Begleitet von der Schuldfrage

Nach dem Suizid der Schwester dringt Bettina Flitner in „Meine Schwester“ tief in die Familiengeschichte ein

Von Liliane StuderRSS-Newsfeed neuer Artikel von Liliane Studer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eigentlich wollten die drei Frauen – Bettina Flitner, Alice Schwarzer und eine Freundin aus Wien – einfach den schönen Abend genießen. Sie waren gerade dabei, die Geschenke – schicke Oberteile, die die Freundin persönlich ausgewählt und mitgebracht hatte – anzuprobieren, als das Telefon klingelte: „Es war Thomas, der Mann meiner Schwester. Er schrie und schluchzte ins Telefon. Er hatte meine Schwester im Bad gefunden, als er um halb zehn nach Hause gekommen war.“ Sofort erinnerte sich Bettina an einen anderen Anruf. „33 Jahre vorher. Ich hatte den Hörer in der Hand. Mein Vater ist am Telefon, er sagt: ‚Tina, Mami ist tot.‘ Dann hat sie es also wirklich getan, denke ich.“ Die gleiche Sprachlosigkeit erfasste die Autorin, die weit über Deutschlands Grenzen hinaus bekannte Fotografin Bettina Flitner, auch in diesem Frühjahr 2017, als sie die Nachricht bekam. Der „Katastrophenmodus lief“. Sie versuchte, den Vater zu erreichen. Sie rief den besten Freund ihrer Schwester an. Sie packte ein paar wenige Sachen ein für die Reise am nächsten Tag zum Wohnort der Schwester. Sie funktionierte. Unterstützt von Alice.

Dass sie es dabei nicht bewenden lassen konnte, wusste Bettina Flitner. Da waren so viele Fragen, die sie nicht mehr losließen. Ihnen musste sie sich stellen, ihnen nachgehen.

Ich suchte, wie alle am Tisch, den Moment, an dem ich die Zeitmaschine in den Rückwärtsgang hätte schalten können. Was? Hätte man? Wann? Tun? Müssen? Da war es wieder, fast auf den Tag genau wie vor 30 Jahren. Bei dem Tod meiner Mutter. Jetzt also meine Schwester.

Bettina Flitner tauchte ein in die Erinnerungen an ein Familienleben, das gezeichnet war von den Schwierigkeiten, die die Eltern miteinander hatten – die unzähligen Seitensprünge, die Streitereien, später die Trennung –, von einem lustigen Vater, der ganz plötzlich auch hart sein konnte. Von vielen Umzügen und gemeinsamen Ferien, von inniger Nähe zwischen den Schwestern. Schön waren die Aufenthalte bei den Großeltern, wenn die Eltern zu zweit weg waren. Zwischen den Schwestern ist eine Vertrautheit, die ihnen hilft, auch die schwierigen Zeiten durchzustehen. Bettina Flitner erzählt von Momenten intensiver Nähe, wie sie vielleicht nur zwischen Schwestern möglich ist. Auch als Erwachsene gibt es die starken Banden zwischen ihnen, immer wieder jedoch auch das Trennende, etwa wenn sie sich in Paris in einem Kosmetikgeschäft umsehen:

Der Körper war auf die verschiedenen Regale verteilt: Es gab Regale für das Gesicht, für die Lippen, die Oberschenkel, den Po, die Zehen, die Fingernägel, die Augen, für die Hände, die Füße. Alles war Anti, alles war dagegen. Anti-rides, Anti-taches, Anti-chute, Anti-age. Gegen Falten, gegen Flecken, gegen Haarausfall, gegen Alter. Gegen trockene Haut, gegen fettige Haare, gegen raue Lippen. Nichts war für etwas. Wenn man alles auf einmal anwendet, dachte ich, ist man nicht mehr da.

In solchen Passagen steckt der feine Humor, der diesen Text ebenso auszeichnet wie die ständig präsente Trauer, die sie seit dem Tod der Schwester begleitet. Die so ganz anders gewesen ist als die Autorin. Die Schwester war eine dieser Frauen, die alle diese Mittel angewendet hatte, und jetzt – als hätte Bettina Flitner es vorausgesehen – ist sie nicht mehr da.

