Faszination E. T. A. Hoffmann

Von Klaus KanzogRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Kanzog

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Essay „Faszination E.T.A. Hoffmann“ erscheint im Juli 2022 auch als Heft 59 der von Wulf Segebrecht herausgegebenen Publikationsreihe „Fußnoten zur Literatur“.

Meine Begeisterung für E. T. A. Hoffmann, „ausgezeichnet im Amte, als Dichter, als Tonkünstler, als Maler“, wurde durch Jacques Offenbachs Oper Hoffmanns Erzählungen ausgelöst. Meine Mutter schwärmte von Max Reinhardts Inszenierung im Berliner Großen Schauspielhaus 1931. Ich erlebte diese Oper, gesungen in deutscher Sprache, erstmals am 2. Juni 1946 im Berliner Admiralspalast, im Ausweichquartier der zerbombten Staatsoper. Für das „Vorspiel“ ist als Handlungsort „Lutters Keller in Nürnberg“ vorgegeben, doch sah man im Geiste das seit 1811 in der Charlottenstraße 49 bestehende Weinlokal Lutter & Wegner und dachte an die frohen Abende, die Hoffmann hier mit Ludwig Devrient verbrachte; das Haus war 1944 weitgehend zerstört worden. Auch der Gendarmenmarkt war, ungeachtet der Ruinen des Staatlichen Schauspielhauses und des deutschen und französischen Domes, gegenwärtig. Von Juli 1815 bis 1822 wohnte Hoffmann in der Taubenstraße 31. Man kennt Hoffmanns Skizze dieser Wohnung. 

Protagonist

Die „Faszination E. T. A. Hoffmann“ war ein Affekterlebnis. Die fiktive Gestalt Hoffmann prägte sich nachhaltig ein. Erich Witte überzeugte als Erzähler, als traumatisierter Liebhaber und als Konfliktfigur. Im Juni 1958 wurde ich dann durch Walther Felsensteins Inszenierung in der Komischen Oper in eine alternative Hoffmann-Welt versetzt. Er hatte Romantizismen getilgt, das Werk in der deutschen Fassung durch ausufernde Sprechtexte verstärkt, die Reihenfolge der Akte verändert, die Rahmenhandlung zum Angelpunkt der drei Erinnerungen Hoffmanns und die Muse zur argumentierenden Leitfigur gemacht. Hans Nocker gab Hoffmann als zornigen jungen Mann mit zügellosen Allüren, der aber aus seinen Niederlagen neue Schaffenskraft gewinnt.

In der primär kulinarischen Tradition dieser Oper müssen vor allem die stimmlichen Erwartungen erfüllt werden. Dies geschah auch in der szenisch konventionellen, aber musikalisch hinreißenden Darbietung der Manitoba Opera Association Winnipeg im April 1991, die von der Presse als „triumph of the art of opera“ gerühmt wurde. Der MET–Star Jean Fowler brillierte als Hoffmann und überzeugte durch „the ringing tenor voice that opera heros must have, and a gracefullness that plays of beautifully against the sense of evil that lies everywhere“. Ebenfalls in Starbesetzung ging Les Contes d’Hoffmann 2003 bei den Salzburger Festspielen über die Bühne, als „Große romantische Oper“ in einer „unter Verwendung der Ausgaben von Editions Choudens und Fritz Oesers Edition“ konstituierten eigenen Fassung, aber in verstörender Regie. David McVicars ließ Hoffmann als Opfer seiner Alkohol-und Drogenabhängigkeit enden; Hoffmann setzt sich den „goldenen Schuss“. Da verklangen die Schlussworte der Oper im Absurden: „La muse apaisera ta souffrance bénie! On est grand par l’amour et plus grand par les pleurs!“ Neil Shicoff schien sich mit der Selbstzerstörung Hoffmanns zu identifizieren. 

