Wie Heimat gemacht wurde

Anja Oesterhelt schreibt eine ernüchternde „Geschichte der Heimat“

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sich über die Heimatkonjunkturen lustig zu machen, ist wohl ein bisschen billig, obwohl, jedes Recht hätte man dazu: Seit langen Jahren ist der Heimat kaum noch zu entgehen. Sie hatte ihre Konjunkturen am Ende des 19. Jahrhunderts und etwa in den 1950er Jahren (da sogar als viel belächelter Film). Seit den 1970er Jahren ist sie immer wieder mal Thema (angeblich) intellektueller Debatten und lebensreformerischer Anstrengungen, was heute in eine Schwemme aus Polit- und Werbebürosprüchen übergegangen ist, die vor nichts Halt zu machen scheint: Äpfel und Birnen werden mit Heimat beworben, energiepolitische Großprojekte sollen mit ihr torpediert werden, politische Programme geben sich heimatverbunden (Bayern gern in Leder) und ein bisschen modern soll Heimat nun auch noch werden, wenn man dem Pflichtenheft der Heimatabteilung des Innenministeriums glauben darf.

Links, rechts, oben, unten – alles macht auf Heimat, was beinahe notgedrungen zu allergischen Abwehrreaktionen führen muss, vor allem dann, wenn den Heimatversessenen die zahllosen Heimat- und Ortlosen gegenüberstehen, die qua Ausstattung nicht dazugehören dürfen. Wenn Heimat ein „fundamentales Verhältnis zwischen Mensch und Welt“ beschreiben soll, wie 2019 Susanne Scharnowski in die Einleitung ihres gründlich missratenen Versuchs einer Geschichte der Heimat hineingeschrieben hat, sind die Kollateralschäden kaum noch zu beschränken. Denn mit einem solchen Diktum wird eine im Kern pragmatische Verwendung emotional und ideologisch massiv aufgeladen. Dabei macht es sich im Alltag lediglich einfacher, in einem Umfeld umzugehen, das – unter anderem – grundsätzlich vertraut ist, bekannte Regeln hat, die nicht gesondert zu lernen sind, und das weitgehend über Routinen funktioniert und auf Improvisationen verzichten kann (die Crux der Moderne ist, das sie genau das verlangt): Komplexität reduzieren, heißt die Aufgabe an der Stelle. Aber damit will man‘s wohl nicht bewenden lassen. Grundsätzlich soll es sein, und wenn‘s hart auf hart geht, sogar noch spezifisch deutsch (was aus den Leuten irgendwie nicht herauszukriegen ist). 

Auch Scharnowski betont schon, dass das Wort Heimat in anderen Sprachen „so“ nicht existiere (sowieso nicht), aber behauptet zugleich, dass es die Notdurft, die sie stillen soll, allenthalben geben soll. An „Heimatlosigkeit“ leiden sie alle. Was dann dabei hilft, überall den Verfall von Heimat zu wittern, ihren Verlust zu beklagen und die heillosen Versuche zu feiern, diesen Verfall aufzuhalten oder gar Heimat wieder zu restituieren. Da das dann am liebsten im notgedrungen ländlichen Bungert stattzufinden hat, sind freilich Stadtbewohner dem Elend der Heimatlosigkeit ausgeliefert.

Da sind dann auch Versuche, etwa „vernakulär“ (was so was wie „bodenständig“ heißen soll) Heimat und Moderne miteinander zu verheiraten, wenn nicht zu versöhnen, kaum mehr als Augenwischerei. Im Land und auf der Heide, im Schtetl oder Winkel will man nicht gar zu rückständig daherkommen, weshalb es dann die moderne Heimat sein soll. Was mit den ganzen Städtern entlang der vierspurigen innerstädtischen Schnellstraßen, den Bewohnern unserer Suburbs, den Leuten aus den Reihenhaussiedlungen oder den Anrainern der ruralen Wirtschaftsförderungszentren passieren soll, bleibt wohl einer heimatseligen Phantasie vorbehalten. Alle in den Orkus?

