mit Erfolg – bis zu dem Tag, an dem sich sein Sohn David bei dem weltweit hoch angesehenen Königin-Elisabeth-Wettbewerb in Brüssel erstmals von seinem Vater dirigieren lässt, um diesen vor Publikum zu kompromittieren. Der Aufstieg des jungen David und der Fall des alten Patriarchen sind vereint in einer Szene, die eindrucksvoll einen familiären Konkurrenzkampf erzählt. Der unterschwellige Vater-Sohn-Konflikt wird rein musikalisch ausgetragen. Nunmehr ist es der junge Claessens, der das Publikum in seinen Bann zieht.
Und natürlich spielt der russische Komponist Dmitri Schostakowitsch eine besondere Rolle. Sein Violinkonzert Opus 77 dient nicht nur als Romantitel, sondern verleiht dem Showdown zwischen Vater und Sohn ein spannungsgeladenes Klangbild. Überdies folgt die Kapiteleinteilung der Satzfolge des musikalischen Werkes.
Ragougneau gelingt ein Balanceakt zwischen literarischem Gespür mit feinsinnigen Beobachtungen und psychologisch nuancierten zwischenmenschlichen Beschreibungen. Das Verhältnis der beiden Kinder zum Vater mit dem Begriff „ambivalent“ zu etikettieren, wird dem komplexen Beziehungsgefüge nicht gerecht. Das vielschichtige Seelenleben Arianes spielt sich vor einem klanglichen Hintergrund ab, insofern, als sich musikalische Bilder leitmotivisch durch den Roman ziehen. Die Metaphern sind stimmig, mehrdeutig, nicht übertrieben. Ragougneau weiß die Klaviatur musikalischer Begrifflichkeiten literarisch umzusetzen und setzt Querverweise zwischen Literatur und Musik gezielt ein. So ist beispielsweise der Name David eine bewusste Anspielung auf den Geiger David Oistrach, dem Schostakowitsch sein Konzert gewidmet hat. Der Roman zeigt eindrücklich, wie Klänge narratives Potenzial entfalten. Dass das literarische Klangbild auch im Deutschen wunderbar funktioniert, ist der Übersetzerin Brigitte Große zu verdanken.
Der mit dem Prix Libraires en Seine und dem Prix de l’Union Interalliée ausgezeichnete Roman Opus 77 liest sich spannend, die brodelnden Familienkonflikte werden in atmosphärisch dichten Szenen angedeutet, nicht aber auserzählt. „Es steht schließlich jedem frei, die Dinge zu Ende zu denken, seine eigene Lesart der Ereignisse zu finden, sich zum Urheber der Geschichte aufzuwerfen“, so Ariane. „Doch das würden Sie mir als Schwäche ankreiden, die meinem Ruf als internationale Solistin nicht angemessen sei.“ Dieses erzählerischen Meta-Kommentars hätte es im vorletzten Kapitel allerdings nicht bedurft. Dennoch: Sprachlich wie inhaltlich ein großartig komponierter Roman, während oder nach dessen Lektüre man sich unbedingt Schostakowitschs Opus 77 anhören sollte.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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