Fasziniert von der Weite, dem Licht und dem endlosen Himmel

Ein neuer Schriftenband über Georgia O’Keeffe, die Pionierin der amerikanischen Moderne

Von Klaus HammerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hammer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

1923 malte sie ihr erstes großes Blumenbild. Die übereinander liegenden samtenen Blütenblätter und die aufrechtstehenden Stempel führten zu sexuellen Deutungen, die von der Malerin allerdings vehement zurückgewiesen wurden. Aber eine pantheistische Sinnlichkeit kann doch für ihr Werk bezeugt werden, die in der Vielfalt der Welt, in einer unmittelbaren Verbindung des Menschen mit der Natur zum Ausdruck kommt. Die Landschaften malte sie mitunter wie die Mulden, Kurven und Falten des menschlichen Körpers.

Ihr war Abstraktion die präziseste Form für das nicht Fassbare. Ob es ihre überdimensionalen Blumenbilder in strahlenden Farben und von geheimnisvoller Tiefe waren, ihre Landschaften des Mittleren Westens, ihre schon spirituellen Beziehungen zu den Räumen New Mexicos im Südwesten der USA, ihre Tierschädel über weitem, klarem Wüstenhimmel, ihre Serie von Wolkenkratzern in New York mit ihren tiefen Straßenschluchten oder ihre späten schwindelerregenden Himmelslandschaften: Sie, die zu den ersten Frauen der frühen amerikanischen Moderne gehört, regte an und regte auf ob der Kühnheit ihrer Malweise, der ergreifenden Ausdruckskraft ihrer Gefühle, die sie – wie ein amerikanischer Kritikersagte – zu Symbolen umwandelte, aber auch der atemberaubenden Akkorde aus Komplementärfarben.

Georgia O’Keeffe, die Tochter eines Farmers aus Wisconsin, unterrichtete ab 1915 am Columbia College in South Carolina und debütierte 1916 mit einer Serie von abstrakten Kohlezeichnungen mit Kurven, Voluten und Spiralen. Sie nannte sie ihre Specials, die ihre Freundin Anita Pollitzer in New York dem Fotografen und Galeristen Alfred Stieglitz zeigte. Dieser stellte sie sofort in seiner Galerie 291 aus. Der Pionierfotograf Arthur Stieglitz, der in New York einen einsamen Kampf um die moderne Kunst führte, sah sich früh in der Rolle eines Mentors dieser faszinierenden Künstlerin. 1924 heirateten beide, da war sie 37, er fast 61 Jahre alt, aber sie ging weiterhin unbeirrbar ihrer Berufung als Malerin nach. 1929 erlebte sie erstmals die Weiten und geologischen Formationen New Mexicos und kehrte hier alljährlich immer wieder zurück und lebte dann nach dem Tod von Stieglitz (1946) ständig dort.

Die Fondation Beyeler in Riehen/Basel zeigt jetzt eine Retrospektive mit 85 herausragenden Werken der Malerin (bis 22. Mai 2022). Wie hat Georgia O‘Keeffe ihre Umwelt wahrgenommen und sie in ihren Bildern umgesetzt? Diesem Anliegen widmet sich der die Ausstellung begleitende Schriftenband mit aufschlussreichen Beiträgen, einer detaillierten Biografie der Malerin und vor allem einem repräsentativen Bildteil. Didier Ottinger, Generalkurator des französischen Kulturerbes und Spezialist für moderne und zeitgenössische Malerei, gibt unter dem Titel Eine Modernität außerhalb der Norm eine Positionsbestimmung der Malerin innerhalb der amerikanischen wie internationalen Moderne. Ihr Wunsch nach offenen Räumen, jenen ihrer Kindheit in den unendlichen Weiten des Mittleren Westens verwandt, fand ihre Erfüllung in der spirituellen, mystischen Beziehung zu den Räumen New Mexicos, auch in der Entdeckung der indigenen Kultur und der tief in der indianischen Seele verwurzelten Melancholie. Sie hat den Brückenschlag zwischen europäischem Modernismus und amerikanischer Nachkriegsabstraktion vollzogen.

Mit O‘Keeffes Wanderlust und Schaffenskraft beschäftigt sich Marta Ruiz del Arbol, Kuratorin am Museo Thyssen-Bornemisza in Madrid. Sie weist darauf hin, dass mit wenigen Ausnahmen keine von den Reisen, die mit dem ersten Europabesuch der nunmehr 65jährigen Malerin 1953 einsetzten – 1959 folgte dann eine Weltreise –, Spuren in ihren Werken hinterlassen hat. Aber vom Flugzeugfenster aus hat sie die vielen Flüsse, Nebenarme und Mündungen erstaunt wahrgenommen, die sich über die Erdoberfläche hinzogen.

So entstanden ihre Himmel-über-den Wolken-Gemälde, auf denen sich Flussbänder wie ein Traum durch flache Landschaften winden. Aufgrund der kühnen, ungewöhnlichen Farben erhielten sie Titel wie Es war Gelb und Rosa (1959) oder Es war Blau und Grün (1960). Ein Gefühl der Freiheit kam der Malerin auf angesichts des sich endlos dehnenden Himmels. Zeigte sie zunächst eine dichte, weiße Wolkenmasse unter dem grenzenlosen Himmel (Himmel mit flacher weißer Wolke, 1962), brach sie später die Wolkenschicht auf und ließ die einzelnen disparaten Wolkenverbände miteinander kollidieren, zwischen die – fast unmerklich – ein Weg in die Unendlichkeit zu führen scheint.

Wie sehr die moderne Fotografie die einzigartige Sehweise der Malerin mitgeformt hat, zeigt der Beitrag Das Objektiv der Malerin von Ariel Plotek, Kurator am Georgia O’Keeffe Museum Santa Fé, New Mexico. Stieglitz hat seine Partnerin nicht nur fortwährend fotografiert – fast dreihundertmal – sie tauchte selbst auch in die Welt der Fotografie ein und geriet so ins Zentrum des Stieglitz-Zirkels.

Häufig glichen O’Keeffes Bilder Nahaufnahmen, sie haben oft die Schärfe eines Fotos und ihr unsichtbarer Pinselstrich lässt die Oberfläche glatt erscheinen – wie die eines Abzugs. Die Malerin wählte von ihrem Gegenstand nur einen Ausschnitt oder sie verlagerte ihn aus der Bildmitte heraus, so dass das Werk den Eindruck eines seitlich beschnittenen Fotos vermittelt. Aber gerade ihre Blumenbilder demonstrieren dann auch wieder, dass die Art und Weise, wie sie die Linien zu abstrahieren sucht, so in Calla in hohem GlasNr. 2 (1923), eben nicht auf die Fotografie, sondern auf die Malerei verweist. Oft stellte sie die Blumen wie „aufgespannte Schmetterlinge“ dar, so der O’Keeffe-Biograf Laurie Lisle, oder mit einem inneren Leuchten, wie in Stieglitz‘ Wolkenbildern. Ihre sich bebend öffnenden Blütenblätter, ihre angeschwollenen Staubgefäße und Blütenkronen führen tatsächlich immer wieder in die Versuchung einer erotischen Deutung.

Seit 1934 bewohnte O’Keeffe – zunächst nur den Sommer über – die Ghost Ranch in New Mexico und war beeindruckt von den roten Felsformationen und ausgewaschenen Hügeln des Chama River Valley sowie von den Farben, die es hier zu entdecken gab. Immer wieder erscheinen Blüten und Knochen in ihren Bildern, so in Widderkopf, weiße Stockrose, Hügel (1935) als die gegeneinander ankämpfenden Kräfte des Lebens und des Todes. Sommertage (1936) präsentiert das Bild eines Hirschschädels, der zusammen mit einem Strauß roter und gelber Sommerblumen zwischen weißen Wolken wie eine Fata Morgana anmutet. 1937 malte sie Aus der nahen Ferne (1937): Ein riesiges Elchgeweih, das in die Luft aufgestiegen zu sein scheint und dann vor einer Morgendämmerung aus zarten Rosa- und Blautönen zum Stillstand gekommen ist. Darunter liegen schneebedeckte Berge in klarer Sicht. Als Bilder „feierlicher Rätselhaftigkeit“ sind sie bezeichnet worden.

Die Malerin entwickelte ein neues Gefühl für Weiträumigkeit. Ständig verschob sich ihre Perspektive. Die Gegenstände scheinen in der klaren Wüstenluft entweder ganz nah – förmlich greifbar – oder ganz fern zu sein. Der Schmetterlingsperspektive der Blumenbilder steht jetzt eine Adlerperspektive gegenüber, bemerkt Laurie Lisle. Von ihrem 1940 erworbenen Rancho de los Burros aus hatte O’Keeffe den Blick auf einen Tafelberg, der ihr als häufiges Motiv diente. Sie malte sein abgeflachtes Tableau, und seine Schräghänge zusammen mit roten Hügeln, Blumen, mit Mond und Sternen, manchmal unter einem blauen und manchmal unter einem grauen Himmel (Mein Vorgarten. Sommer, 1941).

Black Place III (1944), eigentlich eine Formation mit grauen und schwarzen Felsschichtungen, gestaltete sie zu einem Zusammenspiel aus scharfen senkrechten Zickzacklinien und fließenden waagrechten Formen. Dafür verwendete sie ein tiefes Schwarz und Schneeweiß, durchsetzt mit einem Blutrot. Fünf Jahre danach malte sie noch einmal dasselbe Motiv, nun in den Farben Rosa und Grün (Black Place Grün, 1949).

1945 kaufte sie in dem kleinen historischen Dorf Abiquiú ein Anwesen, das sie zu ihrem privaten Pueblo umgestalten ließ. Die strenge, klare, lichtdurchtränkte Serie von Patio-Bildern, die sie über einen Zeitraum von 15 Jahren malte, spiegelt das einfache, aber nicht einsame Leben wider, das sie innerhalb der Patiomauern ihres Hauses führte.

O‘Keeffe fand im Alter besondere Beachtung in der Generation der jungen Frauen, die ihre Unabhängigkeit, ihre leidenschaftliche künstlerische Selbstbehauptung bewunderten. Als Feministin aber wollte sie nie bezeichnet werden. 1986, mit 98 Jahren, starb die große alte Dame der Malerei. Auf die Frage, wie sie denn der Nachwelt in Erinnerung bleiben wollte, hatte sie lapidar geantwortet: „Als Malerin – einfach nur als Malerin“.

Titelbild

Theodora Vischer (Hg.): Georgia O‘Keeffe.
Hatje Cantz Verlag, Ostfildern/ Ruit 2022.
208 Seiten, 58,00 EUR.
ISBN-13: 9783775751940

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