Eine jüdische Revolutionärin

Michael Uhl zeichnet das Leben der Stuttgarterin Betty Rosenfeld (1907–1942) nach

Von Georg PichlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georg Pichler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Aktenfund im Archiv des Spanischen Bürgerkriegs in Salamanca 1994 und ein „Stolperstein“, der ihn fast 22 Jahre später in Stuttgart ins Straucheln brachte, führten den Historiker Michael Uhl auf die Spur einer beeindruckenden Frau, Betty Rosenfeld, deren verschlungenen Lebensweg er mit Akribie und großem Einfühlungsvermögen nachgezeichnet hat. 

Betty Rosenfeld wurde 1907 in Stuttgart in eine bürgerliche jüdische Familie geboren. Ihr Vater besaß eine kleine Putzmittelfabrik, ihre Mutter war, wie damals üblich, Hausfrau. Betty und ihre beiden Schwestern engagierten sich früh politisch, weniger in der jüdischen Gemeinde oder in zionistischen Organisationen, sondern im deutsch-jüdischen Wanderbund und im Jugendverband der linksliberalen Deutschen Demokratischen Partei. Nachdem diese eine immer stärkere antisemitische Schlagseite bekam, gerieten die drei ins Umfeld der KPD. Betty lernte ein Handwerk und wurde Näherin, bevor sie mit 19 eine Ausbildung als Krankenschwester absolvieren konnte. Politisch bildete sie sich an der Marxistischen Arbeiterschule weiter, wo sie den Arzt und Dramatiker Friedrich Wolf kennenlernte, der mit seinen sozial engagierten Stücken erstes Aufsehen erregte. Sie selbst nahm an Aufführungen einer Laientruppe teil.

Wegen ihrer politischen Aktivitäten, die nach der nationalsozialistischen Machtergreifung im Untergrund geschehen mussten, und als Jüdin doppelt gefährdet, schien es geraten, Deutschland zu verlassen. 1935 wanderte sie nach Palästina aus und zog nach Kfar Yedidja in einen Moschaw, eine Vorform des Kibbuz. Doch als im Sommer 1936 in Spanien der Bürgerkrieg losgetreten wurde, beschloss Betty, dort auf ihre Weise gegen den Europa überziehenden Faschismus zu kämpfen. Im Spätherbst 1936 fuhr sie ein letztes Mal nach Stuttgart, kehrte nach Palästina zurück, schiffte sich Ende Februar 1937 nach Marseille ein und gelangte schließlich am 11. März nach Valencia. In Albacete, der Basis der Internationalen Brigaden, wurde sie nach bestandener politischer und gesundheitlicher Untersuchung in den Sanitätsdienst aufgenommen und nach Murcia entsandt. Hier, später auch in katalonischen Spitälern, entfaltete sie eine rege Tätigkeit.

Im März 1938 heiratete Betty den Leipziger KPD-Funktionär und Interbrigadisten Sally Wittelson. Im Sommer dieses Jahres überquerte sie die Pyrenäengrenze nach Frankreich, um für sich und ihren Mann Visa für Übersee zu erhalten. Doch alle Versuche schlugen fehl, sie durften Frankreich nicht verlassen. Etwas mehr als ein halbes Jahr konnte das Paar in Millau und Sévérac-le-Château zusammenleben. Im Juni 1939 wurden sie getrennt und in südfranzösischen Lagern interniert, Sally in Le Vernet, Betty unter anderem im Frauenlager von Rieucros, die beide zur strengsten Kategorie des Lagersystems gehörten. Drei Jahre später, im August 1942, wurde Betty erst ins Lager Gurs überstellt, dann weiter in das berüchtigte Sammellager Drancy in Paris, wo sie Sally wiedertraf. Dort wurden beide den nationalsozialistischen Besatzern übergeben, die sie am 7. September 1942 mit dem Transport 29 nach Auschwitz-Birkenau verschickten, ihre einzige längere gemeinsame Fahrt. Zwei Tage später kam der Zug mit seinen tausend jüdischen Opfern in Auschwitz an. Hier verlieren sich die Spuren von Betty und Sally Wittelson, ihr Ende ist vorstellbar.

Von der Familie Rosenfeld überlebte nur Bettys Schwester Ilse, die rechtzeitig in die USA gezogen war. Bettys Vater war 1937 an Leukämie gestorben, Bettys Mutter und Tante wurden in Treblinka ermordet, ihre Schwester Charlotte in Riga. An die Frauen erinnern vier Stolpersteine vor ihrem einstigen Wohnhaus in Stuttgart, eben die, auf die Michael Uhl stieß.

Dass er hervorragende Arbeiten mit umfassenden Quellenstudien zu Themen verfassen kann, die weit abseits des akademischen Mainstreams liegen, bewies Uhl bereits 2004, als sein Buch Mythos Spanien erschien, in dem er das „Erbe der Internationalen Brigaden in der DDR“ auf mehreren Ebenen untersuchte: historisch, sozial, politisch und kulturtheoretisch. Ein bestens dokumentierter Band, der aus einer Dissertation hervorging, genau gearbeitet und vielschichtig recherchiert ist und sich dazu sehr gut liest.

Dasselbe ist der Fall bei dieser Biografie. Mehr als fünf Jahre hat der Autor in seine Suche nach Betty Rosenfeld gesteckt, hat in öffentlichen und privaten Archiven in Deutschland, Frankreich, Israel, Russland, Spanien, Österreich, Mexiko und den USA geforscht, Familienangehörige und Nachkommen von Freunden Rosenfelds interviewt und sich durch die umfangreiche und vielsprachige internationale Forschungsliteratur gelesen. Herausgekommen ist ein engagiert geschriebenes Buch, das nicht nur das Leben von Betty Rosenfeld nacherzählt, sondern es in den historischen Kontext stellt.