Im Unterschied zu den essentialistischen Ansätzen von Heimat, deren Widersprüche und zwingende Ausschlussmechanismen kaum einigermaßen human zu beheben (oder auch meinetwegen dialektisch aufzuheben) sind, wirkt Anja Oesterhelts umfangreiche Studie zur Anwendungsgeschichte des Begriffs Heimat ungemein angenehm geerdet.

These Oesterhelts ist, dass Heimat kein ontologisches Grundbedürfnis von Menschen ist, sondern als soziale Konstruktionen zu verstehen ist. Diese differenten sozialen Konstruktionen, die gleichermaßen begrifflich als „Heimat“ verankert werden, haben naheliegender Weise eine Geschichte, in der sie zahlreichen Eingriffen, Veränderungen und Entwicklungen unterzogen werden. Wobei gerade das lange 19. Jahrhundert hier als entscheidende Phase zu sehen ist, in der sich der Heimatbegriff aus seiner bis dahin rechtlichen und religiösen Bedeutung zu lösen beginnt, sie zugleich weiterentwickelt und neu begründet.

Im Wesentlichen macht Oesterhelt drei Linien fest, an denen entlang der Heimatbegriff entwickelt wird. Der primäre hat – und das wird durch das Grimmsche Wörterbuch weitgehend bestätigt – ursprünglich einen rechtlichen Bedeutungskern, der im Übrigen bis ins 20. Jahrhundert nachwinkt. In diesem Bedeutungsstrang meint Heimat den Ort der Herkunft resp. der Aufenthaltserlaubnis, mit dem in der Neuzeit vor allem Versorgungsansprüche im Armutsfall verbunden sind. Dahinter verbirgt sich zwar im Wesentlichen das Recht am Ort zu betteln. Aber immerhin das war mit dem Heimatrecht eröffnet.

Versorgungsrechte und -ansprüche gegenüber der Gemeinde kommen erst hinzu, führen aber, wie Oesterhelt zeigt, immer dann, wenn sich die Gemeinden außerstande sehen, ihre Armen zu versorgen, zu weitergehenden staatlichen Versorgungssystemen, die nach und nach an die Stelle der gemeindlichen rücken, die ja eh bereits eine Reaktion auf die sich verschärfenden ökonomischen Notlagen im Laufe der Neuzeit sind. Zudem führt das Heimatrecht eben nicht nur dazu, dass dem Einzelnen ein Ort zugewiesen wird, an dem er in der Not ein Aufenthaltsrecht hat. Zugleich führt dieses Zuordnungssystem zu einer Ausgrenzung großer Bevölkerungsteile, die an keinem Ort mehr ein Aufenthaltsrecht beanspruchen können. Heimat, so gesehen, produziert also keine Geborgenheit, Sicherheit oder geht als Vorsorge vor Ortlosigkeit durch, sondern ist für große Bevölkerungsteile zugleich das genaue Gegenteil. Die Konstituierung von Heimat erzeugt zugleich Heimatlose.

Die emotionale oder ideologische Aufrüstung von Heimat ist dem nachgeordnet, vielleicht in erster Linie dann durch die christliche Linie initiiert, die Oesterhelt bis um 1800 als dominant ansieht. Bis dahin komme der Begriff Heimat – neben der rechtlichen Verwendung, wie zu konzedieren ist – beinahe ausschließlich in der religiösen, hier christlichen Literatur vor und verweist auf die himmlische Heimat, die – nach einem christlich geführten Leben – den Einzelnen im Jenseits nach dem Tod erwartet. Eine laikale Bedeutung von Heimat ist dieser Denktradition mithin fremd. Der Christ erfährt Heimat als Lohn eines angemessen geführten Lebens und ggf. als göttlichen Gnadenerweis.

Die Umfokussierung von Heimat vom Jenseits aufs Diesseits, mithin auf die Lebenszeit des Einzelnen ist ein Produkt des 19. Jahrhunderts, in der dann zuerst Heimat als Vorgriff des himmlischen Lohns erlebt werden kann. Ein gottesfürchtiges Leben ist mithin Bedingung für das Aufgehobensein in der göttlichen Gnade, kann jedoch auch bereits vor dem Tod erfahren werden. Schon für diesen Bedeutungswandel hebt Oesterhelt die besondere Bedeutung der Literatur, genauer der Belletristik hervor, die sich an der Aufwertung und zugleich Aufladung des Heimatbegriffs abarbeitet.

Dies ist schließlich mit dem dritten Strang eng verbunden, der mit der Etablierung der Heimat- und Volkskunde und einer engen Verbindung mit der Germanistik einhergeht. Josef Nadlers Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften (ab 1912) ist wohl das bekannteste Produkt dieses germanistischen Sündenfalls. Heimat, hier erst einmal die Erforschung und Lehre regionaler Lebensverhältnisse und Kulturen, wird mehr und mehr zu Etablierung einer je lokalen bis regionalen Identität herangezogen. Die Hauptlast bei der Aufwertung und Aufladung des Heimatbegriffs übernimmt erneut die Belletristik mit so großen Namen wie Gottfried Keller, Berthold Auerbach, Fritz Reuter, Gustav Freytag oder Clara Viebig. Wobei Viebig Heimat freilich längst nicht immer aus dem Vorrecht der sesshaften und ruralen, sondern eben auch als Potential urbaner Bevölkerungen beschreibt. Dies wird naheliegend immer wieder in Erzählungen realisiert, die Heimat und Fremde, Sesshaftigkeit und Ortlosigkeit kontrastieren.

Mit den Auswanderungswellen seit Beginn des 19. Jahrhunderts wird dies zudem mit den Rückkehrkarrieren verbunden, die als Produkt der Auswanderung zwingend verstärkt werden. Die Frage, ob die Heimgekehrten wieder zum Ort ihrer Herkunft zurückzukehren vermögen, wird dann je nach Erzählstil oder ideologischer Ausrichtung des Textes beantwortet. Das zieht sich im Übrigen bis weit ins 20. Jahrhundert hinein, wenn hier Texte wie Thomas Manns Königliche Hoheit (1909), Heinrich Lerschs historischer Genossenschaftsroman Die Pioniere von Eilenburg (1934) oder Friedrich Dürrenmatts Besuch der alten Dame (UA 1956) – über Oesterhelts Strecke und Untersuchungszeitraum hinaus – berücksichtigt werden. Allerdings bleiben neben dem aufgeladenen Heimatbegriff, der dann als anthropologische Konstante konstituiert wird, eben auch Bedeutungskomplexe, die zum einen die persönliche Wahl in den Vordergrund stellen, zum anderen Heimat als Allgemeinbegriff von Herkunft und kultureller Gemeinsamkeit banalisieren. Landsleute findet man halt überall.

Ihre neben den Ausgrenzungsfantasien basal problematische Bedeutung erhält Heimat freilich im Kontext der Konstituierung nationaler Identitäten. Die vormalige Kongruenz von Heimat und patria hat noch nicht die nationale Aufladung erfahren, die dann im Laufe des 20. Jahrhunderts zur anhaltenden Diskreditierung des Begriffs geführt hat. Heimat wird zwar hier regional konstituiert, verweist aber zugleich auf den nationalen Kontext, der Regionen zur gemeinsamen Heimat verbindet. Der in der Reihe Die blauen Bücher erschienene Band Die schöne Heimat, der „Bilder aus Deutschland“ vorführt, der zuerst 1915 erscheint und bis 1941 eine Auflage von knapp 350.000 Exemplaren erreicht, wirkt an der Konstitution dieses Junktims an zentraler Stelle mit.

