Frühvollendete Gedichte
Mit „Elis in Venedig“ erscheinen Mirko Bonnés erste Lyrikveröffentlichungen in einem Sammelband
Von Herbert Fuchs
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDer Sammelband Elis in Venedig enthält die Gedichte von Mirko Bonné, die zwischen 1990 und 2004 in den Bänden Langrenus (1994), Gelenkiges Geschöpf (1996) und Hibiskus Code (2003) und in verschiedenen Lyrikmagazinen veröffentlicht wurden. Es sind um die einhundertfünfzig Texte; sie zeigen die vielfältigen sprachlichen Möglichkeiten des Lyrikers Bonné. Immer wieder überraschen sie mit neuen Bildern und Motiven.
Das Gedicht Elis in Venedig war dem Autor offensichtlich so wichtig, dass er es zum Titel des Sammelbandes gewählt hat. Vielleicht soll das Gedicht eine Schlüsselfunktion innerhalb der über einhundertundfünfzig Gedichte einnehmen. Es ist dem Band Hibiskus Code aus dem Jahr 2003 entnommen und beginnt fast wie ein Reisebericht:
1913 stehen Elis und ein Lancia
am Meer, Elis im einteiligen Badeanzug,
schwarz, und im Kopf Kokain. […]
Bereits die nächsten Zeilen verändern die Situation; das Wort „Kokain“ deutet es an:
[…] Immer ein Bild:
Zwei Rappen schwimmen und ertrinken.
Das Bild von den Rappen ist grotesk, düster, surreal; es könnte eine Drogenrausch-Vision sein. Die Strandszene verschiebt sich leicht; mit jeder weiteren Zeile wächst die Verzerrung, die aus einer Wirklichkeitsszene mehr und mehr eine groteske Traumszene macht. Die zwei Männer, Elis und Loos-Luzifer, sind kurz darauf – das Stichwort ist der Ausruf „Chianti!“ – in einer Wohnung, die „von Insekten starrt“. Der eine von ihnen, Elis, verlässt die Wohnung fluchtartig und rennt – im Drogen- oder Alkoholrausch? – hinaus auf den Steinstrand. Das Ende des Gedichts hat mit dem scheinbaren Realismus der Anfangszeilen wenig zu tun. Der Text endet wie in einem angsterfüllten Albtraum, verstörend und befremdlich:
[…]
und rennt zwei Badegäste um
im Glauben, er habe ein Messer.
Im nächsten Augenblick,
eine einzelne weiße Hand
flöge ihm hinterher, die
Steilküste lang.
Die Erläuterung zu dem Gedicht im Glossar lautet: „1913 besuchte Georg Trakl die Lagunenstadt. Mit dabei Architekt Adolf Loos, den Trakl ‚Loos-Luzifer‘ nannte.“ Mit dem Namen Trakl wird ein Hinweis auf einen Schriftsteller gegeben, dessen Werk Bonné offensichtlich beeindruckt und beeinflusst hat. Der Verweis auf den Drogen- und Alkoholkonsum Trakls ist überdeutlich. Das Verständnis des Gedichts wird durch die Erläuterung allerdings nur in geringem Maß gefördert. Der Text selbst enthält alles, was der Leser für die Lektüre braucht.
Der Leser entdeckt, lässt er sich ernsthaft auf Bonnés Texte ein, genügend Spuren, denen er nachgehen kann. Es geht um Reisen und ferne Orte, um Liebe und Nähe, um das Vergehen der Zeit, um Erinnerungen, um Politisches, um dichterische Vorbilder und vor allem um die Sprache.
Schon das erste Gedicht des Buches thematisiert den magischen Augenblick, wenn dichterische Sprache sich ausdrückt. Das „O“, das dem Text den Titel gibt, ist gleichzeitig ein Bild dafür, dass sich im Innern des Dichters, in einem „Hohlraum im Mundraum“, Worte formieren, sich gruppieren und wie zu einem „orthoskopischen Ball“ anordnen, „der in der Leere sich auswächst und sammelt“:
Sie lagern sich ab, docken an, werden
Ruhig, liegen ruhig
In der Schleimhaut.
Und am Ende des Texts heißt es:
Auf den Lippen
Vollzieht sich
In dir, im Daheim ohne Worte selbst Ort,
Ein porentiefer Zauber, ein Ariel.
Dass ein Gedicht entstehen kann, hat etwas mit dem Innern des Dichters zu tun; es „existiert“, bevor es ausgesprochen, niedergeschrieben wird. – Vielleicht steckt in der Beschreibung des geheimnisvollen poetischen Prozesses auch ein Hinweis darauf, wie die Gedichte gelesen werden können, nämlich Worte und Verse zu suchen und Sprachbilder aufzuspüren, die etwas von diesem „porentiefen Zauber“, von der die Schlussteile spricht, erahnen lassen.
Die Macht von Worten wird in einigen Gedichten kritisch hinterfragt. So plädieren Verszeilen in einem leichten Ton für Besuche anstelle von Briefen:
Unsere Worte waren zu lang
auf Reisen.