Autor

Angeregt durch Offenbachs Oper las ich Hoffmanns Abenteuer in der Silvesternacht, den Sandmann und Rat Krespel. Zuvor war ich bereits auf Hoffmann als Musikschriftsteller aufmerksam geworden und an seine subtile Besprechung der 5. Sinfonie Beethovens geraten. Für Hoffmann war die Musik die „romantischste aller Künste“. Hoffmanns Resümee, dass diese Sinfonie „genial erfunden, mit tiefer Besonnenheit ausgeführt, in sehr hohem Grade die Romantik der Musik ausspreche“, war für mich der Schlüssel zum Verständnis dieser Komposition. Seine exemplarische Vermittlung der Struktur übertraf die Darlegungen der modernen Konzertführer.

Das Schauspielhaus am Gendarmenmarkt war seit 1940 ein Ort der Besinnung auf kulturelle Werte. Hier war am 18. Juni 1821 Carl Maria von Webers Freischütz uraufgeführt worden. Die E. T. A. Hoffmann zugeschriebene Rezension in der Vossischen Zeitung stimulierte mich zur intensiven Lektüre dieser Zeitung und führte 1950 zur Identifizierung zweier bisher nicht wiederentdeckter Rezensionen Hoffmanns. 1957 bewies mein Kommilitone und Hoffmann-Gefährte Wolfgang Kron die „angebliche Freischütz-Rezension“ als nicht von Hoffmann verfasst.

Unter den von Hoffmann für die Allgemeine Musikalische Zeitung geschriebenen Rezensionen verblüffte mich die1809 in Ritter Gluck als Erzählung kaschierte Kritik an der Berliner Aufführungspraxis der Opern Christoph Willibald Glucks. 1813 bettete er seine Interpretation von Mozarts Don Giovanni in die Erlebnis-Erzählung einer „fabelhaften Begebenheit“ ein, „die sich mit einem reisenden Enthusiasten zugetragen“. Bereits 1810 hatte er sich mit Johannes Kreisler’s des Kapellmeisters musikalische Leiden in eine literarische Existenz versetzt. Dies war für mich die „Geburt des Schriftstellers“ Hoffmann „aus dem Geiste der Musik“ (Kanzog: 2004, S. 144-161).

Paul Hindemiths fragwürdige Neubearbeitung seiner Oper Cardillac von 1927 veranlasste mich 1953 unter dem zwiespältigen Eindruck des Berliner Gastspiels der Städtischen Bühnen Frankfurt a. M. unter Georg Solti zur Beschäftigung mit der Figur des Cardillac. Ich erinnerte mich an Hoffmanns Das Fräulein von Scuderi. Im Taschenbuch für das Jahr 1820 wird den Lesern diese Erzählung aus dem Zeitalter Ludwig des Vierzehnten mit dem empfehlenden Hinweis auf Hoffmann als „Verfasser der Phantasiestücke“ schmackhaft gemacht. Das Faszinosum Cardillac liegt im Täterprofil einer Kriminalgeschichte. Ich empfand Hoffmann als Kriminalisten (Kanzog 1964, S.1-11). 

„Gespenster-Hoffmann“

Die Spukgeschichten legen dieses Schmähwort aus der Perspektive der Kritiker nahe. Es richtete sich gegen damalige Leserinteressen. Zur Debatte standen grundsätzliche Probleme der Einbildungskraft. Goethe griff 1827 in seiner Rezension des Artikels von Walter Scott über das “Übernatürliche in fabelhaften Erzählungen“ im Foreign Quarterly Review die Kritik auf undkolportiertedessen Forderung: „Wir müssen uns von diesen Rasereien lossagen, wenn wir nicht selbst toll werden wollen“. Er berief sich auf Scotts Ablehnung der Märchen („fieberhafte Träume eines leichtbeweglichen kranken Gehirns“) und auf dessen Auffassung, dass Hoffmann dem „krankhaften Zustand seines zerrütteten Wesens nachhänge“. Heine erklärte 1835 in seiner polemischen Schrift Die Romantische Schule, Hoffmanns Werke seien „nichts anders als ein entsetzlicher Angstschrei“. Doch als Reizwort stimuliert die Bezeichnung „Gespenster-Hoffmann“ gerade die Freude am Lesen seiner unheimlichen Erzählungen.

