Federleicht

Christine Langer legt in „Ein Vogelruf trägt Fensterlicht“ sinnreiche Gedichte vor

Von Thorsten PaprotnyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Paprotny

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Auf die Frage, wovon heute in Prosa und Lyrik die Rede sein müsse, würden viele Zeitgenossen vermutlich an humanistische Gedanken und engagiert sowie ambitioniert vorgebrachte politische Betrachtungen denken. Unzeitgemäß, ja unschuldig wirkt und klingt dagegen der Titel von Christine Langers Gedichtband. Die Dichtung taugt nicht für Freiheitskämpfe, wird in Zeiten des Krieges und der Pandemien vielleicht übersehen, überhört und verkannt. Wer mag sich schon Zeit nehmen für poetische Betrachtungen über die Natur, von der wir doch noch immer umgeben sind? Christine Langer spricht über „rauschende Silben“ und eine „Baumlandschaft“, schaut den Vögeln zu und sinniert gedankenvoll über das „Gewölk in den Kronen“ der Bäume – ist das zeitlos, zeitentrückt oder doch gegenwartsnah? Staunend begeben wir uns also auf die Spuren dieser zart formulierten, auch verletzlich anmutenden Versen.

Christine Langer denkt über die „innere Ordnung“ nach und hält Ausschau nach Licht, insbesondere – die Corona-Pandemie wird sichtbar – in dem „verordneten Stillstand“ der vergangenen Jahre:

Seit dem verordneten Stillstand
Lese ich zwischen ziehenden Wolken, pflanze ich

Bäume mit Blicken und tapeziere aus Erinnerungen
Die Wände meines Zimmers tulpenrot.

Jeden Tag werte ich tanzende Muster aus,
Vorläufige Pläne.

Den Schatten, die nunmehr alle Winkel schlucken,
Stelle ich einen Zeilenanfang entgegen.

Das Gegenteil vom Verzicht? Das Licht fällt ein, bricht sich
Im Fensterglas

Stillstände sind uns vertraut. Mir kommt zudem die Schulzeit in den Sinn, anderen Leserinnen und Lesern vielleicht die eine oder andere Lebensstation, als der Blick aus dem Fenster in die Wolken Zuflucht schenkte – über die hautnah erfahrene Trostlosigkeit, den machtvoll beschworenen Ernst des Alltags und die schwierigen Zeitläufte. Zuversicht keimt auf, „tulpenrot“ koloriert, und der „Zeilenanfang“ ist mehr als nur ein lyrischer Trotz. Das Licht, nach dem sich alle doch sehnen, ist noch da, denn es „fällt ein, bricht sich / Im Fensterglas“. Wir dürfen aufatmen, zumindest für einen Moment – und Hoffnung haben, dass „tanzende Muster“ wirklich bleiben oder wieder wirklich werden. Christine Langer denkt an „Wolkenlieder“ und an die „wachsende Langsamkeit“ des Schreibens, bleibt sich der „schweren Schleier“ bewusst, die im Alltag gegenwärtig sind, aber dichtend möglich ist ein anderes „Sehen durch luftiges Gras“. Sie denkt an „das Licht, das Wege öffnet“ und erinnert sich an Hölderlins Gedicht An die Natur, an einem „Julitag“, in Tübingen:

Die Himmel, von Blüten übergossen, halten die Wasser,
Boote wechseln die Ufer,
Überm Turm steht die Sonne

Silben kreisen,
Sie blieben,
Sie bleiben,
Sie wandern von außen nach innen,
Sie halten die Erde, zeitverwurzelt

Gespräche unter Bäumen werden fortgesetzt,
Überm Turm steht die Sonne, immer noch

Oft, vielleicht zu oft richtet sich unser Blick nach innen. Wir sehen dann die Schönheit der Welt nicht mehr. Christine Langer ist Hölderlins Lyrik, auch der Gestalt des traurigen Dichters sehr zugetan. Die „Sonne“ bleibt droben, zum Himmel aufschauen können und dürfen wir, aber es scheint, als würden die Gedanken immer schwer und schwerer, auch schwerblütiger. Wir schauen auf den Turm, und dieser wirkt wie ein Gefängnis, nicht wie ein Zufluchtsort, der Obdach schenkt. Über dem Turm, auch über allem, „steht die Sonne, immer noch“ – und auch darum dürfen „Gespräche unter Bäumen“ noch stattfinden und „fortgesetzt“ werden. Diese Hoffnung ist real, bleibt gegenwärtig und darf bekräftigt werden: „Überm Turm steht die Sonne“. Zugleich, so dichtet Christine Langer, dürfen wir auch: „Das Licht noch mehr lieben, wenn es fehlt.“ Doch schwebende, federleichte Schritte ins Offene hinaus gelingen manchmal, aber nicht immer:

Sonnentaumelnd fühlt sich das Gehen leicht an,
Schwebend fast.
Wie die kleinen silbrigen Buschflocken,
Die unablässig durch die Luft wirbeln.
Der Fluß schwillt an, steigt bis zu den Weidenstämmen
Und steigt weiter, in meinem Innern.
All die angestrahlten, leichtgewordenen Körper;
bis zum Dämmer.

Von der Schwerelosigkeit träumt die Dichterin, und für Augenblicke sind die Träume so wirklich, so greifbar, wie sie nur sein können. Aber nur „sonnentaumelnd“, also momenthaft, „fühlt sich das Gehen leicht an“. Wir versprechen oder erhoffen uns von der Dichtung eine lichtreiche Unbeschwertheit. Aber die Lyrik hält nicht oder nicht immer, was wir uns von ihr sehnsüchtig wünschen. Auch darum dichtet Christine Langer erdnah und gewissermaßen bodenständig.

Die Lyrikerin hält nichtsdestotrotz Ausschau nach Sonnenlicht und berichtet von kostbaren Momenten, die Ausblicke öffnen – zum Himmel empor. Die Hoffnung auf lichtvolle Tage bleibt. Auch Friedrich Hölderlin wusste davon, so scheint es. Wir dürfen lesend dankbar sein, dass die „Gespräche unter Bäumen fortgesetzt“ werden können, so auch in diesem Frühling und in diesem Sommer. Christine Langer hat uns einen kostbaren, ernsthaften, bereichernden und lichtvollen Gedichtband geschenkt.

Titelbild

Christine Langer: Ein Vogelruf trägt Fensterlicht. Gedichte.
Mit einem Nachwort von Mirko Bonné.
Alfred Kröner Verlag, Stuttgart 2022.
104 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783520765017

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