Unterm Flügel

In „Niu“ macht Kathrin Werner einen Engel zum Taktgeber für ein Ehepaar

Von Andreas UrbanRSS-Newsfeed neuer Artikel von Andreas Urban

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Figur des Engels hat eine lange Tradition in der Literatur. Dabei wandelte sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Ikonik stark. An ihren Flügeln waren die Grenzgänger zwischen den Welten längst nicht mehr zu erkennen. Sie erschienen vielmehr in Menschengestalt und legten mit den Flügeln ihr religiöses Erbe ab. Statt Boten Gottes zu sein, vermittelten sie zwar immer noch eine höhere Wahrheit, jetzt aber über das eigene Ich. Bei Max Frisch etwa, bei Hans Henny Jahnn oder Hans Erich Nossack wurden die Zwischenwesen zu Medien der Subjektivität, zu Kommunikatoren des Ich, eines Ichs, das sich in einer Grenzsituation zwischen Diesseits und Jenseits befinden konnte. Ein solcher Engel – der allerdings an keiner Stelle so bezeichnet wird – begegnet einem Paar im Debütroman Niu von Kathrin Werner.

Das Ehepaar Carmen Dumeier, von allen nur C. genannt, und Thomas Siegelmann ist von Hamburg aus nach Amerika ausgewandert. Thomas ist euphorisch: Er hat in New York mit einem Marketing-Posten in einem Start-up für Fleischersatzprodukte seinen Traumjob gefunden. Er ist ganz der Typ, der die Welt ein Stückchen besser machen möchte und sein Herz auf der Zunge trägt – was ihm im Laufe des Romans zum Verhängnis wird, als es ihm misslingt, ein Geheimnis für sich zu behalten. Carmen ist im Besitz eines amerikanischen Passes und heiratete Thomas, damit er die benötigte Greencard bekommt. Auch sie beginnt im Big Apple einen neuen Job, dabei handelt es sich jedoch lediglich um die Weiterführung ihrer Karriere als Anwältin in Deutschland.

Ihr Bruch mit der alten Welt fällt zwar geringer aus, dafür fühlt sie sich innerlich schon seit längerer Zeit leer und deprimiert. „Sie war nur noch eine Hülle“, heißt es im Roman. Von der Lust an einem Neuanfang kann bei ihr eher keine Rede sein. Auch die Beziehung des Ehepaars hat längst Risse bekommen. Manifest wird die Krise zwischen den beiden durch die fast völlig ausbleibende Kommunikation. In der gemeinsamen neuen Wohnung schaffen sie es, nebeneinanderher zu leben, ohne dass der eine mitbekommt, was der andere gerade treibt.

Unabhängig voneinander lernen sie Niu kennen. Niu ist eine junge New Yorkerin, deren Name, so sagt sie, aus dem Chinesischen komme und schlicht „Mädchen“ bedeute. Er könne aber auch andere Bedeutungen annehmen, je nachdem, wie man ihn ausspreche, welchen Klang man dem Wort verleihe. Hier ist etwas sehr gut gelungen: Über allgemeine Fragen nach der Stimmigkeit von Klangbildern spricht der Roman die Identitätsproblematik seiner Figuren ganz offen an: „Ob wir andere Menschen wären, wenn wir andere Namen hätten?“, sinniert Niu passend dazu.

Mit ihrem ätherisch-meditativen Wesen beginnt die freischaffende Künstlerin Niu eine übergroße Faszination auf das Paar auszuüben. Niu scheint beiden geradewegs ins Herz zu blicken. Carmen und Thomas betreiben beide keinen Small Talk mit ihr, können gar nicht über Unwesentliches mit ihr reden – so wie mit allen anderen New YorkerInnen, die sie nun in der neuen Stadt kennenlernen. Mit Niu sprechen sie sofort über Dinge, die jeweils zentral für ihr eigenes Leben sind, übertragen ihre Wünsche auf sie.

Umgekehrt entfernt sich das Paar dadurch aber auch immer weiter voneinander. Beide beschäftigen sich nur noch mit Niu. „Ihre Gedanken kreisen um eine neue Sonne“, heißt es einmal von Carmen. Niu, nicht etwa dem Partner/der Partnerin, schreiben die Eheleute permanent Kurznachrichten aufs Smartphone. Diese große Wirkung übt sie aus, weil sie in verblüffend einfacher Weise nur sie selbst sei. Niu sei „so ohne jede Zurückhaltung, ohne Selbstschutz.“ Mit ihrer scheinbaren Offenheit, dem Fehlen jedweder Form von Verstellung und ihrer Authentizität wird sie für Carmen und Thomas zum Anlass, sich mit sich selbst zu beschäftigen, wird sie zum Medium auf dem Weg zu sich selbst und zur Projektionsfläche der eigenen Befindlichkeit.

Bei diesem Prozess erreicht die Idealisierung der Figur Niu eine weitere Höhe. Denn die Kategorien von Raum und Zeit scheinen für sie nicht zu gelten: Wie zufällig, wie aus dem Nichts taucht sie abwechselnd vor Carmen oder Thomas auf. Genauso schnell ist sie auch wieder verschwunden. Sie schwebt zwischen den Welten, die symbolisch gesprochen zwischen innerem Befinden und äußerer Biografie liegen. Dabei macht sie persönliche Konflikte wahrnehmbar und ist – gedeutet als Engelsfigur – Botin des wahren Ichs.