Es wird wieder Zeit für Besuche.
Doch jemand, der kommt, erschrickt –
denn ich wohne Mansarde,
hier herrscht die Enge eines Ballonkorbs.
Ich wollte schon auf einen Hochsitz ziehen.
Allein Kühe im Nebel
beruhigen die Seele.
Das Bild vom Wohnen auf einem Hochsitz kann darauf verweisen, dass der Dichter den Blick in die Ferne braucht, die Distanz, um über das, was ihn bewegt, schreiben zu können; eine „ruhige Seele“ ist eine Voraussetzung, Zeilen zu schreiben, die andere bewegen. – Dass Dichten aber auch ein höchst eruptiver Vorgang ist, als breche etwas gewaltsam auf, eine „Wortlava“ gleichsam „auf der Feuerrutsche“, wird in dem gewichtigen Gedicht Strombolianisch thematisiert. Solche Querverbindungen innerhalb der Texte ergeben sich immer wieder; sie bereichern die Lektüre und schaffen ein komplexes, differenziertes Bild.
Die „Spuren von Nähe“, die der Dichter sucht, werden in dem eindrucksvollen Gedicht Nach Europa zum Thema gemacht. Es stellt in seinem ersten Teil die Fremdheit nach einer „Reise durch Europa“ dar, die den Heimkehrenden umgibt. Erst gegen Ende des Gedichts rückt das Zuhause wieder näher an den Sprechenden heran:
Aber: die Kastanien blühen.
Zwei Kakteen gingen auf,
und die Läden der Bahnhofsfenster
sind doppelt gestrichen – jemand verlief sich
Hand in Hand auf dem Schleichweg
zur Ortsmitte, hier
sind deutliche Spuren von Nähe.
Das „hier“ der vorletzten Zeile wird ein paar Seiten später Überschrift eines längeren Gedichts, in dem sich der Lyriker in immer neuen Anläufen über seine Herkunft und damit über den Ort, der ihm dichterische Kraft gibt, klar zu werden versucht. So heißt es an einer Stelle:
Hier bin ich ortskundig,
wo, an Bahndamm und Schuttplatz,
früher, ohne Namen, Feldahornsträucher
und hörbare Landwege waren,
aus nichtzersplittertem Ton.
Es ist eine ländlich geprägte Landschaft, von der das Ich im Text schreibt. Zeilen wie die folgenden haben einen starken Verfremdungseffekt und machen deutlich, dass die Suche nach dem rechten Ort auch immer eine Suche nach Inspiration für das Schreiben ist; die fast religiös anmutenden Zeilen 3 und 4 mit ihrem pathetisch-stockenden Rhythmus demonstrieren das:
Hier bin ich ortskundig,
wo der Alte, ein Waran in schwarzem Leder,
sagt, ich bin, in Wahrheit,
Heinrich von Kleist,
[…]
Im dritten Teil des Gedichts ändert sich der Ton: Das Ich, „sechsundzwanzig, / mit dem Schlaf verfeindet / und ab und an kopflos“, redet jetzt, da es sich seiner literarischen Sendung bewusst wird, vom „schwarzen Geäst / des Regens im Wort / September“, von seinen Ängsten, aber auch Plänen für ein Leben, „das nach diesem kommt, / oder dem der Besinnung“.
Das Wort „hier“ in der Schlusszeile nimmt eine andere Bedeutung an als am Anfang. Ist dort ein Raum, der die frühen Jahre des Lebens einschließt, gemeint, markiert es jetzt hauptsächlich eine Entscheidung, die auf ein Du gerichtet ist und darüber hinaus – das darf der Leser dem Text entnehmen – eine Entscheidung für das Schreiben bedeutet:
In dem ich
unabsichtlich ich bin,
ahnungslos von aller Bedeutung
deiner Schultern
und hier.
„Worte“ in der Anfangszeile des Textes und der Name des Dichters Heinrich von Kleist im Mittelteil des Gedichts können, zusammen mit der Hinwendung an das Du in der Schlussstrophe, wie ein Lebensplan gelesen werden, auch wie ein poetisches Programm.
Bonnés Gedichte sind mit ihren vielfältigen innertextlichen Bezügen und Assoziationen und ihren Verweisen auf andere Gedichte raffiniert gemachte lyrische Kunstwerke. Sie wenden sich an das Vorwissen des Lesers, aber auch an dessen Gefühle. Das erstere hilft einen Zugang zu den Texten zu finden: Bekanntes erhellt anderes und führt es fort. Das letztere vertieft diese Einblicke in die Struktur eines Textes und dessen poetische Feinheiten. Durch die Bilder, die im Leser entstehen, ergeben sich komplexe und berührende Verszeilen, Strophen und Texte, die im Leser nachhallen. Es entsteht ein Netzwerk aus Bezügen, das der Gedichtsammlung Halt und Festigkeit gibt.
Ein beachtlicher Teil der Gedichte thematisiert Reisen in die Ferne, Begegnungen mit Menschen in anderen Städten und breitet ein Mosaik von Eindrücken vor dem Leser aus. Das „Du“ erscheint in vielen seiner Texte, oft ganz zentral, manchmal unvermutet. Es sind Gedichte der Nähe, Liebesgedichte, aber auch Texte, die zweifelnde Fragen aufwerfen, verstören, wenn sie auf einer Nähe bestehen wollen, die möglicherweise fragil und brüchig ist. In dem langen, beeindruckenden Gedicht Schnee und Schlaf löst sich in einer Strophe alles scheinbar Gesicherte in Fragen auf:
Was geschieht? Mit wem außer mir?
Wer meint wen morgen?
Heute meinen wir uns.
Wohin dieser Weg? Wohin nicht?
Wir werden sehen. Wie lang? Was
wandelt sich? Wo?
Welcher Wahnsinn.
Verwunden wir nicht alles andere mit?
Zehn Jahre später wird dieser Zweifel, ob die Nähe zu einem Du überhaupt gelingt, in einen irrealen Wunsch „verpackt“. In dem Gedicht Könnte ich wohnen stehen die Verszeilen, die an die stille Verzweiflung mancher E. E. Cummings-Gedichte erinnern:
Könnte ich ein Land sein,
ich wäre Irgendland.
Du das Irgendmeer. Wie wahr.
Könnte ich irgendwo wohnen,
ich wohnte da mit dir.
Könnte ich irgendwann wohnen,
es wäre Herbst, Herbst, Herbst.
Der Gedichtband Elis in Venedig enthält Groteskes und Kurioses, Ernstes und Heiteres, auch Texte mit politischen Untertönen. Ein Beispiel dafür ist das Gedicht Fürstenfeldbruck, das die Vorgänge des schrecklichen Ausgangs des Olympia-Attentats vom 5. September 1972 behandelt. Dabei wurden die elf israelischen Geiseln, fünf Geiselnehmer und ein Polizist getötet. Die Grausamkeit des damaligen Geschehens wird durch die Zeilen am Beginn und am Ende des Texts verstärkt. Der Text beginnt mit einer spätsommerlichen Idylle:
Das Stoppelfeld, das Wäldchen
lagen ruhig im Abend, Amseln sangen
[…]
Und die Schlusszeilen enden mit einem grotesken, scheinbar völlig unpassenden Bild:
meine Bilder,
eingesammelt in mein Album,
eine Art Gedächtniseingreiftruppe,
Pappelhelikopter, lichterlohe Amseln
und das glänzende Paar Schuhe
des entsetzten Kanzlers.
Mit dem Mama Arm in Arm ging.
Die Schlusszeilen machen die Vögel des Beginns zu brennenden Himmelszeichen. Das damalige Inferno auf dem Flugplatz Fürstenfeldbruck kann vor den Augen des Lesers als Bild entstehen und seine Wirkung entfalten. Dann verändert sich die Perspektive: Es ist, als schwenke eine Art Kamera weg von der Schießszene hin zu dem „glänzenden Paar Schuhen / des entsetzten Kanzlers“. Entsetzliche Gewalt und groteske Vorstellungen passen immer zusammen, weil die Gewalt selbst etwas unvorstellbar Groteskes ist. Und so treibt die Schlusszeile das Bild noch einmal in eine andere Richtung und macht aus der Fürstenfeldbruck-Situation ein verzerrtes, unheimliches Bild: „Mama“ und der „entsetzte Kanzler“ im stillen Einvernehmen, als gingen sie spazieren. – Das Gedicht führt vor, wie genau, aber auch wie eigenwillig, wie bilderreich und wie verfremdend Bonné in seinem Schreiben verfährt und wie er gerade aus dieser sprachlich-poetischen Mischung eine große Wirkung in seiner Lyrik erzielt.
Als Leser darf man bei der Auswahl der Gedichte wählerisch sein. Elis in Venedig ist ein Buch, das man aufschlägt, in dem man zu blättern beginnt, vielleicht an einigen Texten hängenbleibt, sie genauer liest und Tage später noch einmal. Die meisten Gedichte entfalten ihre Wirkung erst mit der Zeit. Aber es sind Texte, denen sich der Leser, hat er sich einmal darauf eingelassen, nicht so schnell entziehen kann.
Viele sind zauberhaft seltsam und schön wie das balladenhafte Schlussgedicht. Es ist ein „Märchen in Versen“, eine kleine traumhafte Dichtung; sie handelt von Jakob Gelden, den seine Liebste, vielleicht nach einem Streit, bittet, ihr von jenseits des Kanals als Zeichen der Versöhnung den „Stein mit dem Schnabel“ zu holen. Er macht sich auf den Weg nach England und befragt alle Vögel, die er trifft; aber er kann den „Stein mit dem Schnabel“ nicht finden. Die letzten Zeilen lauten:
[…] o Jakob Gelden, schrien sie, was fragst du
uns Vögel, geh und bitte die Liebste um den bitteren Kuss:
Isnt’t it strange for a lover like you to remain so unsure?
Und ihre Schwärme folgten Jakob nach, Jakob Gelden,
Jakob Gelden, schrien sie, ihm nach! O Jakob Gelden!
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