„Romantiker“

Die nachhaltige Wiederentdeckung Hoffmanns gegen Ende des 19. Jahrhunderts vollzog sich in der Epoche der „Neuromantik“. 1899 hatte Ricarda Huch mit ihrem Hoffmann-Aufsatz in der Zeitschrift Ver Sacrum und 1902 mit ihrem Buch Ausbreitung und Verfall den Weg bereitet. Im wissenschaftlichen Epochen-Spektrum „Romantik“ gehört Hoffmann zur „Berliner Hochromantik“ (1809/10-1815). Hoffmanns Rezension der 5. Sinfonie Beethovens (1810) und die Uraufführung seiner Oper Undine nach Friedrich de la Motte Fouqués Märchen am 3. August 1816 im Königlichen Schauspielhaus am Gendarmenmarkt sind exemplarische Zeugen der Musikgeschichte. Als Erzählerunterlag er der Pathologisierung der Romantik, durch G. W. F. Hegels Romantik-Verdikt in den Vorlesungen über die Ästhetik mit Kleist und Hoffmann als „Beispielen“. Zu einem ‘Geflügelten Wort’ wurde Goethes Äußerung gegenüber Eckermann am 2. April 1829: „Das Klassische nenne ich das Gesunde und das Romantische die Krankheit“.

Gesprächskultur

Der Verleger Carl Friedrich Kunz brachte die Fantasiestücke in Callots Manier mit dem erläuternden Untertitel Blätter aus dem Tagebuche eines reisenden Enthusiasten in den Handel, doch sind viele Texte kommunikativer Natur. In Hoffmanns Nachricht von den neuesten Schicksalen des Hundes Berganza tritt, abweichend von der Vorlage in Cervantes Erzählung, ein „Ich“ an die Stelle des Hundes Scipio. Die Abenteuer der Silvesternacht versah Hoffmann mit einem „Vorwort des Herausgebers“, dem es notwendig erscheint, auf die Grenze zwischen dem „inneren und äußeren Leben“ hinzuweisen: „Aber eben, weil du, günstiger Leser!, diese Grenze nicht deutlich wahrnimmst, lockt dich der Geisterseher vielleicht herüber“.

Durch diese Kommunikation mit den Leserinnen und Lesern steuerte Hoffmann die Interessen und versicherte sich, besonders gern in den finanziell ertragreichen Taschenbüchern, seines Lesepublikums. Nach dem Vorbild Jean Pauls, den der Verleger für die Publikation der Fantasiestücke um eine Vorrede „ersucht“ hatte, war auch Hoffmann nicht nur ein unterhaltsamer, sondern ein betont kommunikativer Schriftsteller. Auch der Verleger Georg Reimer erkannte die hierin liegenden Verkaufschancen und forderte Hoffmann auf „seine in Journalen und Taschenbüchern verstreuten Erzählungen und Märchen zu sammeln und Neues hinzuzufügen“. Hoffmann lieferte in den vier Bänden der Serapions-Brüder (1819-1821) das Erforderliche und machte die integrierten Texte in einer Rahmenerzählung nach dem Vorbild von Tiecks Phantasus als Exempel einer werkimmanenten Poetik transparent.

Für Hoffmann war das gesellige Gespräch eine Quelle schöpferischer Tätigkeit. Dies lassen schon die Briefe an seinen Jugendfreund Theodor Gottlieb von Hippel erkennen. Viele seiner Erzählungen erwachsen aus Gesprächen, anderseits erwiesen sich auch Dialoge als zweckmäßig wie in den Seltsamen Leiden eines Theaterdirektors. Hiergewinnt das kollegiale Gespräch zwischen dem „Braunen“ und „Grauen“ große Lebendigkeit. Im Gespräch Der Dichter und der Komponist unterhalten sich Ferdinand und Ludwig und trotzen der Bedrängnis durch die Dresdner Kriegsereignisse 1813. In seiner Bamberger Zeit war der Medizinaldirektor Adalbert Friedrich Marcus Mittelpunkt geselliger Zusammenkünfte; hier kamen psychologische Aspekte zur Sprache, die Hoffmann in seinen Erzählungen auf seine Weise reflektierte. Die von Hoffmann später in der Rahmenerzählung der Serapions-Brüder verschlüsselten Namen der „Seraphinenbrüder“ (seit 1. November 1818: „Serapionsbrüder“) rufen den Berliner Freundeskreis in Erinnerung: Friedrich de la Motte Fouqué, Carl Wilhelm Salice-Contessa, Ludwig Robert, Eduard Hitzig, Adelbert von Chamisso, David Ferdinand Koreff.

