Helles Mittelalter
Thomas Frenz zeichnet ein erfrischend realistisches Epochenprofil auf 100 Seiten
Von Jörn Münkner
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseNein, das europäische Mittelalter war nicht finster, und wenn, dann höchstens in den dunklen Nächten, die noch keine Lichtverschmutzung kannten. Nein, das europäische Mittelalter war auch nicht kulturlos, sondern im Gegenteil kulturell produktiv und innovativ, und nein, das Mittelalter war weder gesetzlos noch geistig beschränkt. Damals entstanden spektakuläre Kathedralen, entworfen von exzellenten Baumeistern, in England wirkte die Magna Charta als Präzedenzfall in der Entwicklung von Demokratie. Auch die Unternehmungen, den Erdball zur See und auf dem Land zu erkunden, begannen im Mittelalter, während die Scholastik alle Wissensbestände dialektisch diskutierte, die griechische Philosophie – vor allem Aristoteles – wiederentdeckte und das östliche sowie arabische Wissen über Astronomie, Geografie und Geometrie neu rezipierte.
Die verneinenden Klarstellungen sind bekannt, zumindest bei all jenen, die sich für die Real-, Ideen- und Kulturgeschichte unserer Welt interessieren und den Klischees vom rückständigen Mittelalter nicht auf den Leim gehen. Gleichwohl ist die Diskrepanz zwischen Informierten und Wenig-Wissenden vorhanden, eine Kluft, die es immer gab und geben wird. Deshalb hören aber auch die Anläufe nicht auf, die Vergangenheit zyklisch neu zu vermessen. Thomas Frenz’ kleines Buch ist ein weiterer dieser Anläufe, das ‚dunkle‘ Mittelalter ins rechte Licht zu rücken.
Am Anfang stehen die geläufigen Fragen nach der angeblichen Finsternis des Mittelalters und seiner eigentümlichen Bezeichnung und Datierung. Beides beantwortet Frenz lakonisch, so wie überhaupt das ganze Buch auf Bündigkeit setzt. Elf Hauptpunkte mit Unterpunkten gliedern es; die Präsentation kommt ohne Fußnoten aus, bietet einige Abbildungen und Infografiken und profiliert das Mittelalter allgemein verständlich und breit gefächert. Persönliche Kommentare und Reminiszenzen des Autors lockern den Redefluss auf. Das lockere Dozieren kommt gut, der Emeritus plaudert gleichsam aus dem Nähkästchen, die Darstellung gleicht der Erzählstunde des Experten, den der ‚Fanclub Mittelalter‘ eingeladen hat – warum nicht, voilà!
Um auf die Finsternis zurückzukommen: Diese sei die diffamierende Metapher einer unterstellten Niveaulosigkeit der Epoche, in Umlauf gebracht von den selbstverliebten, sehnsuchtsvoll die Antike beschwörenden Humanisten in der anschließenden Renaissance. Ganz passend hier die muntere Gegenfrage, was wir denn heute vermissen würden, wenn es das Mittelalter nicht hervorgebracht hätte? Zuzüglich zum bereits Erwähnten ist an Brille, Papier und mehrstimmige Musik zu denken, an gleichmäßig laufende Uhren, die arabischen Ziffern und die aus Übersee importierten neuen Lebens- und Genussmittel Kartoffeln, Kakao, Mais und Tabak. Eine Menge an Dingen, Ideen und Entdeckungen also, deren Herkunft das Mittelalter ist.
Was die Datierung anbetrifft: Der Möglichkeiten, das ‚mittlere Alter‘ zu begrenzen, gibt es viele, sei es aus geopolitischer, dynastischer, medientechnischer, entdeckungs- und/oder religionsgeschichtlicher Perspektive. Frenz’ Vorschlag, angesichts der Covid-Erfahrung einen epidemiologischen Ansatz zu wählen, wirkt deshalb erfrischend. Wie wäre es also, wenn wir die Justinianische Pest von circa 550 unserer Zeitrechnung an den Anfang der Epoche stellten, die Pestpandemie des Schwarzen Todes, die ab 1346 zu wüten begann, hingegen an ihr Ende? So ließe sich das Medium Aevum mit seinen „ausgefransten Rändern“ mit sehr aktuellem Bezug einordnen.
Anschließend geht es um den ordo, also die richtige, weil gottgewollte, Ordnung der Welt, inklusive ständischer Gesellschaftsstruktur und Geschlechterrollen. Bei der Vorstellung von neun Persönlichkeiten, die der Autor subjektiv aber stellvertretend für bedeutende Figuren des Mittelalters auswählt, legt er sich besonders ins Zeug. Die Biogramme sind aufschlussreich, weil in den Vitae die (zumindest für den Stand des Adels und des Klerus) genuin mittelalterlichen Rahmungen und Spielregeln ablesbar werden. Betrachtungen zu Religion, Religionen und den Kreuzzügen, zu Liebe und Ehe, Essen und Schule, Fakt(izität) und Faktenmanipulation, zu Krankheit und Sterben und schließlich zur anhaltenden Faszination des Mittelalters schließen an.
Autor und Verlag haben das Buch sicherlich ohne allzu großes Kopfzerbrechen produziert. Der Präsentationsmodus und einige Lapsus sprechen dafür. Letztere sind minimal, ein, zwei Mal stiften sie aber Verwirrung: etwa wenn Papst Urban II. mit seiner Rede „Deus lo vult!“ vom November 1095 für den 1. Kreuzzug mobilisiert, der aber eben nicht erst einhundert Jahre später stattfindet („1196“), sondern – korrekt – im Jahr darauf, also im Sommer 1096.
Dem Inhalt tut das nichts zur Sache, die Reihe Reclam 100 Seiten bietet einem Fachmann die Möglichkeit, auf Sendung zu gehen. Bei der Lektüre kommt der germanistische Mediävist ebenfalls auf seine Kosten, weil der Historiker-Autor auch der mittelalterlichen Dichtung und Literatur zu ihrem Recht verhilft: Er nutzt sie als historische Quelle, bemisst kundig ihre ästhetische Wirkung und wertschätzt sie so als Fernrohr in vergangene Zeit. Schmale Bücher, die in Wissensreihen wie der vorliegenden erscheinen, sind sinnvoll – gehen wir von Menschen aus, die noch Gedrucktes zur Hand nehmen, die vielleicht mit dem öffentlichen Verkehr zur Arbeit fahren und dadurch extra Mußemomente geschenkt bekommen. Das Bändchen Mittelalter passt in jede (Gesäß-)Tasche und bietet komprimiertes Wissen, fest gebunden, ohne Internet-Muss, Hypertext und anderen Firlefanz. Den Gutenbergianer in unserer digitalen Zeit freut das.
Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg
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