Hätte sie, als Schwester, damals etwas merken können? Merken müssen? Hätte sie den Selbstmord verhindern können? Auch wenn sie weiß, dass es nicht möglich gewesen wäre, begleiten sie die Vorwürfe. Denn da war dieser letzte Anruf, acht Tage davor, die Schwestern hatten lange telefoniert, Bettina war „genervt“, da „das Gespräch sich im Kreis drehte“. Später fragte sie sich, warum sie nicht genauer hingehört hatte. Und am Tag selber: Sie sah die Nummer ihrer Schwester auf dem Display, sie versuchte x-mal zurückzurufen, doch nahm niemand ab. Es bleibt dieses Läuten ins Leere, das die Autorin während des Schreibens begleitete und das auch die Leser:innen ständig im Hintergrund hören – es hält den einen Strang des Textes, die Zeit nach dem Suizid der Schwester, zusammen. Im anderen Strang blickt die Autorin zurück in der Familiengeschichte.

Überzeugend ist nicht nur die Struktur dieses Textes, ebenso beeindruckend ist die Sprache, die Bettina Flitner in ihrem Debüt einsetzt. Kurze und knappe Sätze, nüchtern, ohne Pathos. So gelingt es ihr, das Geschehen umso eindringlicher zu gestalten. Auch als Fotografin hat sie in ihren Reportagen und Serien immer wieder mit Text gearbeitet, in denen sie die Porträtierten zu Wort kommen ließ.

Ihr Buch Meine Schwester – ihr Debüt – hat nur ein Foto, nämlich auf dem Umschlag. Da schauen zwei schöne junge Frauen in die Kamera, die hinten stehende Jüngere hält die Kamera in der Hand. Bettina Flitner war damals 21, drei Jahre älter ihre Schwester. Sie trafen sich beim Vater, der in Hamburg lebte. Die eine wollte sich zur Filmcutterin ausbilden lassen und hatte ihre erste Kamera, eine Nikon, in der Hand, die andere wusste beruflich nicht weiter, die Ausbildung als Gymnastiklehrerin musste sie wegen Rückenschmerzen abbrechen.

Ich möchte uns beide fotografieren. Zusammen. Dafür brauchen wir einen Spiegel. Wir gehen ins Badezimmer, hier hängt der alte Spiegelschrank, der ihr einst eine so günstige und mir eine so ungünstige Prognose gestellt hatte. Und jetzt stehen wir da, in dem großen Bad mit den blau-weißen Kacheln, dicht nebeneinander. Es ist nicht sehr hell hier, und ich stütze die Kamera auf ihrer Schulter ab, damit die Aufnahme nicht verwackelt. Hier ist meine Schwester. Und dahinter bin ich. Wir spiegeln uns im Glas. Ich sehe sie an und sie mich. Das Spiegelbild der anderen. Die Kamera ist auf uns gerichtet. Ich drücke auf den Auslöser. Die Blende öffnet sich. Eine 30stel Sekunde lang. Eine Ewigkeit.

Zwei schöne ernst blickende Frauen – auch wenn immer wieder von der Schönen (die Schwester, deren Namen Susanne nur ganz selten genannt wird) und der Klugen (Bettina) die Rede war –, denen die Zukunft offen steht, so der Eindruck. Denn war es wirklich so, dass die Ältere das mütterliche Gen geerbt hat, die andere nicht, wie es ein verwandter Arzt am Tag nach dem Tod der Schwester ausdrückt? Es ist eine dieser Fragen, die Bettina Flitner umtreibt und zum Eintauchen in die Erinnerungen führt, vielmehr zwingt.

Bettina Flitner brauchte lange, bis sie sich schreibend dem Tod ihrer Schwester, dem Tod ihrer Mutter und ihrer Familiengeschichte zuwandte. Der Todestag der Schwester jährte sich im Frühjahr 2020 zum dritten Mal. „Ich setzte mich an den Schreibtisch mit der Absicht, meine Website neu zu gestalten. Ich klappte meinen Laptop auf, öffnete eine neue Schreibdatei und begann mit dem ersten Satz dieser Aufzeichnungen. Es war einfach der richtige Moment.“ Und es war auch der richtige Moment, um erstmals nach fast vier Jahren den Koffer wieder zu öffnen, den die Schwester vier Monate vor ihrem Tod der Autorin mit den Worten „Damit du dich erinnerst“ übergeben hatte.

Titelbild

Bettina Flitner: Meine Schwester.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2022.
320 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783462002379

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