Vogue d’Hoffmann le fantastique

Elisabeth Teichmann dokumentierte 1961 in ihrem Buch La Fortune d’Hoffmann en France die französischen Interessen an Hoffmann und die Impulse, die die europäische Rezeption Hoffmanns zu einem Zeitpunkt bewirkten, als in Deutschland das Interesse an Hoffmann erlahmte. In Frankreich brachte die Juli-Revolution 1830 eine Wende:

„De nouveau, la vie sociale et politique envahit la littérature […] Il s’agit donc de souligner en quoi l’œuvre d’Hoffmann était susceptible de satisfaire aux exigences de la génération de 1830“ (S. 54). 1829 waren die Contes fantastiques in der Übersetzung Loève-Veimars erschienen und am 28. November 1830 hatte Charles Nodier das Fantastische in der Revue de Paris mit seinem Artikel Du Fantastique en littérature programmatisch verteidigt. Im ersten Jahrzehnt dieser französischen Hoffmann-Rezeption zeichnen sich drei Schwerpunkte ab: (1) „L’essor du thème musicale“ (janvier 1834 – avril 1836), (2) „La traduction d’Egmont et son sillage“ (avril 1836-1837), (3) „Le crépuscule d’ Hoffmann“ (1838-1840). Übersetzungsprobleme und Interessen an attraktiven Texten und Motiven legen den Grund für die von 1856 bis 1865 in Frankreich sich abzeichnende kreative Aneignung der Fantastik Hoffmanns.

Hoffmannesk

Wer Phänomene der Texte Hoffmanns als „Hoffmannesk“ empfindet, hat typische Figuren als suggestive Erscheinungen im Umfeld des Bizarren, Fantastischen, Grotesken und Skurrilen vor Augen (siehe hierzu Kanzog 1998, S. 7-18). Im einleitenden „Fantasiestück“ Jacques Callot erklärte Hoffmann den Lesern, dass Callots Gestalten „dem ernsten, tiefer eindringenden Beschauer alle die geheimen Andeutungen, die unter dem Schleier der Skurrilität verborgen liegen“ enthüllen. 1863 taucht das Wort “hoffmannique“ in Jules de Goncourts Journal. Mémoires de la vie littéraire auf. 1985 wird der Begriff „hoffmannique“ in Paul Roberts Dictionnaire alphabétique et analogique de la langue française mit dem Merkmal „qui rapelle les récits, les personnages de Hoffmann“ versehen. Baudelaire hatte im Salon de 1846 die Manier Alfred de Curzons als „hoffmannique“ bezeichnet; in der Edition von 1868 steht dafür „hoffmannesque“. Seit Offenbachs Les Contes d’Hoffmann sind Klein Zaches, Olympia, Antonia, Giulietta und die dämonischen Gegenspieler Lindorf, Coppélius, Dapertutto, Dr. Miracle Repräsentanten des Hoffmannesken. Jules Barbier konzipierte Crespels Diener Frantz im Antonia-Akt als eigene Hoffmanneske Gestalt. Dessen Couplet „Jour et nuit, je me mets en quatre, / Au moindre signe je me tais, / C’est tout comme si je chantais!“ garantiert Sängern eine beifallssichere Paradepartie.

Bereits 1870 war in Paris das Ballett Coppélia von Léo Delibes uraufgeführt worden. Das Szenario von Charles Truinet, dem Archivar der Pariser Oper, der sich hinter dem Anagramm „Nuitter“ verbarg, und Arthur Saint-Léon beruht auf Hoffmanns Der Sandmann. Als Konfliktfigur muss sich Franz zwischen Swanhilda, der Tochter des emsigen Puppenmechanikers Coppelius und dessen Geschöpf Coppelia entscheiden. Die tänzerische Verlebendigung der Puppe erwies sich über ein Jahrhundert als attraktives Ballett-Sujet. Zum Zeitpunkt der Pariser Uraufführung weckte die Puppen-Thematik angesichts der spürbaren Automatisierung des Lebens zugleich Besorgnisse.

Durch die Verselbständigung des Hoffmannesken gerät das jeweils vorbestehende Werk in den Hintergrund; man muss es nicht kennen. Wirkungsmächtig aus Hoffmanns „Märchen“ Klein Zaches genannt Zinnober blieb in Offenbachs Oper allein die Energie der Hoffmann von den Studenten abverlangten „Légende de Kleinzack“: „Il était une fois à la cour d’Eisenach…“. Tschaikowskys „Ballet-Féerie“ Casse-Noisette (1892) wurde nach einem von Marius Pepita strukturierten Libretto gestaltet, das auf Alexandre Dumas‘ französischer Version beruht. Es ruft nur noch allgemeine Erinnerungen an Hoffmanns Kindermärchen Nussknacker und Mausekönig ab. Durch die notwendige Anpassung an die Darstellungskonventionen des Balletts blieben das sujetbildende Ereignis am Weihnachtsabend, die Grenzüberschreitung Maries aus der bürgerlichen Welt in eine Traumwelt als Raumzeichen und der Nussknacker als zentrales Figurenzeichen konstitutiv (vgl. Kanzog 2021, S. 129-141).

Die szenische Visualität und die Bühnenwirksamkeit Hoffmannscher Figuren bewährten sich auch im Filmgeschäft (vgl. hierzu Kanzog: 2009, S. 140-165). Richard Oswalds Film Hoffmanns Erzählungen. Des Dichters Liebesleid, der 1916 zum ersten Mal gezeigt wurde und 1921 zur Neuaufführung gelangte, basierte auf Offenbachs Oper, die den Stummfilm-Bedingungen angepasst wurde. Präsent war Hoffmann bereits zur „Geburtsstunde des künstlerischen Films“, der Uraufführung des Films Der Student von Prag (nach dem Drehbuch von Hanns Heinz Ewers) am 22. August 1913. Der Film aktivierte Hoffmanns Doppelgänger-und Spiegelbild-Phantasien, Paul Wegener, der den Studenten Balduin spielte, erklärte, der Film könne mit diesen Phantasien „Wirkungen“ erzielen, „die in keiner andren Kunst zu erreichen wären“. Die Reflexe der Werke Hoffmanns im Film und seit 1964 auch im Fernsehen (Kanzog 2012, S. 138-155) erfolgten im mentalen Umfeld der als „hoffmannesk“ empfundenen Phänomene und sind auch in Filmen wie Das Cabinet des Dr. Caligari (1920)spürbar, die nicht unmittelbar auf Stoffen und Motiven Hoffmanns beruhen. Reizüberflutungen machten dies vergessen. Zum Konfliktfall wurde Hoffmanns Märchen Klein Zaches, genannt Zinnober. Ein kleinwüchsiges, körperlich und geistig behindertes Kind als Protagonist eines Fernsehspiels, das war 1981, ungeachtet der literarischen Qualitäten der Vorlage, ein Risiko; die Ausstrahlung wurde von Weihnachten 1981 auf Aschermittwoch 1982 verschoben.

Unterschwellig ist das Hoffmanneske in einem Werk spürbar, dessen Produzenten sich nicht auf Hoffmann berufen: Andrew Lloyd Webbers Musical The Phantom of the Opera (1986). Die Situierung der Handlung beruht auf dem Roman von Gaston Léroux Le Fantôme de l‘Opéra (1911), die Gesichtsverbrennungen eines im Falklandkrieg verwundeten britischen Soldaten inspirierten die Gesichtsmaske des mysteriösen Musiklehrers. Doch präsent ist Kreisler als „the romantic musician and visionary genius“ und „the peerless voice of a wondrous woman“ in Kombination mit der strengen Vaterrolle („the daughter is manipulated by the father“). Hoffmannesk ist das Verhalten dieses Dämons („the demon wants to prevent relationships and to destroy love“), und an Hoffmann erinnert die Kern-Idee dieses Musicals: „the idea of true music“ (Kanzog 1997, S. 139-145).

Biographie

Hoffmann ruft in vielen Erzählungen beliebte Örtlichkeiten ab, so dass einige als „Berlinische Geschichten“ (Kanzog 1976, S. 43-63) gelesen wurden. Er verschlüsselt bekannte Persönlichkeiten und inszeniert sich als „Kapellmeister Kreisler“. Was davon seinen Zeitgenossen wohlvertraut war, geht den nachfolgenden Generationen verloren und muss durch Kommentare wieder eingeholt werden. Hinsichtlich der näheren Umstände seines Lebenslaufes blieb man im 19. Jahrhundert auf Julius Eduard Hitzigs Publikation Aus Hoffmanns Leben und Nachlaß (2 Teile 1823, 3. verm. u. verb. Aufl. 3 Bde 1839) und die von C. F. Kunz unter dem Namen Z. Funck vorgelegten Supplemente (1835) und dessen Erinnerungen aus meinem Leben (1836) angewiesen. Ende des 19. Jahrhunderts war Hans von Müller dann den Resten des Hoffmann-Nachlasses aus Hitzigs Besitz auf die Spur gekommen und hatte ein Hoffmann-Archiv angelegt. Dank seiner zahlreichen Einzelpublikationen, der Basis-Edition E. T. A. Hoffmann im persönlichen und brieflichen Verkehr (1912) und der Edition der Tagebücher (1915) kam die Hoffmann-Forschung in Gang. Zuvor war Georg Ellinger in den Akten des Geheimen Preußischen Staatsarchivs fündig geworden. In seinem Aufsatz Das Disziplinarverfahren gegen E. T. A. Hoffmann in der Deutschen Rundschau hatte er 1906 die politischen Konflikte Hoffmanns in Sachen der Knarrpanti-Episode im Meister Floh aufgedeckt, so dass Hans von Müller 1908 dieses Märchen in sieben Abentheuern 1908 in einer bibliophilen Ausgabe „zum ersten Male vollständig“ herausgeben konnte.

Die Literaturwissenschaft erlag im emsigen Aufdecken mancher autobiographischer Züge in Hoffmanns Werk dem „Mißverständnis des Biographismus“. Da wurde das sog. „Julia-Erlebnis“, die Beziehung Hoffmanns zu Juliane Mark, zum Topos und sein dichterisches Werk zum Lebenszeugnis. Wulf Segebrecht wehrte diese Anschauungen 1967 in seiner Studie Autobiographie und Dichtung ab. Aus seiner Sicht überwand Hoffmann die autobiographischen Substrate durch die gewonnene Distanz im Fiktionalen. Gleichwohl können biographische Lesarten durchaus dienlich sein und Intentionen erhellen.

Wissen

Die Literaturwissenschaft biss sich auch an Sigmund Freuds Studie Das Unheimliche fest, die 1919 in der Zeitschrift Imago das Interesse einer breiteren Öffentlichkeit für die „Anwendung der Psychoanalyse“ zu wecken versuchte. Das „Unheimliche“, das ist all das, was „verborgen bleiben“ soll, aber in einer „Allmacht des Gedankens“, im Wahnsinn und in der „Angst vor dem Verdrängten“ zu Tage tritt. Hoffmanns Der Sandmann diente als Beispiel. Freud führte Nathanaels Angst, die Augen zu verlieren, auf dessen Kastrationsangst und Vaterkonflikt zurück. Im Weiteren erläuterte er das Doppelgänger-Motiv als ein Phänomen spezifischer Ich-Störungen. Hier wurde ein aktuelles Wissensmuster als universales, überzeitliches Paradigma auf einen historischen Text projiziert und dieses Verfahren zum Vorbild für Fall-Analysen.

Seit 1912 waren die Quellen und Kommunikationsvoraussetzungen Hoffmanns durch Paul Suchers Studie Les sources du merveilleux chez E. T. A. Hoffmann bekannt. Diese Studie wurde in Deutschland nicht angemessen rezipiert. So entstand die Kluft zwischen den historischen Aspekten, dem Wissensstand der Zeitgenossen Hoffmanns, und den aktuellen Interessen an den Texten.

Die individuellen und zum Allgemeingut gewordenen Ansichten über Hoffmann als Schriftsteller beruhten auf affektstarken Eindrücken, die zu verschiedenen Zeiten als Charakteristika und Schlagworte manifest wurden. Die Begeisterung entzündete sich an privilegierten Werken, ablehnende Urteile an verinnerlichten Normen. Die als signifikant angesehenen Charakteristika kumulierten zu einem Syntagma von Aspekten. Die Kommentare in den führenden Hoffmann-Ausgaben, der historisch-kritischen Ausgabe von Carl Georg von Maassen, der Leseausgabe Georg Ellingers, der Winkler Dünndruck-Ausgabe und der von Hartmut Steinecke und Wulf Segebrecht herausgegebenen Ausgabe im Verlag Deutscher Klassiker, führen vor Augen, was jeweils für wissenswert gehalten wurde. Was aber muss und will man unbedingt wissen? Das Wiedergewinnen eines verloren gegangenen Wissens vermag einen zentralen politischen Aspekt im Schaffen Hoffmanns zu vergegenwärtigen.

Preußen

Ein Handikap der Hoffmann-Forschung liegt im zunehmenden Verlust der ursprünglichen Kommunikationsverhältnisse (siehe hierzu das Kapitel „Zwei Preußen“ in Kanzog 2020, S. 104-124). Walther Harich ging 1920 auf Distanz zur historischen Darstellungsweise Hans von Müllers und erklärte in der programmatischen Vorrede seiner alternativen Hoffmann-Biographie E. T. A. Hoffmann. Das Leben eines Künstlers: „Das Jahrhundert des Historismus konnte kein Organ für eine Erscheinung wie E. T. A. Hoffmann entwickeln. Künstler – das ist ein Mensch ohne Geschichte“. So finden biographische Details in Harichs Ausführungen zwar ihren angemessenen Platz, aber werden nicht im Zeitgeschichtlichen verankert. Doch Hoffmanns Leben „als Künstler“ ist zugleich ein Leben im preußischen Staatsdienst, den er in seiner letzten Lebensphase als Demokrat leistet.

Hoffmann hatte als Sechzehnjähriger in Königsberg das Studium der Jurisprudenz begonnen und machte nach seinem Referendarexamen 1798 in Berlin, Posen, Plock und Warschau Karriere, die 1806 nach dem Einmarsch französischer Truppen in Warschau und seiner Weigerung, eine Unterwerfungsurkunde zu unterzeichnen, zum Erliegen kam, aber 1816 durch die Ernennung zum Kammergerichtsrat in Berlin wieder in geordneten Bahnen verlief. 1802, in seiner Posener Zeit, hatten seine bei einer Karnevals-Redoute verteilten Karikaturen preußischer Offiziere zur Strafversetzung geführt.

Während Hoffmanns Dresdener Zeit wurde in dessen Texten das Politische expansiv, so im Gespräch Der Dichter und der Komponist (1813), in der Vision auf dem Schlachtfeld bei Dresden (1813) und im „Sendscheiben“ Der Dey von Elba in Paris (1815). Da ist daran zu erinnern, dass Hoffmanns Freund Theodor Gottlieb von Hippel am
20. März 1813 den Aufruf König Friedrich Wilhelms III. An mein Volk für den „Befreiungskrieg“ verfasste. Danach bezog sich ihr brieflicher Gedankenaustausch verstärkt auf politische Angelegenheiten. Unter dem Druck der durch die Karlsbader Beschlüsse vom 1. August 1819 eigeleiteten Maßnahmen zur Bekämpfung liberaler und nationaler Tendenzen agierte Hoffmann als Richter im Sinne aufklärerischer Rechtsauffassung.

Die in eine Dialog-Erzählung mündende Ich-Erzählung Des Vetters Eckfenster wird auf Grund der zentralen Thematik des „Schauens“ als Hoffmanns „poetologisches Vermächtnis“ angesehen. Der unmittelbare Zeitbezug ging verloren. Der Vermerk in Johann Daniels Zeitschrift Der Zuschauer (23. April/4. Mai 1822) „Mitgetheilt von E. T. A. Hoffmann“ verweist auf ein reales Gespräch der beiden Vettern. Dieses Gespräch führte Hoffmann mit Hippel, der Berlin am 14. April 1822 verließ. Am gleichen Tag sandte er Hitzig das Manuskript zur Durchsicht. Der erzählte Dialog enthält zwei fundamentale Feststellungen: (1) „Also herrscht in der That im Volk ein Sinn für die zu erhaltende Ordnung“, (2) „Das Volk hat an äußerer Sittlichkeit gewonnen“. Das war als Reminiszenz an den von Hippel 1813 verfassten Aufruf eine mutige politische Stellungnahme. Denn Friedrich Wilhelm III. fürchtete die Volkssouveränität, die ihm nun noch bedrohlicher schien als in der Zeit des Aufbegehrens gegen die napoleonische Herrschaft (Kanzog 2018, S. 31-41).

Literaturangaben:

Klaus Kanzog: Potentialität der Zeichen. Verwertung – Steinbruch – Textreferenz. E. T. A. Hoffmannns Nussknacker und Mausekönig und Tschaikowskys Nussknacker, in: Mediale Strukturen – strukturierte Medialität. Konzeptionen, Semantiken und Funktionen medialer Weltentwürfe in Literatur, Film und anderen Künsten. Hrsg. v. Jan-Oliver Decker, Dennis Gräf, Stephanie Großmann u. Martin Nies. Kiel 2021, S. 129-141.

Klaus Kanzog: E. T. A. Hoffmann und Heinrich von Kleist. Textbeobachtungen – Spurensuche. Niederstetten 2020.

Klaus Kanzog: narratio – probatio – argumentatio. Zur Rhetorik in E. T. A. Hoffmanns Des Vetters Eckfenster, in: E. T A. Hoffmann-Jahrbuch 26 (2018), S. 31-41.

Klaus Kanzog: Die Reflexe der Werke E. T. A. Hoffmanns im Fernsehen, in: E. T. A. Hoffmann-Jahrbuch 19 (2012), S. 138-155.

Klaus Kanzog: Reflexe der Werke E. T. A. Hoffmanns im Film, in: E. T. A. Hoffmann-Jahrbuch 17 (2009), S. 140-165.

Klaus Kanzog: ‘Die Geburt des Schriftstellers aus dem Geiste der Musik’. Die Texte E. T. A. Hoffmanns in der Allgemeinen Musikalischen Zeitung der Jahre 1809-1813, in: Fenster zur Welt. Deutsch als Fremdsprachenphilologie. Festschrift für Friedrich Strack. Hrsg. v. Hans-Günther Schwarz, Christiane von Stutterheim u. Franz Loquai. München 2004, S. 144-161.

Klaus Kanzog: Was ist „hoffmannnesk!?“ In: E. T. A. Hoffmann-Jahrbuch 6 (1998), S. 7-18.

Klaus Kanzog: „Nighttime sharpens, heightens each sensation…“. The Legacy of E. T. A. Hoffmann in Andrew Lloyd Webber’s The Phantom of the Opera, in: Text Into Image / Image Into Text. Proceedings of the Interdisciplinary Bicentenary Conference held at St. Patrick’s College, Maynooth, in September 1995. Ed. by Jeff Morrison and Florian Kropp. Amsterdam, Atlanta GA 1997, S. 139-145.

Klaus Kanzog: Berlin-Code, Kommunikation und Erzählstruktur. Zu E. T. A. Hoffmanns Das öde Haus und zum Typus ‘Berlinische Geschichte’, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 95 (1976), Sonderheft E. T. A. Hoffmann, S. 43-63.

Klaus Kanzog: Das Fräulein von Scuderi als Kriminalgeschichte, in: Mitteilungen der E. T. A. Hoffmann-Gesellschaft 11 (1964), S.1-11. Wiederabgedruckt in: E. T. A. Hoffmann. Hrsg. v. Helmut Prang. Darmstadt: Wiss. Buchgemeinschaft. 1976 (= Wege der Forschung 486), S. 307-321.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Kein Bild

Klaus Kanzog: Faszination E.T.A. Hoffmann. Ein Essay.
Verlag der Fußnoten, Bamberg 2022.
24 Seiten, 7 EUR.

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch