Von der Schwierigkeit, als Kind eine Haltung abseits der gängigen Meinungen zu entwickeln

In „Die Molche“ lässt Volker Widmann die Nachkriegszeit in der Provinz lebendig werden

Von Martin GaiserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Gaiser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Max ist elf Jahre alt, ein Junge, der an einem neuen Ort zurechtkommen muss. Mit seinen Eltern und seinem kleineren Bruder ist er in ein bayerisches Dorf gezogen. Die beiden Brüder haben es von Anfang an schwer, die anderen Kinder kennen einander, die Atmosphäre in der Provinz im Deutschland der Nachkriegszeit ist bedrückend. Und so dauert es nicht lange, bis die gefürchtete Bande um den brutalen Tschernik zuschlägt. 

Auch Volker Widmann fackelt nicht lange, der erste Satz seines Romans Die Molche lautet: „Der erste Ziegelstein traf meinen Bruder am Oberarm.“ Am Ende wird Max‘ Bruder tot sein, die Bande haut ab, die Erwachsenen sprechen von einem tragischen Unfall. Und Max, der dabei war, aber aus Angst nicht eingegriffen hat, lebt fortan mit dem Wissen um die Tat, vor allem aber mit der Schuld und der Scham. Tschernik und sein Gefolge mobben und pöbeln munter weiter, prügeln die Kleineren, nehmen ihnen das wenige Taschengeld unter Androhung von Schlägen ab, wirken unangreifbar. Dieses Gefüge von brutal gegen schwach, von dominant gegen machtlos wirkt wie die Fortsetzung der kriegerischen Barbarei im Kleinen, im Dörflichen. 

Doch Max, der die Atmosphäre im Kinderzimmer, das er sich mit dem Bruder geteilt hat, als beklemmend und angsteinflößend empfindet und der immer wieder in inneren Monologen mit ihm spricht und ihn um Verzeihung bittet, bleibt nicht allein. In Heinz und Rudi findet er zwei Freunde, mit denen er Streifzüge in die Umgebung macht, in einem verlassenen Bahnwärterhäuschen richten sie ihr geheimes Hauptquartier ein und bewahren ihre Reliquien und Fundstücke auf. Doch bevor es soweit ist, erkundet Max, dessen Mutter den Haushalt macht und dessen Vater während der Woche in „der Stadt“ einer für den Jungen unklaren Arbeit nachgeht, die Natur, die hier mehr als nur Dekoration ist.

Volker Widmann, der gern in die Pilze geht, lässt seinen Max beinahe zu einem Naturforscher werden, der Junge beobachtet sehr genau, manchmal nennt Widmann auf einer Doppelseite des Buches z.B. Barsche, Stichlinge, Fliegen, Frösche, Gräser, Erlen, Birken, Spinnen, Bisamratten, Kaninchen, Libellen und beschreibt deren Aussehen, ihr Verhalten in ihrem Habitat. Für Max bietet die Natur Trost und der Leser wünscht sich beinahe zurück in eine solche Zeit, die nie verklärt wird, die aber geprägt war von Artenvielfalt und der Möglichkeit, direkt hinter dem eigenen Häuschen diese Vielzahl an Tieren und Pflanzen wahrnehmen zu können.

Teilweise geraten dem Autor seine Beschreibungen, die dann und wann etwas hyperrealistisches und beinahe magisches bekommen, auch etwas zu pathetisch, doch man folgt Widmann gern auf diesen Ausflügen, auf denen Max unter anderem auch die titelgebenden Molche entdeckt und sie – da er diese Art bis dahin nicht kannte – sofort zuhause in Brehms Tierleben nachschlägt. Interessanterweise zeigt Volker Widmann auch Max‘ andere Seite, wenn er auf grausame Weise Ameisen tötet, was sein Bruder zu Lebzeiten mit dem Ausruf „Du Ungeheuer!“ quittierte. 

Überhaupt ist Die Molche ein Buch, das Phänomene der Zeit und des Ortes sehr deutlich, manchmal beinahe drastisch beschreibt, so zum Beispiel die Gerüche und die Zubereitung des Kartoffelstampfs für die Säue oder den Zustand und – erneut – die schlimmen Gerüche des Aborts im Schulhof. Man muss vermuten, dass der Autor (Jahrgang 1954) viele dieser Beschreibungen seiner Erinnerung entnommen hat, vielleicht etwas dramatisch zugespitzt, im Kern jedoch wohl zutreffend.

Was möglicherweise nicht auf realen Erinnerungen fußt, ist die Beschreibung des Ortes. Hier hat Widmann sozusagen ein idealtypisches Dorf erschaffen, das alles bietet, was er für seine Handlung und seine ProtagonistInnen braucht: eine Eisenbahnlinie (auf der die Jungs Münzen plätten lassen), einen Dorfweiher (auf dem Max im Winter einbricht und von der Tschernik-Band nicht gerettet wird), eine Fabrikantenvilla (in dessen verwunschenem Park Max und Marga – ein kluges Mädchen mit Courage – beinahe von einem an Victor Hugos Quasimodo erinnernden Gärtner erwischt werden), einen Fluss, ein Altenheim usw. Das ist geschickt gemacht, weil so eine ganze Welt entsteht, in der sich der Lehrer jeden Morgen eine Flasche Wein und eine Schokolade besorgen lässt (wahrscheinlich, weil er sonst nicht loskommt von seinen traumatischen Erinnerungen).

In dieser Welt, in der es noch Begriffe wie Kummet, Pedell und Windsbraut gibt und die dadurch auch sprachlich nachträglich authentifiziert wird, gibt es auch erste sexuelle Erfahrungen, neue und fremde Gefühle und vor allem ein Erwachen einer Haltung, die sich nicht mit dem Status Quo und dem ewigen Duckmäusertum zufriedengeben will. Die Molche ist ein reiches Buch, eine echte Entdeckung, die durchaus jungen Menschen zugänglich gemacht werden sollte. Ein Buch, über das zu reden und zu diskutieren sich lohnt.

Titelbild

Volker Widmann: Die Molche.
DuMont Buchverlag, Köln 2022.
256 Seiten, 22 EUR.
ISBN-13: 9783832181727

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