Damit wird neben der Belletristik eine weitere mediale Plattform zur nationalen Aufladung des Heimatbegriffs sichtbar, wie die Konjunkturen der Deutschlandfotobücher im frühen 20. Jahrhundert zeigen. Dabei ist, wie Oesterhelt betont, die Verwendung des Begriffs zwischen 1933 und 1945 in Deutschland, mithin im NS-Kontext nicht einmal hinreichend genau untersucht. Dass ein Wilhelm Stapel Heimat mit schollenverbundenen Bauern identifiziert („Der Bauer ist der Mann der Heimat.“), sollte Hinweis genug sein, mit welchen Abgründen eine solche Studie zu rechnen hätte.

Für den Untersuchungsraum Oesterhelts (das 19. Jahrhundert im Wesentlichen) kann jedenfalls die Bedeutung der Belletristik für das, was bis heute unter Heimat verstanden wird, nicht hoch genug veranschlagt werden. Das aber sollte der Einsicht zum Durchbruch verhelfen, dass wir es hier – wie bei anderen anthropologischen Konstanten auch – im Wesentlichen mit sozialen Konstruktionen zu tun haben. Diese sind zwar unumgehbar. Aber dass jemand irgendwo geboren wird, in einem beliebigen lokalen Kontext aufwächst und sich dort sogar wohlfühlen kann, oder sich einen solchen Kontext wählt, sagt noch nichts über diesen Kontext aus. Dafür muss noch mehr kommen, was man soziale Konstruktion nennen kann. Dass man ein solches soziales Phänomen kurz „Heimat“ nennen darf, soll auch nicht suspendiert werden. Das steht immerhin jedem frei, und Sprache soll ja nicht zuletzt der Orientierung im sozialen Kontext dienen. Wer freilich aus solcher Heimat Rechte ableitet, Zuordnungen und Ausgrenzungen vornimmt, sollte sich darüber im Klaren sein, dass er damit weit über das Maß hinausgeht, das für eine moderne, vielleicht auch offen zu nennende, in vielem zugleich komplexe und dynamische Gesellschaft vertretbar ist. 

Die Arbeit Oesterholts ist mithin höchst ertragreich, auch wenn sie von Mängeln nicht frei ist: Ja, sicher, die Arbeit ist unerhört lang, sie dreht sich oft im Kreis, arbeitet ihr Material wieder und wieder durch (was man als redundant kritisieren darf), geht ganz nah an die Texte und Autor/innen, die sie vorstellt, heran (was zu Lasten der Ableitungen gehen mag), wobei ihr manchmal der Überblick verloren zu gehen scheint.

Ein Beispiel: Nachdem mehrfach von Clara Viebig die Rede war, wird sie im dritten Hauptteil auf einmal wie eine neu einzuführende Autorin behandelt – was darauf schließen lässt, dass Oesterhelt bei der Überarbeitung der Studie gelegentlich die Puste ausgegangen ist. Auch ein Fehlgriff, wie der, Kurt Tucholskys und John Heartfields Deutschland, Deutschland über alles aus dem Jahr 1929 als Exilschrift zu titulieren (und dabei Heartfield gleich ganz wegzulassen) ist aus beiden Gründen bitter (es ist keine Exilschrift und Heartfield ist ebenso Autor des Bandes wie Tucholsky). Aber die Irritation ist nicht grundsätzlich. Denn der Ertrag der Studie ist derart reich, dass ihr kleine Mängel leicht nachgesehen werden können. Immerhin erweist sich ansonsten ihre Einschätzung der unerhört zahlreichen Materialien und Texte, die sie durcharbeitet, im Ganzen als plausibel, nachvollziehbar und angemessen. Da will man nicht mäkelig sein.

Titelbild

Anja Oesterhelt: Geschichte der Heimat. Zur Genese ihrer Semantik in Literatur, Religion, Recht und Wissenschaft.
De Gruyter, Berlin 2021.
500 Seiten, 109,95 EUR.
ISBN-13: 9783110707731

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch