Ein Schriftstellerleben und dessen Auflösung im Werk

Zur ambitionierten Arno Schmidt-Biografie des Literaturwissenschaftlers Sven Hanuschek

Von Ulrich KlappsteinRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrich Klappstein

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Was bisher über mich im Druck erschienen ist, kann nicht ernst genommen werden“, so reagierte Arno Schmidt in seinen fragmentarisch gebliebenen Materialien für eine Biografie auf die Titelgeschichte » ; . – : ! – : ! ! « von Walter Busse (in: Der Spiegel, Nr. 20 vom 13. Mai 1959), die zahlreiche Details zu Leben und Werk des Schriftstellers enthüllt hatte.. Seither sind – fußend auf Schmidts Selbstdarstellungen in den veröffentlichten Briefen, Tagebüchern und autofiktionalen Passagen im Werk – einige wichtige, sogar „gewichtige“ Publikationen erschienen, die sich bemüht haben, nicht eine Fortsetzung von Schmidts Selbstinszenierungen zu sein. 

Bernd Rauschenbach, langjähriger Mitarbeiter der im niedersächsischen Bargfeld angesiedelten Arno Schmidt Stiftung und nun im Ruhestand, warnte potenzielle Verfasserinnen und Verfasser einer jeden ernstzunehmenden Schmidt-Biografie davor, sich nur auf eine vom Autor selbst nahegelegte Sichtweise festzulegen und empfahl stattdessen in seiner jüngst erschienenen, letzten Aufsatzsammlung über Arno Schmidt, eine „focussale, polyperspektivische Sichtweise“ einzunehmen. 

Rauschenbach hat diese Biografie aus vielerlei Gründen nicht schreiben können, seinen Rat hat indes einer der besten Kenner dieses von vielen Zeitzeugen als unzugänglich empfundenen Schriftstellers der an der Münchener Maximilian Ludwigs Universität lehrende Literaturwissenschaftler, Publizist und Schriftsteller Sven Hanuschek mit einer fast tausendseitigen Schrift nun umgesetzt, nachdem er schon zwei umfangreiche Biografien über Erich Kästner und zuletzt über den Nobelpreisträger Elias Canetti vorgelegt hat. Schon dort hatte er zwei andere „Monolithen der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts“ ins Feld geführt: Uwe Johnson und Arno Schmidt.

Dies hat er nun gründlich und noch umfassender als im Falle Canettis nachgeholt. Alle, die zukünftig ernsthaft über Schmidt forschen wollen, können nun auf eine verlässliche Gesamtdarstellung zurückgreifen. Langjährige Experten in Sachen Schmidt werden freilich auf den ersten Blick nicht viel Neues erblicken, vielleicht dies sogar auch gar nicht zur Kenntnis nehmen wollen – wie sich erste Stimmen geübter „Dechiffrierer“ schon verlauten ließen. Und ja: Wer es unternimmt, etwa die vielen Aufsätzen, die nach Schmidts Tod im Jahr 1979 und schon zum Teil davor erschienen sind, nicht zu reden von den Arbeiten, die nach dem hundertsten Geburtstag des Schriftstellers im Jahr 2014 entstanden, wer es also unternimmt, alle diese verdienstvollen Ansätze zu einer Art Gesamtbild zu komplettieren, der hat sich unzweifelhaft etwas Großes vorgenommen.

Entstanden ist in über sechsjähriger Arbeit eine 990 Seiten umfassende Darstellung von Leben und Werk eines „Ausnahmefalls“ der deutschen Literatur (so hatte im Jahr 1964 schon der Kritiker Karl Schuhmann über Schmidt geurteilt). Hanuschek befasst sich, wie er einleitend bekennt, mutig mit dem „schäbigen Rest“ einer der produktivsten Schriftstellerexistenzen der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur, die man sich „als Verehrender“ besser nicht besehen solle, da es für den „Umgang mit Unmenschen“ ja keinen Knigge gebe, wie Schmidt selbst einmal bekannt hatte. Zumal Hanuschek es auch mit den wenigen noch lebenden Zeitzeugen und ihren „schon oft erzählten Geschichten“ zu tun hatte. Hinzu kommt das Faktum, das sich jedem Biografen Schmidts in den Weg stellt: Was bisher in langjähriger Faktensammelei mühsam durch eigene Lektüre zusammengetragen werden musste, ist heute quasi auf Knopfdruck per Internet kompakt zu recherchieren. 

Wer Hanuscheks aspektreicher Darstellung folgt, den erwartet durchaus ein stilsicheres, engagiert und – wo geboten – distanziert verfasstes Lektüreerlebnis. Hanuschek folgt insoweit seinem Vorbild, als auch er Energien „entbinden“ möchte, wie es die Lektüre von Schmidts Werk zweifelsohne ermöglicht. Gleichsam auf einer zweiten Ebene kann man Hanuschek gewinnbringend folgen. In sechs Großkapiteln – Von Hamburg bis Görlitz (1914–1933); „Wu Hi, der bin ich!!!“ Diktatur und Krieg, Idyllen dazwischen (1933–1945); „Zu spät?“ Lebensentscheidung Schriftsteller (1945–1948); „Ich bin ohnehin ins Flüchtlings- und Bohèmehafte abgeglitten“ (1949–1960); Durchsetzung des Werks (1960–1969), Fröhliche Weltuntergänge (197 –1979) – folgt der Biograf den Spuren Schmidts und gibt dabei treffende und prägnante Einblicke in all die Widersprüchlichkeiten, die Werk und Person nicht zur Deckung bringen können. 

Die Exkurse ins schriftstellerische Werk wollen und können die bisher vorgelegten Darstellungen der umfangreichen Schmidt-Forschung nicht ersetzen, dies wäre auch ein vermessenes Unternehmen. Vielmehr baut der Verfasser gleichsam Brücken ins Werk, immer ausgehend von den geschilderten Lebensstationen, wobei die Chronologie manchmal unterbrochen werden muss. Besonders das letzte Kapitel, mit der umfänglichen Darstellung von Zettel’s Traum bis zum Julia-Fragment, bietet mehr auf: nicht nur die Aufarbeitung der dystopischen Anklänge in den letzten zu Lebzeiten entstandenen Werken, die in der Sekundärliteratur bereits vielfach gewürdigt worden sind, sondern einen seiner Leserschaft zugewandten Menschen, der das wohlfeile Bild vom „Solipsisten“ durchaus abtönen könnte. 

Hier, besonders in den letzten Passagen seiner Biografie, vermag Hanuschek die Ergebnisse seiner Recherchen vor Ort, also vor allem in den Archiven der Bargfelder Stiftung, gut und lesergerecht auszuwerten. Und die über 60 Seiten Nachweise und auf die Kapitel bezogenen, bibliografischen Angaben – zugunsten einer besseren Lesbarkeit hat sich Hanuschek gegen die üblichen Fußnoten entschieden – sind eine brauchbare Ergänzung des Gebotenen. (Allerdings muss man sich durch den Anhang quasi durchhangeln, nie war das Lesebändchen dieser vom Verlag solide gestalteten Ausgabe wertvoller!).

Die 20 Seiten Personenregister und das detaillierte Werkregister am Schluss des Bandes erweisen sich als eine wertvolle Hilfe und erleichtern den Leserinnen und Lesern, die ob der schieren Stoffmasse das lineare Lesen unterbrechen wollen, Quereinstiege. Mit Sven Hanuschek hat Arno Schmidt seinen Biografen gefunden, hier kann man sich dem Verlagstext auf dem Schutzumschlag getrost anvertrauen.

Kritik angesagt ist hingegen bei der Ausstattung der Ausgabe: Die Dünndruckqualität lässt die Abbildungen wegen der durchscheinenden Seiten oft wie gerastert wirken, hier hat der Verlag am falschen Ende gespart. Auch beim Lektorat hätte man sich mehr Sorgfalt gewünscht: Die Schmidt-Zitate sind typografisch uneinheitlich gestaltet und folgen nicht den (inhaltlich motivierten!) Vorgaben Schmidts. Hier bleibt Leserinnen und Leser nur der Ausweg, sich an die maßgebliche und typografisch korrekte Bargfelder Ausgabe zu halten.

Titelbild

Sven Hanuschek: Arno Schmidt. Biografie.
Carl Hanser Verlag, München 2022.
990 Seiten , 36,00 EUR.
ISBN-13: 9783446270985

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