Dieser Weg zu sich selbst lässt sich aus einer symbolisch aufgeladenen Szene herauslesen. Als Carmen bzw. C. Niu in ihrer asketisch eingerichteten Wohnung aufsucht, liegt Niu im Halbdunkel unter einem Flügel. Niu beginnt förmlich, Carmen zu dirigieren: 

„Kannst du ein C für mich spielen?“
C. klappt den schwarzen Deckel über der Tastatur des Steinway auf und schlägt ein mittleres C an. Der Ton klingt lange nach.
„Jetzt eine Oktave höher“, befiehlt Niu.
C. spielt das C.

Diese Szene ist wundervoll. Der letzte Satz ist wundervoll. C. spielt das C und bringt damit sich selbst zum Vorschein, bringt ihren Ichton hervor. Der Engel Niu bringt eine Saite in Carmen zum Schwingen, trifft den Nerv, lässt sie den richtigen Ton treffen, um Wünsche, Ängste und Sorgen sichtbar zu machen. Niu initiiert einen Selbstwerdungsprozess und Musik wird – neben dem Schlafen übrigens, das ebenfalls für ein Eintauchen in eine andere Welt steht – zum Leitmotiv des Romans. Im Laufe des Buches wird Niu sie nicht mehr C., sondern Carmen nennen. Sie gewinnt Identität.

Ähnlich geht es bei Thomas zu. Bei ihm wird eine Narbe an seinem Handgelenk, über die er in seiner Jugendzeit seine Identität definierte, zum Bild für seine Ichproblematik. Beim ersten Treffen mit Niu findet er bei ihr die exakt gleiche Narbe an derselben Stelle wieder. Nur: Tatsächlich ist die Narbe nicht gleich. Thomas erkennt erst viel später, dass er sie falsch wahrgenommen hatte. In einer irrwitzigen Szene erzählt sie ihm, die Narbe auf die exakt gleiche Weise bekommen zu haben wie er. Doch es ist eine Räuberpistole. „‘Weißt du, man sieht nicht mit den Augen, sondern mit dem Gehirn‘, sagt Niu“. Kurz: Niu ist vor allem das, was Carmen und Thomas in ihr sehen wollen und was sie an sich selbst wahrnehmen möchten.

Bei all der Aufrichtigkeit, die Niu in Reinform zu verkörpern scheint, stellt sich im Laufe der Handlung heraus, dass sie es bei den Angaben zu sich selbst mit der Wahrheit nicht so genau genommen hat. Sie ist von Werner auf eine falsche Identität hin angelegt, bringt aber genau damit die Ichprobleme der Ehepartner auf den Punkt. Die Erkenntnis über Nius falsche Angaben zu sich selbst, die den späteren Verlauf der Geschichte prägt, bildet den Wendepunkt der Story. Erst jetzt beginnen Carmen und Thomas, sich mit ihrer gemeinsamen Beziehung und nicht mehr mit Niu zu beschäftigen.

Der Roman Niu liest sich unterhaltsam. Vor allem New-York-Fans dürften ihre helle Freude haben. Die ehemalige New-York-Korrespondentin Werner schreibt mit ausgewiesener Expertise zum Beispiel davon, dass im Büro alle Schwarz tragen oder dass man die High Heels per Handtasche ins Büro chauffiert, wo man sie gegen die Sneaker von der Fahrt mit der Subway austauscht. Es gibt erhellende Partien darüber, wie es sich mit den Waschsalons verhält und dass die New Yorker keine Waschmaschinen zuhause haben, dass man Fenster zum Teil nicht von außen putzen kann, dass man die Temperatur der Heizung nicht regulieren kann und einfach das Fenster öffnet, wenn es zu warm wird. Zahlreiche typisch amerikanische Formulierungen bestimmen den Sound des Buches. Oder die Art und Weise, wie einem in New York Dinge leicht von der Hand gehen, wie es in Deutschland nicht der Fall wäre – das ist fein geschrieben. Spannend liest sich das Buch vor allem deswegen, weil Werner das Interesse an der Frage forciert, wer diese Niu denn nun eigentlich wirklich sei. Aufgelöst wird die Frage nicht, stattdessen ist auch in diesem Roman wie in so vielen Werken der jüngeren Literatur mal wieder jemand verschwunden – und zwar Niu selbst.

Mit einer Prise magischem Realismus spielt der Roman nicht nur an dieser Stelle über einen Engel. Schon zuvor stellte Carmen die Existenz Nius infrage: „Kurz überlegt sie, ob sie sich vielleicht nur einbildet, dass Niu hier ist.“ Einer solchen Einbildung unterlag ja Thomas in Bezug auf die Narbe. Und kurz vor ihrem Verschwinden ist es Niu selbst, die sagt: „Vielleicht gibt es mich nicht.“ Stellen wie diese unterstreichen das zum Teil Magische des Plots und das Engelhafte der Figur Niu, als sei im Nichtsein das Eigentliche erst anwesend. Wie zum Beleg für diese These gibt es im Buch eine schöne Stelle zur Frage, wo man sein eigentliches Zuhause habe. Es gibt die wundervolle Überlegung von Thomas, man würde an einem Wohnort in den Köpfen der Nachbarn „‘erst dazugehören, wenn man wieder wegzieht‘, sagte Thomas. Als hätte man erst eine Heimat, wenn man sie hinter sich gelassen hat“.

Der neue Wohnort New York jedenfalls ermöglicht einen neuen Blick auf die Beziehung von Carmen und Thomas – vor allem darauf dürfte wohl das Wortspiel „Niu“ – „New York“ zielen. An zwei Stellen des Romans wird dieser Blick so weit getrieben, dass man von einer jenseitigen Perspektive (wie sie klassischerweise mit Engeln assoziiert wird) sprechen kann: In einem Café wird ein Sternenbild, das an der Decke aufgemalt ist, beschrieben. Allerdings ist es spiegelverkehrt wiedergegeben. Es sei die Sicht Gottes von oben auf die Sterne, sagt eine Person aus dem Umkreis Nius dazu. Ein schönes Bild. Gegen Ende des Romans – der Winter ist dem Frühling gewichen und das Ehepaar hat sich bereits einander angenähert – steht Thomas am Ufer des Atlantiks und bemerkt, dass er das Meer bisher immer nur von der anderen Seite, von Europa aus gesehen habe. Ebenfalls ein schönes Bild, das den neuen Blick auf die Dinge veranschaulicht.

So weit, so gut. Doch geht die Rechnung auf, mit einer Figur zu operieren, die dem Ehepaar als Medium der Beziehungskrise dient? Es gibt eine kleine, unscheinbare Stelle, die die im Roman entwickelte Logik, den Prozess einer wirklich wahren Selbsterkenntnis durch einen echten Neustart gelingen zu lassen, aushebelt. Carmen und Thomas werden im Laufe der Handlung beide arbeitslos. Das Problembewusstsein, das sich damit üblicherweise verbinden dürfte, wird bei Werner vollkommen betäubt, da die Autorin nun eine Erbschaft von Carmens Mutter aus dem Hut zaubert. Das Ehepaar ist finanziell abgesichert. Die reale Absturzgefahr durch den Verlust des Arbeitsplatzes (der gerade in den USA droht) negiert der Roman völlig. Vor allem: Es ist kein besonderes Wagnis, Gott einen guten Mann sein zu lassen, mitten in der Woche an den Strand zu fahren (was die beiden gegen Ende des Romans tun) und sich auf sich selbst zu besinnen, wenn man das nötige Kleingeld hat. Vor allem steht eine solch profane Auflösung im Kontrast zu einer engelsgleichen Vermittlungsinstanz mit höchst magischer Wirkung, wie sie mit Niu erscheint. Mit diesem kleinen, fast unbedeutenden Winkelzug der Erbschaft verschenkt der Roman leider sehr viel. Der erzählerische Kniff erinnert an amerikanische Kinofilme, bei denen von vorneherein klar ist, dass den Hauptpersonen trotz geballter Ladung Action und Gefahr nichts passieren wird.

Es gibt weitere Passagen, die nicht überzeugen. So hatte Carmen vor nicht allzu langer Zeit abgetrieben und im Laufe der Romanhandlung betrügt sie ihren Ehemann. Beides verschweigt sie ihrem Mann, um ihn zu schützen. An solchen Stellen entwickelt das Buch eine etwas halbseidene Moral, so wie auch die Figuren insgesamt etwas blutleer bleiben. Mit dieser etwas schematischen Personenzeichnung dürfte es zusammenhängen, dass man sich manchmal fragt, ob man noch Figurenrede oder bereits Erzählerkommentar liest. Und dass bei Sexszenen gerne sofort abgeblendet wird – auch dies erinnert an amerikanische Kinofilme und das von ihnen vermittelte prüde Weltbild.

Sprachlich überzeugt Werner zwar mit dem betont reduzierten Stil äußerst kurzer Sätze. Zu häufig aber liest man Sentenzen in der Art von Kalendersprüchen sowie dezentes Pathos. Beim Anblick einer Treppe vor dem Hauseingang heißt es, dort seien „Kinderfüße hinaufgeklettert, Sargträger hinabgeschritten.“ Als Carmen weint, sind es große, „schwere Tränen, die ihren Augen wehtun, weil sie das Weinen verlernt haben.“ Die Beschreibung eines leutseligen Bahnhofs lautet: Die „Abschiede und Begrüßungen, das Heimweh und das Fernweh der vielen Jahrzehnte hallten durch den alten Wartesaal.“ Solche Sätze hätte das Buch gar nicht nötig gehabt. Auch hier verschenkt der Roman, auch hier ist er selbst nicht sehr stimmig geraten – genau wie seine eigenen Figuren, bevor sie ihre Konflikte gegen Ende zu lösen beginnen.

Titelbild

Kathrin Werner: Niu.
Atlantik Verlag, Hamburg 2022.
256 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783455013368

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