Uhl hat für seine Biografie das aus dem Familienarchiv stammende Text- und Bildmaterial über die Rosenfelds verwendet, aber auch jede Menge Sekundärquellen, die den Hintergrund für seine Darstellung bilden. War die Quellenlage karg, wie etwa bei der Beschreibung der Kindheitsjahre, so bietet Uhl detaillierte Schilderungen des sozialen, politischen und kulturellen Lebens Stuttgarts dieser Zeit, stets aus dem Blickwinkel der jüdischen Protagonistinnen. Man erfährt sehr viel heute Vergessenes über die Geschichte Stuttgarts ebenso wie über die politischen Strömungen und Auseinandersetzung der 1920er und 1930er Jahre, über die jüdischen Ansiedlungen in Palästina, über den Spanischen Bürgerkrieg und das Sanitätswesen der Internationalen Brigaden und über das Leben im antifaschistischen Exil in Frankreich und in den südfranzösischen Lagern.

Fehlte es Uhl an biografischem Material, nahm er zeitgenössische Aufzeichnungen zu Hilfe, um dem Lesepublikum Szenen plastisch schildern zu können. So etwa, wenn er bei der Ankunft Betty Rosenfelds in Valencia ausgewiesene Paralleltexte von Interbrigadisten heranzieht, um die Gastfreundschaft und Begeisterung der Spanierinnen und Spanier den internationalen Freiwilligen gegenüber zu beschreiben. Weniger angebracht scheint hingegen die nicht immer offen ersichtliche Mischung von Dokument und Fiktion an anderen Stellen, an denen der Autor seinen Figuren Gedanken, Überlegungen, Aussagen in den Mund legt oder Gefühle zuschreibt, die zwar einsichtig, aber weder durch Zeitzeugen noch durch Briefstellen belegt sind. Diese Empathie vermittelnden, romanhaften Einschübe sind nicht notwendig, denn Uhl ist ein ausgezeichneter Erzähler, der sehr nah an seinem Figurenpersonal bleibt, das er eindrücklich und plastisch darzustellen weiß. Ein wenig mehr Zurückhaltung hätte hier gut getan, um den historiografischen Charakter der Darstellung zu wahren.

Noch mehr Zurückhaltung wünscht man sich manchmal in anderer Hinsicht. Uhl ist bei seinen Recherchen auf eine Unmenge von Personen, Biografien und Daten gestoßen, die, kennt man sie einmal, nur sehr schwer wieder zu „vergessen“ sind, um eine gewisse Stringenz der Erzählung zu wahren. So tauchen in der Geschichte zahlreiche Namen auf, die nichts Wesentliches zur Biografie Rosenfelds beitragen, deren Schicksal aber dennoch referiert wird. Wenn Uhl etwa erwähnt, dass „am 22. Mai 1938 um 12:30 Uhr der spanische sargento Tomás Recio Ayuso im Saal 9 […] an den Folgen seiner an der Front zugezogenen Schusswunde“ starb, so ist dies ein tragischer Todesfall, und man versteht natürlich, dass der Autor dem Mann ein Denkmal setzen möchte. In der Häufung solcher Abschweifungen wird es aber manchmal mühsam, den Hauptstrang nicht zu verlieren. Uhl war sich der überbordenden Ausführlichkeit seiner Darstellungen bewusst und ermuntert im Vorwort, „bestimmte Abschnitte elegant zu überspringen“. Doch wäre es für den Lesefluss wohl besser gewesen, solche, für den Zusammenhang unwesentliche Details etwa in Fußnoten unterzubringen. Andererseits wird das Buch gerade dank dieser Nebenschauplätze zu einer Fundgrube von Namen und Fakten, die sonst vergessen geblieben wären.

Wohl aus ästhetischen Gründen hat der Autor darauf verzichtet, die Fußnoten im Text anzugeben, so dass man oft mühsam die entsprechenden Quellenangaben herausfinden muss; man lernt es bald, doch hätte ein konventioneller Umgang mit den Fußnoten die Lektüre erleichtert.

Diese Einschränkungen schmälern jedoch keineswegs die außergewöhnliche Qualität des Buchs und auch nicht den Einsatz und das Verdienst seines Autors, sich auf bemerkenswerte Weise einer Frau angenommen zu haben, deren Leben ohne ihn wohl verloren gegangen wäre. Einer Frau, die nicht zu den „bekannten Namen“ ihrer Zeit oder des Spanischen Bürgerkriegs gehört und neben der Fotoreporterin Gerda Taro, die nun endlich neben Robert Capa die ihr gebührende Anerkennung erfährt, die einzige Stuttgarterin war, die die Sache der Demokratie in Spanien verteidigen wollte. Uhl hat Betty Rosenfeld, ihrer Familie und ihren Mitstreiterinnen und Mitstreitern ein Denkmal gesetzt, das zugleich ein Zeitbild ist und lebendig eine Epoche schildert, aus der es immer noch viel zu entdecken gibt.

Titelbild

Michael Uhl: Betty Rosenfeld. Zwischen Davidstern und roter Fahne.
Schmetterling Verlag, Stuttgart 2022.
672 Seiten , 40,00 EUR.
ISBN-13: 9783896570369

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