Wenn das Neue „klassisch“ wird

Frieder Reininghaus beschreibt in „Rihm. Der Repräsentative“ den Künstler als Performer seiner selbst und spart nicht mit ironischen Spitzen in Richtung Kulturbetrieb und subventioniertem Geniekult

Von Nora EckertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nora Eckert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Keine Frage, der Komponist Wolfgang Rihm belegt einen Spitzenplatz in der neueren Musikgeschichte, und der bundesrepublikanischen zumal. 1952 in Karlsruhe geboren, verbreitete sich seit den 1970er Jahren sein Ruf als ein kreatives Genie, das unermüdlich Musik zu Papier bringt – sei es für das Musiktheater, für Orchester und Chor und für Kammermusik-Ensembles in allen denkbaren Besetzungen. Der Applaus war und ist ihm stets sicher, dem auch die stärksten Schlagwerk-Gewitter in manchem seiner Werke nichts anhaben konnten.

Sein Verlag, die Universal-Edition, listet aktuell Notenmaterial für über 400 Werke auf. So genial er alles Musikalische anging, so talentiert ist er auch im Verbalen, wenn es etwa um die Kommentierung von Musik geht. Seine eigene erklärt er zwar ungern oder gar nicht, aber für alles andere war und ist er offen und wusste sich seither höchst originell in zahllosen Essays, Vorträgen und als gern gesehener Laudator zu äußern.

In seiner künstlerischen Biografie spielen also Sprache und Töne eine fast gleichwertige Rolle – und übrigens auch in der Vermischung beider, also in der Vokalmusik, die unüberhörbar dominiert. Gut ein halbes Dutzend Musiktheater-Werke dokumentieren das ebenso wie eine Reihe von Gesangsszenen und noch mehr dieser Art. Darunter die Kammeroper Jakob Lenz und abendfüllende Werke wie Die Eroberung von Mexico und Oedipus. Gegen den Vorwurf des Vielschreibers, den es oft genug gab, wehrte er sich vehement: Nirgendwo werde man denunziert, wenn man viel arbeitet – nur in der Kunst. „Ich halte das für eine Unverschämtheit.“ Und gebe ihm darin gerne recht.

Runde Geburtstage liefern meistens den Anlass für Würdigungen von Leben und Werk. So auch jetzt im Fall des Jubilars Wolfgang Rihm, der im März siebzig geworden ist. Der um wenige Jahre ältere Musikwissenschaftler und Musikpublizist, Frieder Reininghaus, der Rihms Karriere aus nächster Nähe und mit professionellem Antrieb erlebte und begleitete, hat nun eine solche Würdigung vorgelegt. Bei aller auch persönlichen Nähe zum Jubilar, bemüht sich Reininghaus um kritische Distanz. Ironie kommt bei ihm gern ins Spiel, wo sich der Autor die Künstler-Selbstinszenierung und die mitunter recht realitätsvergessene und selbstgerechte Kulturbetriebs-Blase vornimmt.

Nun wissen wir allerdings auch, nichts ist erfolgreicher als der Erfolg und nichts neiden wir mehr, wenn es der der anderen ist. Gewiss, wir kennen Bewunderung bis hin zur Idolisierung, aber was René Girard als nachahmendes Begehren im menschlichen Gefühlshaushalt fand, sitzt tief in uns und mehr als uns lieb sein kann. Frieder Reininghaus spart in seiner Rihm-Monografie jedenfalls nicht mit Neid-Beispielen (sich selbst nicht ausnehmend). Solche dissonante Begleitmusik finden wir wohl in allen erfolgsverwöhnten Künstlerleben. Rihm reagierte darauf stets schlagfertig und blieb zugleich der Empfindliche, aber seinen Repräsentationswillen hat das nie wirklich behindert.

Wie aber kommt man im Leben zu einem Abonnement auf Erfolg? Ist Erfolg planbar? Wohl kaum, weil wir doch von jenen abhängig sind, die uns erfolgreich sein lassen. Also steckt darin auch die Frage, wie wir bei anderen ankommen und Kunst war bekanntlich schon immer Geschmackssache. Oder anders gesagt: Wenn ein Kritiker Rihm das Etikett „Hofkomponist der Bundesrepublik“ verleiht, wie das geschah, dann sei das Reininghaus zufolge, „freilich an den Fortbestand der ‚Hofhaltung‘ gekoppelt“. Die zeitgemäße Hofhaltung heißt Subvention. Kompositionsaufträge werden nun mal mit Steuer- und Stiftungsgeldern bezahlt. Dagegen ist nichts zu sagen und Kommerzialität spielt offenkundig dann doch in einer anderen Liga.

Einen Komponisten feiert man jedenfalls am besten, indem man seine Musik spielt. Aber damit hatte Rihm, der Erfolgreiche und Produktive, noch nie Probleme. Mit seinen Aufführungszahlen liegt er für das Segment ‚Neue Musik‘ hierzulande an der Spitze – die wie lange eigentlich neu genannt werden darf? Ja, er ist zu dem geworden, was der Buchtitel behauptet: Der Repräsentative. Schon früh fand er Aufmerksamkeit und alle wohlwollenden Prognosen sollten sich bewahrheiten.

„Früh wusste Rihm“, weiß Reininghaus zu berichten, „dass er ‚klassisch‘ werde, d. h. eine ansehnliche Quote im hochsubventionierten Betrieb einspielen und gebührende Aufmerksamkeit von Feuilleton und Fachpresse erhalten würde.“

Bei ihm gab es die begehrten Stipendien von Anfang an und sozusagen in Serie. Und ebenfalls im Abonnement kam später die Ordensdekorierung. Die Liste der Ehrungen und Preise ist lang, sehr lang. Aber es gibt ja auch genug davon und irgendwer soll sie schließlich bekommen. Warum nicht der Bewährte und Zuverlässige unter den Künstler*innen, dem die schöpferische Phantasie noch bei keinem offiziellen Kalenderereignis versiegte. Eigentlich fehlt nur noch die Selig- und Heiligsprechung, aber dafür dürfte Rihm zu sehr Freigeist sein. Dennoch: „Ehrt eure deutschen Meister“, heißt es in Richard Wagners Meistersingern. Hier sieht Reininghaus zu Recht eine Art Geniekult unter gelegentlicher Missachtung intellektueller Hygieneregeln am Werk, wo immer er auf superlativische Lobhudeleien stößt.

Da Rihm als Komponist nie auf irgendwelchen Wellen ritt und Moden bediente, wird er wohl sein eigenes Erfolgsrezept sein, das am Ende vielleicht sogar in seinen Genen zu finden ist. Denn woher kommen Begabungen und Talente? In seinem Fall wäre es eine grenzenlos anmutende Musikalität, das kreative Ausdrucksvermögen, gepaart mit einer auf Dauerbetrieb gestellten positiven Energie – Eigenschaften, die einem nicht einfach zufliegen. Er arbeite, so die Selbstauskunft, „hoffnungslos ichbezogen“ und ohne Rücksicht „auf aktuelle internationale Trends“.

Und dann ist da die Persönlichkeit selbst: Von imposanter Statur, jovial, belesen, geistreich, nahbar – buchstäblich ein Künstler wie aus dem Bilderbuch und dazu publikumsfreundlich, ein Künstler zum Anfassen, durch und durch Sanguiniker, der es schafft Gourmand und Gourmet gleichzeitig zu sein und der so zum Denkmal seiner selbst aufstieg.

Im großen Ganzen geht es um den Typus des bis heute ganz und gar auf dem Papier schaffenden und zugleich prall lebenden Tonkünstlers – vorm Hintergrund der gesellschaftlichen Entwicklung in der alten Bundesrepublik und in den seit deren Ende vergangenen drei Jahrzehnten.

Von nichts kommt nichts, heißt es. Wolfgang Rihm musste wie alle Künstler*innen durch das, was er schuf, überzeugen. Und seine Musik kommt zweifellos an. In ihr spielt Klangsinnlichkeit die zentrale Rolle. Natürlich ist jede Musik ausnahmslos Klang und sinnlich wahrnehmbar, wie sollte das auch anders sein, doch bei Rihm beginnt das Komponieren, wenn ich es richtig verstanden und in seinen Werken richtig gehört habe, nicht aus einem vorhandenen System heraus, sondern durch die musikalische Entfaltung aus einem Klang selbst, einem Ton, einem Akkord. Jeder Klang enthält in sich ein Wachstumspotenzial und eine unbegrenzte Darstellbarkeit – etwa instrumental, räumlich, zeitlich. „Ich muss darauf hören, was in einem Klang als Energie beschlossen ist“, so Rihms Credo. Das hat etwas Bezwingendes, Suggestives und bringt oft Unerwartetes zu Gehör.

Reininghaus erweist sich als profunder Kenner nicht nur der Rihm’schen Musikproduktion, sondern auch des Musikbetriebs, der das alles verschlingt und im günstigsten Falle den Künstler gut ernährt und bei Laune hält (manchmal dürfen es auch Künstlerinnen sein). Er kennt die nicht uneitle journalistische Seite dieses Kulturbetriebs ebenso wie die institutionellen Abhängigkeiten und Machtstrukturen. Rihm war und ist der geborene Netzwerker, kein Gremium, in dem er nicht schon saß oder noch sitzt – wie beispielsweise im Präsidium des Deutschen Musikrats, im Aufsichtsrat der GEMA und im Auswahlkomitee der Ernst von Siemens Musikstiftung.

Wie der Untertitel der Monografie zu verstehen gibt, geht es Reininghaus auch um die gesellschaftliche Relationalität von Musik und gelegentlich um politische Aspekte. Wer da allerdings glaubt, in der Musik würden die Zeitumstände ihrer Entstehung hörbar sein oder überhaupt am Zeitgeschehen teilhaben, der dürfte leer ausgehen. Für Kausalitäten solcher Art herrscht Fehlanzeige – gerade auch im Werk von Wolfgang Rihm.

Reininghaus gibt sich ausgesprochen zitierfreudig und besitzt eine unverkennbare Neigung, sein lexikalisches Wissen vor uns Leser*innen auszubreiten, wobei Rihm als Stichwortgeber fungiert. Herausgekommen ist eine detailreiche, gelegentlich etwas launige, nie unkritische, stets spannend zu lesende Würdigung eines fürwahr bedeutenden Tonschöpfers.

Kurzer Nachtrag. Beim Lesen des Buches fiel mir folgendes wieder ein: 2006 ergab sich für mich die Gelegenheit zu einem Interview mit Rihm, wo es auch um das Verhältnis von Kunst und Leben ging. Musikproduktion bedeute Lebensabdruck, äußerte er einmal. Auf meine Nachfrage, wie das zu verstehen sei, antwortete er:

Stellen sie sich ein Leben vor, das sich in einer anderen Substanz abdrückt. Vermutlich gab ich das jemandem zur Antwort, der sich wie sie gefragt hat, wie man so produktiv sein kann. Ich habe damals mit einem Bild geantwortet. Man wird immer zu Aron und sollte eigentlich Moses sein: Ich habe keinen Begriff dafür.

Auf jeden Fall gebe es keine Eins-zu-Eins-Abbildung, so funktioniere das nicht beim Komponieren von Musik, um dies dann doch zu relativieren, als ich Gottfried Benns Aussage, Leben und Denken seien zweierlei, nachschob: Das klinge zwar gut, indes nehme die künstlerische Arbeit sehr konkret Einfluss auf das Leben. „Denken sie nur an die Immobilität. Wenn ich arbeite, kann ich mich kaum bewegen. Ich sitze Stunden, Tage, Wochen an einer Stelle. Das geht ganz schön an die Physis. Das ist Verausgabung durch innere Verausgabung.“

Fazit: Kunstschöpfung drückt aufs Sitzfleisch.

Titelbild

Frieder Reininghaus: Rihm. Der Repräsentative. Neue Musik in der Gesellschaft der Bundesrepublik.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2021.
310 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783826074455

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch